Die Ergebnisse der Wahlen in Indien

Singh und die starken Männer

Nach dem vierwöchigen Wahlmarathon steht der Sieger der indischen Parlamentswahlen fest. Entgegen allen Prognosen errang die Congress-Partei eine klare Mehr­heit. Hindu-Nationalisten, Regionalparteien und die beiden kommunistischen Parteien erlitten dagegen eine herbe Nieder­lage. Die internationale Öffentlichkeit ­feiert den Sieg gemeinsam mit der Gandhi-Dynastie.

Irgendwie kommt es in Indien meist ganz anders als erwartet. Während der vierwöchigen Wahlen zum indischen Unterhaus, der Lok Sahba, bemängelten Medienschaffende und Politiker die Unklarheit darüber, wer künftig die Regierung in Neu-Delhi anführen wird. Klar schien lediglich, dass sowohl die regierende Congress-Partei als auch die Hindu-Nationalisten der Bharatiya Janata Party (BJP) keine Mehrheit erlangen und diverse Regionalparteien gestärkt werden würden.
Die Ergebnisse der Wahl sind nun eindeutig: »Singh is King«, schrieb die Tageszeitung The Hindu, »Der Congress hat freie Hand«, kommentierte die Times of India das klare Votum der knapp 415 Millionen indischen Wähler.
Premierminister Manmohan Singh brach eine lange Tradition und wurde als erster Premier seit Jawaharlal Nehru im Jahr 1962 wiedergewählt, die Congress-Partei erzielte ihr bestes Ergebnis seit 25 Jahren und stellt nun dank eines Zuwachses von 61 auf insgesamt 206 Sitze die mit Abstand größte Fraktion unter den insgesamt 543 Parlamentariern. Damit sind Singh und Sonia Gandhi, die Präsidentin und graue Eminenz der Partei, lediglich auf eine geringe Anzahl von Koalitionspartnern angewiesen. Bis Mitte vergangener Woche waren die Koalitionsverhandlungen noch nicht abgeschlossen, auch parteiintern gestaltet sich die Vergabe der Ministerposten als hochsensibler Prozess, da die Congress-Partei eine angemessene Repräsentation der Regionen sowie der Kasten im Kabinett gewährleisten will. Zudem gilt es, altgediente Parteikader mit entsprechenden Posten zu belohnen, nach Angaben von CNN India stellen die Machtspiele innerhalb der Congress-Partei derzeit ein größeres Problem dar als Koalitionsverhandlungen mit anderen Fraktionen.

