Des Henkers sichere Heimat

Wenn im Herbst in Turin der Prozeß gegen den ehemaligen SS-Mann Saevecke beginnt, wird einer sicher nicht kommen: der Angeklagte

"Wenn Teo einmal nicht mehr sein wird, werde ich mir die Nummer, die sie ihm in Auschwitz einstachen, hierhin tätowieren lassen", sagt Sergio Fogagnolo und deutet auf seinen Unterarm. "Durch ihn habe ich viel gelernt. Ich will seine Arbeit weiterführen. Er ist wie ein Vater für mich."

Diese Wahlverwandtschaft zu dem 84jährigen Teo Ducci, Sohn einer ungarisch-jüdischen Emigrantenfamilie aus Triest, kommt nicht von ungefähr. Genau wie Sergio Fogagnolos Vater, Umberto, war Teo Ducci Mitglied der Partito d'Azione und aktiv im antifaschistischen Widerstand Italiens. Teo Ducci überlebte als einziges Mitglied seiner Familie die Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz und war bis vor kurzem Vizepräsident der Mailänder Sektion der Associazione nazionale ex deportati politici, dem Zusammenschluß ehemaliger politischer Deportierter.

Ein so inniges Verhältnis wie zu Teo konnte Sergio Fogagnolo zu seinem Vater nie entwickeln. Gerade zwei Jahre alt war er, als dieser am 10. August 1944 mit 14 anderen politischen Gefangenen aus dem Mailänder Gefängnis San Vittore geholt, auf der Piazzale Loreto erschossen und den ganzen Tag zur Abschreckung an Ort und Stelle liegengelassen wurde. Angeordnet hatte die Hinrichtung der Gestapo- und SD-Chef Mailands, der SS-Hauptsturmführer Theodor Saevecke, weil Partisaninnen und Partisanen zwei Tage vorher einen Lastwagen der Wehrmacht in einer Seitenstraße der Piazza in die Luft gesprengt hatten.

Wenn nun, 54 Jahre nach den Morden an den politischen Gefangenen, im Herbst vor einem Turiner Gericht der Prozeß gegen Saevecke beginnt, wird der Nazi selbst nicht anwesend sein. Der Grund: Dank Grundgesetz Artikel 16 ist es den Behörden untersagt, Deutsche an das Ausland auszuliefern. Saevecke kann also im sicheren Heimatland bleiben - dort, wo er seit seiner Rückkehr aus Italien Ende der vierziger Jahre Karriere bei den westdeutschen Strafverfolgungsbehörden machte. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer konnte schließlich auf genügend Erfahrungen in der Verbrechensbekämpfung zurückgreifen, wenn auch jene Hinrichtung auf der Piazzale Loreto nicht einmal vom nationalsozialistischen Militärgesetz abgesichert war.

So sah das deutsche Militärgesetz zwar vor, für jeden getöteten Wehrmachtsangehörigen zur Vergeltung Geiseln zu erschießen. Bei jenem Anschlag auf den Wehrmachts-Wagen war jedoch kein deutscher Soldat umgekommen. Dennoch ließ Saevecke die 15 Inhaftierten ohne Prozeß hinrichten und weitere zehn Gefangene in Konzentrationslager deportieren. Die Mordtaten brachten dem SS-Mann den Ruf des Henkers ein. "Il boia de piazzale Loreto", der "Henker der Piazzale Loreto" wurde er seitdem in Widerstandskreisen genannt.

Seine Karriere begann früh: 1929 wurde Saevecke Mitglied der NSDAP und brachte zunächst vom Polizeibeamten zum Leiter des Mordkommisariats von Posen. 1942 diente er im Range eines Hauptsturmführers der SS als Verbindungsmann den italienischen Besatzungsbehörden in Libyen. Kurz darauf wurde er stellvertretender Kommandant eines SS-Einsatzkommandos in Tunesien. Dort trieb er Jüdinnen und Juden zur Zwangsarbeit zusammen und erpreßte von jüdischen Gemeinden Gold und Devisen in Millionenhöhe. Für seine Leistung wurde er zum Chef des Mailänder SD-Außenkommandos ernannt.

Nachdem Mussolini 1943 gestürzt worden war und die neue Regierung unter Marschall Pietro Badoglio Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufnahm, besetzte die deutsche Wehrmacht am 8. September 1943 Mittel- und Oberitalien. Bis dahin hatte sich das italienische Militär geweigert, Deportationen von Jüdinnen und Juden durchzuführen. Durch die deutsche Besetzung konnte jetzt die "Lösung der Judenfrage" auch in Italien in Angriff genommen werden.

