Die Legenden um Karl-Heinz Kurras

Achtundsechzig und der Stasi-Faktor

Die Enthüllung, dass Karl-Heinz Kurras ein MfS-Agent war, sorgt für allerlei Legendenbildungen – bei der Bild-Zeitung genauso wie bei der Jungen Welt.

Die Frage muss erlaubt sein: War Peter Boenisch ein Stasi-Spitzel? Hat er in seiner Eigenschaft als Chefredakteur der Bild-Zeitung von 1961 bis 1971 im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) dafür gesorgt, die studentischen Proteste in Westdeutschland durch besonders reaktionäre Artikel erst richtig anzuheizen, auf dass der Imperialismus seine finale Niederlage erleben möge? Stand er womöglich in engem Kontakt zu Karl-Heinz Kurras, jenem Westberliner Polizisten im Dienst des MfS, der Benno Ohnesorg per Kopfschuss den Garaus machte und so ein Fanal setzte? Hat er am Ende gar Josef Bachmann gedungen, das Attentat auf Rudi Dutschke auszuführen?
Ein absurdes Szenario, gewiss. Und dennoch hatte der Journalist und Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch nicht Unrecht, als er im Interview mit der Taz von einer »Aussöhnung zwischen Bild und Stasi« sprach. Schließlich nahm die führende deutsche Boulevardzeitung seinerzeit den jüngst als Agenten enttarnten Todesschützen ausdrücklich in Schutz, machte Ohnesorg zum »Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke inszenierten«, und verglich die Demonstranten mit den Nazis: »Ihnen genügte der Krawall nicht mehr«, schrieb Bild am 3. Juni 1967, »sie müssen Blut sehen. Sie schwenken die Rote Fahne, und sie meinen die Rote Fahne. Hier hören der Spaß und der Kompromiss und die demokratische Toleranz auf. Wir haben etwas gegen SA-Methoden.« Nämlich Karl-Heinz Kurras, so wäre zu ergänzen.

Eigentlich müsste dem Blatt daher die Enthüllung unendlich peinlich sein, dass der von seinen früheren Mitarbeitern so geschätzte Polizist für die Stasi arbeitete. Ausgerechnet jener Mann, der die Forderung der Bild-Zeitung »Unruhestifter unter Studenten ausmerzen« de facto in die Tat umgesetzt hatte, war Angehöriger eines feindlichen Geheimdienstes. Ausgerechnet Kurras, der gegen die »langbehaarten Affen« und die »Eiterbeulen«, wie die Protestierenden in den Blättern aus dem Hause Springer schon mal genannt wurden, seine Schusswaffe eingesetzt hatte und dafür von Bild ein Höchstmaß an Verständnis gezollt bekam, stand im Sold der verhassten DDR.
Und tatsächlich schrieb Hans-Hermann Tiedje vor einigen Tagen in einem Kommentar für die Bild-Zeitung, deren Chefredakteur er zwischen 1990 und 1992 war: »Punktgenau zum 60. Geburts­tag der vereinten Republik wird klar: Manche Lenker der öffentlichen Meinung müssen sich komplett neu orientieren. Die Deutungshoheit über die Frage, was gut oder schlecht für Deutschland sei, lag bei Typen, für die man sich nur entschuldigen kann.« Bloß meinte Tiedje mit »Lenkern« und »Typen« nicht etwa seine Vorgänger bei Bild, sondern die seiner Ansicht nach samt und sonders in die DDR vernarrten »Achtundsechziger«, die bis heute nicht einsehen wollten, dass »Massendemos, Unruhen und brennende Barrikaden, ja selbst der Tod von Rudi Dutschke ihren Ursprung direkt im Einfluss- und Auftragsbereich von Erich Mielke« gehabt hätten. Und alles, was Polizei und Justiz in der postfaschistischen Bundesrepublik so verbrochen haben, zählt Tiedje offenbar gleich mit dazu.