Klare Verlierer der Wahlen sind BJP und ihre Koalitionspartner der National Democratic Alliance (NDA), die beiden kommunistischen Parteien sowie die meisten Regionalparteien. Für die BJP erwies sich die Konkurrenz einiger kleinerer hindu-Nationalistischer Parteien in diversen Bundesstaaten als ein entscheidender Faktor für die Niederlage, einige dieser Gruppen hatten sich erst kürzlich von der BJP abgespalten. Uneinigkeit demonstrierte die Partei selbst auch während des Wahlkampfs in personellen wie inhaltlichen Fragen. So stellten einige ranghohe Parteimitglieder die Kompetenz des designierten Premierministers Advani offen in Frage und brachten den Hardliner Narendra Modi, Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat, als alternativen Spitzenkandidaten ins Spiel. Auch in politischen Fragen fand die Partei keine Linie. Aus dem anfangs moderat geführten Wahlkampf mit dem Fokus auf ländlicher Entwicklung und Armutsbekämpfung entwickelte sich später wieder die bekannte Hindutva-Strategie, die auf die Konstruktion einer »gemeinsamen Hindu-Identität« setzt und damit zwangsläufig Ausgrenzungen bedingt. Um dem regional wie sozial höchst ausdifferenzierten Hinduismus eine gemeinsame Basis zu geben, bedarf es eines Äußeren, eines Fremden. Ohne die Schaffung eines externen Elements ist es schlicht nicht möglich, die Angehörigen der strikt getrennten Kasten ideell miteinander zu verbinden. Warum sollte etwa ein landloser Dalit eine gemeinsame Identität mit dem Brahmanen teilen, der ihm den Gang zum Tempel versperrt und ihn als »Unberührbaren« tituliert? Nur der als bedrohlich empfundene Andere kann eine solche Einheit schaffen. Für die BJP und andere hindunationalistische Akteure dienen vor allem Muslime, aber auch Christen, als Fremdkörper in »Hindu Rashtra« – dem Land der Hindus. Doch diesmal ließen sich die durchaus noch präsenten Ressentiments gegen diese beiden Gruppen nicht erfolgreich mobilisieren, die BJP verlor 22 Mandate. Gleichzeitig votierten wesentlich mehr Muslime in diesem Wahlgang für die Congress-Partei als noch 2004.
Das größere Desaster bescherten die Wahlen den beiden großen kommunistischen Parteien des Landes. Mehr als die Hälfte der Sitze verlor die Left Front, auch in ihren beiden Hochburgen Westbengalen und Kerala erlitten die Kommunisten starke Verluste. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die zahlreichen Programme zur Armutsbekämpfung, die während der vorigen Legislaturperiode auf den Weg gebracht wurden, vor allem der Congress-Partei zugeschrieben. Ausgerechnet in den beiden von Kommunisten regierten Bundesstaaten erreichen etliche dieser Leistungen nicht die verarmten Bevölkerungsschichten. Nach der Bekanntgabe der Ergebnisse kündigten beide KP zerknirscht eine kritische Überprüfung ihrer Programme an.
Keinen Grund zur Selbstkritik sahen hingegen die meisten Gruppen der maoistischen Naxaliten-Bewegung. Selbstbewusst verkündete Genosse Azad, Sprecher des Zentralkomitees, dass die Verzweiflung der Eliten des Landes zunehmen werde. »Es gibt weder ein Interesse noch eine Beteiligung des Volkes am Wahlprozess«, konstatiert Azad, ungeachtet der Wahlbeteiligung von 58 Prozent. Auch in den maoistisch kontrollierten Gebieten lag der Prozentsatz der abgegebenen Stimmen kaum unter dem Landesdurchschnitt.
Keinen Grund zur Trauer sehen auch Unternehmerverbände. Beflügelt von dem Bedeutungsverlust linker Parteien forderten bereits kurz nach der Bekanntgabe der Ergebnisse einflussreiche Unternehmer die Congress-Partei zu einer arbeitgeberfreundlicheren Politik auf und priesen Flexibilisierung als Weg aus der Krise. Noch hält sich die Congress-Partei mit Entscheidungen zurück, vorerst gilt es, ein stabiles Kabinett aufzustellen. Personalfragen spielen im politischen Geschäft in Indien eine zentrale Rolle, zeitweise verschwinden politische Inhalte gänzlich hinter den starken Männern und den wenigen Frauen in Führungspositionen – in der Lok Sahba stieg der Frauenanteil immerhin geringfügig von acht auf zehn Prozent. Umso erstaunlicher erscheint die Wiederwahl von Manmohan Singh, der nicht zur Kategorie der »starken Männer« in der indischen Politik zählt. Zwar gilt der 77jährige Sikh als integer, aber er hat kaum Ausstrahlung.
Doch mit dem Gandhi-Clan verfügt die Congress-Partei über das vermutlich größte Sozialkapital des Landes. Wie viele der über 1,1 Milliarden Inder tatsächlich wissen, dass zwischen dem Nationalheld Mahatma und Sonia Gandhi samt Sippe keine Verwandtschaft besteht, ist indes nicht bekannt. Wichtiger als das erscheinen der mythische Name und das erfolgreich konstruierte Bild von Rahul Gandhi, der als ehrlicher Anwalt der Armen auftritt. Noch steht der Kronprinz der Partei im Schatten seiner Mutter Sonia, doch eine Übernahme des Premierminister-Postens während der nächsten Legislaturperiode gilt als wahrscheinlich. Die 62jährige Sonia Gandhi schlug bereits 2004 Offerten für das Amt aus, ebenso wie nach dem jetzigen Wahlsieg.
Sonia Gandhi, bekannt für ihre Zurückhaltung gegenüber den Medien, schaffte es, die anfangs ablehnende Haltung der Bevölkerungsmehrheit ihr gegenüber in Bewunderung umschlagen zu lassen. Als die italienisch-stämmige Sonia Gandhi einige Jahre nach der Ermordung ihres Ehemannes Rajiv Gandhi die Führung der Congress-Partei übernahm, prognostizierten Beobachter ihr ein schnelles Scheitern, Hindu-Nwationalisten verpassten keine Gelegenheit, auf die bescheidenen Hindi-Kenntnisse der »Ausländerin« hinzuweisen und an weit verbreitete fremdenfeindliche Ressentiments anzuknüpfen. Doch Sonia Gandhi kämpfte, verzichtete auf allzu exponierte Posten und kann heute auf ansehnliche Erfolge ihrer Partei zurückblicken.