Das wurde Saeveckes Aufgabe, als er am 13. September seinen Dienst antrat: Er sollte Jüdinnen und Juden in Mailand und Umgebung aufspüren und deren Deportation in die Gaskammern deutscher Vernichtungslager veranlassen. Zudem hatte er die Aufgabe, politische Gegner und Partisaninnen und Partisanen auszuschalten. Insgesamt 1 200 Jüdinnen und Juden sowie 992 Partisaninnen und Partisanen wurden unter der Ägide Saeveckes, so fand der Historiker Luigi Borgomaneri heraus, in deutsche Vernichtungslager deportiert. Ende April 1945 nahmen ihn dann amerikanischen Truppen fest und internierten den "Henker" bis 1948 bei Rimini.

Sergio Fogagnolo und seine Familie überstanden die Nachkriegsjahre mehr schlecht als recht. Die minimale Hilfe seitens des italienischen Staats reichte hinten und vorne nicht. Saevecke dagegen fand sich schon bald gut besoldet und vor Strafverfolgung geschützt in Berlin wieder. Sein neuer Dienstherr: die CIA.

Von 1949 bis 1951 konnte Saevecke seine Erfahrungen in der Bekämpfung des kommunistischen Feindes in Berlin unter Beweis stellen. Sein reichhaltiger Erfahrungsschatz qualifizierte ihn für eine reibungslose Karriere beim Bundeskriminalamt. Von 1952 bis 1963 brachte es Saevecke zum stellvertretenden Leiter der Bonner Sicherheitsgruppe im BKA: Referent für Hoch- und Landesverrat. In dieser Funktion organisierte er die Durchsuchungen der Spiegel-Redaktionen wegen angeblichem Landesverrat.

Als 1963 in Italien bekannt wurde, daß Saevecke unbehelligt in Deutschland lebt, war der Skandal groß. Dennoch konnte er weiter beim Wiesbadener BKA arbeiten und wurde 1971 mit allen Ehren pensioniert. Erst Jahre später leitete die Dortmunder Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen ein Ermittlungsverfahren gegen ihn ein. Das aber konnte den ehemaligen SS-Mann wenig beeindrucken: Die ersten drei Leiter in den Jahren 1961 bis 1972 waren ehemalige NSDAP-Mitglieder und NS-Juristen. Auch acht für Ermittlungen zuständige Staatsanwälte waren alte Kameraden.

Ohnehin ist die Erfolgsbilanz der Dortmunder Behörde beschämend. In 34 Jahren brachte sie es bei Ermittlungsverfahren gegen 24 275 Beschuldigte gerade einmal auf 158 Anklageerhebungen, also 0,6 Prozent. Und wie diese endeten, dazu schweigt sich das nordrhein-westfälische Justizministerium bis heute aus.

Die Ermittlungen gegen Saevecke wurden im Jahre 1971 eingestellt, just in jenem Jahr, als auch das Verfahren gegen den vor kurzem in Italien zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilten Erich Priebke von den Dortmunder Ermittlern eingestellt wurde. Ein weiteres verlief in den Jahren 1988 und 1989 im Dortmunder Sand: Die Staatsanwaltschaft sah sich außerstande, Belastendes gegen Saevecke zusammenzutragen.

Was der deutschen Justiz unmöglich war, schaffte der Turiner Militärstaatsanwalt Pier Paolo Rivello. Er trug 2 500 Seiten belastendes Material aus den diversen Archiven zusammen. Anfang diesen Jahres erhob er Anklage wegen der Erschießung am 10. August 1944. Saevecke selbst streitet jede Schuld ab. Selbst seine Mitgliedschaft in der SS. Obwohl ihm Rivello zugesagt hat, keinen Haftbefehl gegen ihn vor Beendigung des Prozesses zu erlassen, weigert sich Saevecke, am Prozeß teilzunehmen und beruft sich auf den Artikel 16 des Grundgesetzes.

Nach dem er am 19. Juni vertagt worden war, soll der Prozeß gegen den ehemaligen SS-Mann am 13. Oktober in Turin endlich losgehen. Sergio Fogagnolo wird in dem Verfahren als Nebenkläger auftreten - im Namen des Comitato i quindici. Im "Komitee der 15" haben sich die Hinterbliebenen der 1944 auf Befehl Saeveckes erschossenen fünfzehn Widerstandskämpfer zusammengeschlossen. Ihnen geht es nicht um Rache, sondern darum, daß ihren Familienangehörigen späte Gerechtigkeit widerfährt. Daß sich "il boia de piazzale Loreto" seiner Verantwortung stellen wird, daran glaubt niemand.