Unterdessen ist Thomas Schmid – damals Mitbegründer der Gruppe Revolutionärer Kampf, heute Chefredakteur der Welt – in die Archive hinab gestiegen und hat herausgefunden, dass nicht alles schlecht war bei Springer. Zwar sei es »in den Blättern des Hauses zu etlichen Entgleisungen« gekommen, weil man dort »keinen Draht zum Milieu der Protestierenden« gehabt habe, doch habe es auch »den Geist der Freiheit« gegeben. Beispiele für diesen Geist aus der Bild-Zeitung, der bei weitem auflagenstärksten und einflussreichsten Publikation des Verlagsimperiums, musste Schmid allerdings schuldig bleiben. Immerhin aber hielt er eine Erklärung für die heftige Ablehnung bereit, die den Demonstranten seinerzeit entgegengeschlagen war: Viele Bundesbürger hätten die Proteste »nur als Angriff auf die Stadt« – gemeint ist Berlin –, »die Republik und deren gerade erst gefestigte demokratische Architektur« begreifen können. So kann man das damals allgegenwärtige »Unter Adolf wärt ihr alle vergast worden« natürlich auch übersetzen.
Für die FAZ hat derweil Jochen Staadt, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin, »Achtundsechzig« auf seinen »Stasi-Faktor« untersucht und dabei bemerkt: »Nicht in ihren schwärzesten Albträumen wäre den engagierten jungen Linken im Juni 1967 der ›Studentenmörder‹ Karl-Heinz Kurras als das erschienen, was er nun laut den aufgefundenen Stasi-Unterlagen offenbar war: ein verdeckter Ermittler des DDR-Staatssicherheitsdienstes und außerdem Mitglied in Walter Ulbrichts SED.« Das mag stimmen, doch gilt das für das damalige politische Establishment der Bundesrepublik erst recht. Um es in Staadts Diktion zu formulieren: »Nicht in ihren schwärzesten Albträumen wäre den engagierten Konservativen im Juni 1967 der ›Studentenmörder‹ Karl-Heinz Kurras« – den sie bis zuletzt und gegen jeden politischen und juristischen Anstand verteidigten – »als das erschienen, was er nun laut den aufgefundenen Stasi-Unterlagen offenbar war: ein verdeckter Ermittler des DDR-Staatssicherheitsdienstes und außerdem Mitglied in Walter Ulbrichts SED.«

So sehr die konservative Presse also die Gründe herunterspielt, die damals zur Protestbewegung führten, und so sehr sie deren Aktivitäten als maßgeblich von der DDR unterwandert darstellt, so sehr findet unter umgekehrten Vorzeichen auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine Legendenbildung statt. Insbesondere die Tageszeitung Junge Welt bemüht sich nach Kräften, die Einflussnahme der Stasi auf die Bewegung als Marginalie darzustellen und die Behörde, der nicht wenige Autoren der Jungen Welt aus Überzeugung zu Diensten waren, gleichzeitig zu verteidigen. Bisweilen treibt diese klägliche Strategie besonders skurrile Blüten, etwa wenn der frühere Stasi-Spion Peter Wolter den früheren Stasi-Spion Till Meyer interviewt. Ob er sich von der Staatssicherheit »nachträglich an der Nase herumgeführt« fühle, wollte Wolter wissen, woraufhin Meyer die erwartete Lanze für das MfS brach: »Ich hatte nie das Gefühl, dass uns der DDR-Geheimdienst übers Ohr gehauen hätte.« Auch Kurras hat für Meyer lediglich seine Pflicht erfüllt und »nichts anderes getan, als seine Rolle als Westberliner Ordnungsfanatiker wahrzunehmen«. In einer »für ihn unüberschaubaren Situation« sei er dann »durchgedreht und hat geschossen«. Kann im Eifer des Gefechts halt passieren, und überhaupt: »Die Radikalisierung war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr aufzuhalten.«
Wie demgegenüber eine unaufgeregte Betrachtung der Protestbewegung vor mehr als 40 Jahren und der Rolle, die Kurras’ tödlicher Schuss für ihre Entwicklung spielte, aussehen kann, demonstrierte Eckhard Fuhr, ein konservativer Journalist – und zwar in Springers Welt. »So real wie die Schüsse des kommunistischen Agenten Kurras war die brutale Taktik der Berliner Polizei«, schrieb er. »Nicht die Demonstranten gegen den Schah-Besuch, sondern die Polizisten marschierten zum Bürgerkrieg auf. Und es war die West-Berliner Justiz, die Kurras einen fadenscheinigen Freispruch verschaffte – unter dem Beifall des größten Teils der Berliner.« Es habe, so Fuhr weiter, »gute Gründe für den Glauben« gegeben, »dass im Staate Bundesrepublik / West-Berlin etwas faul ist«. Denn: »Woher sollte das Vertrauen in die demokratischen Institutionen kommen? Und wo, wenn nicht in einer Gegenöffentlichkeit, sollte die Kritik an diesen Zuständen artikuliert werden?«