International wurde der Sieg der Congress-Partei als Indiz für Stabilität gewertet und entsprechend gefeiert. Tatsächlich ist die Congress-Partei in außenpolitischen Fragen vermutlich der derzeit kompetenteste Akteur. Vor allem hinsichtlich des fragilen Nachbarstaats Pakistan dürfte die Wahlniederlage der konfrontationswilligeren BJP und des unberechenbaren Bündnisses diverser Links- und Regionalparteien für Erleichterung im Weißen Haus und im Pentagon gesorgt haben. Die US-amerikanische Regierung setzt große Hoffnungen auf Neu-Delhi als stabilisierenden Faktor in der Unruheregion Südasien. Nach den Massakern in Mumbai im September vorigen Jahres stellte die Regierung unter Premierminister Singh zumindest ihre diplomatische Kompetenz unter Beweis und verzichtete auf militärische Aktionen gegen das Herkunftsland der Terroristen, Pakistan. Allerdings ist das nächste Attentat islamistischer Terroristen vermutlich nur eine Frage der Zeit, trotz vermehrter Anstrengungen des indischen Sicherheitsapparates, Städte und Außengrenzen effektiver zu kontrollieren. Ob die Congress-Partei auch dann dem öffentlichen Druck standhalten kann, wird sich erst herausstellen.
Nun gilt es für die neu gewählte Regierung erstmal, die zahlreichen Wahlversprechen einzulösen. Immer wieder betonten Vertreter der Congress-Partei und Journalisten die Bedeutung der verschiedenen Armutsbekämpfungsprogramme, insbesondere des National Rural Employment Guarantee Scheme, der jedem Haushalt 100 Tage bezahlte Arbeit im Jahr zusichert. Doch die meisten Leistungen kommen nicht im vollen Umfang bei den verarmten Bevölkerungsschichten an, die notorisch korrupten Congress-Kader in den Regionen haben wenig gemein mit dem strahlenden Nachwuchsstar der Gandhi-Dynastie. Derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich für die knapp 80 Prozent der Bevölkerung, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen, die Lage substanziell verbessern wird. Einige der dringendsten Fragen, wie das Bevölkerungswachstum und das sich rasant ausbreitende HIV-Virus, wurden im Wahlkampf gar nicht erst thematisiert. Zu unpopulär sind solche Themen, und was die Menschen am Ende wirklich interessiert, sind Wohlfühlgeschichten über Familienbande. Das meinen zumindest die indischen Massenmedien. Der Erfolg der Gandhis gibt ihnen in einem gewissen Sinne Recht.