Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2012 in London

Jack The Ripper wohnt nicht mehr hier

Die Olympischen Spiele 2012 gefährden in Lon­don die letzten innerstädtischen Bezirke mit günstigem Wohnraum, auch das einst verrufene East End soll nun aufgewertet wer­­­den. Für Bewohner, die sich die Miete hier nicht mehr leisten können, gibt es kaum Alternativen: Wegen der Finanz­­krise werden zu wenige Sozialwohnungen gebaut.

Am höchsten Punkt der Straße von Stratford nach Leyton, dort, wo eine Brücke die Eisenbahn­strecke nach Osten überquert, klebt ein Bild von Johnny Rotten auf einer Plakatwand. Der Sänger der Sex Pistols streichelt inmitten einer sattgrünen Landschaft eine Kuh, reißt die Augen weit auf und preist die Vorzüge von Countrylife-Butter – Überreste einer Werbekampagne, die der Streichfett-Firma eine Umsatzsteigerung von 85 Prozent bescherte. Rechts der Straße ziehen sich grau gewordene Reihenhaussiedlungen entlang. Links türmen sich hinter meterhohen Absperrungen Kräne, riesige Sandhaufen und die Betongerippe neuer Gebäude im Rohbau – eine der derzeit größten Baustellen Europas. In drei Jahren werden hier die Olympischen Sommerspiele beginnen.

Willkommen in London, der vielleicht unbekann­testen Stadt zukünftiger sportlicher Groß­ereig­nisse. Während aus Südafrika (Fußball-WM 2010) und der Ukraine (Fußball-EM 2012) die Nachrichten über schleppenden Stadionausbau oder Kriminalität nicht abreißen, während Vancouver (Winterolympiade 2010) und Sotschi (Winter­olym­piade 2014) Schlagzeilen wegen der Proteste der einheimischen Bevölkerung machen, hört man in deutschen Medien kaum etwas aus London. Das ZDF sendete im August vergangenen Jahres in »Aspekte« einen kurzen Beitrag, zur üblichen nachtschlafenen Zeit. Und auch in London selbst, entlang des Zauns am zukünftigen Olympiagelände, ist Rottens Butterplakat das einzige, was dezent darauf hinweist, dass es in der britischen Hauptstadt mal Protest gegeben hat.
Dabei wären die Olympiapläne geeignet, größe­re Kontroversen auszulösen. London hat sich bei sei­­ner Bewerbung nicht damit begnügt, mit ausgezeichneten Stadien für sich zu werben, son­dern die Spiele als soziales städtebauliches Projekt ver­kauft. Das East End, Londons einstiges Armen­haus mit einem hohen Anteil an Einwanderern vor allem aus Südasien und mit vergleichsweise billigen Mie­ten, soll aufgewertet werden. Ken Living­stone, der als unabhängiger Linker im Jahr 2000 das Londo­ner Bürgermeisteramt eroberte und als »Red Ken« bekannt ist, hat seinem Biographen An­drew Hos­ken zufolge höchstpersönlich dafür gesorgt, dass die Spiele in Londons Osten kommen. In einem Ge­spräch mit der British Olympic Association, die zeitweise den Westen der Stadt um das Wembley-Stadion als Austra­gungs­ort favorisierte, hat Living­stone seine Unterstützung vom Stadion­bau im Os­ten abhängig gemacht. Die wichtigste Angelegen­heit der Spiele sei ihr »Vermächtnis«, so Living­stone.
Seither kann man sich vor Werbematerial der Olympiaplaner, in denen vom »Vermächtnis« der Spiele die Rede ist, kaum noch retten. Darin ist von neuen Wohnungen, Schulen und Parks, besseren Verkehrsanbindungen und Jobs die Rede. Hauptaustragungsgebiet der Spiele ist nun das Lower Lea Valley, früher vor allem als Industriegebiet genutzt, zwischen den Bezirken Hackney und Tower Hamlets im Westen und Newham im Osten.
Bereits 2007 hatte die NGO Centre on Housing Rights and Evictions in Genf allerdings vor rasant steigenden Mieten und vor Vertreibungen der jet­zigen Bewohner wegen der Olympischen Spiele gewarnt. In Hackney etwa stiegen die Immobilienpreise nach Bekanntgabe der Olympia-Entscheidung um 21 Prozent und damit deutlich stär­ker als im Londoner Durchschnitt. Und so hässlich die Gegend in Stratford auch sein mag, im Wes­ten des zukünftigen Olympia­stadions, gleich hinter der derzeitigen Baustelle, liegt ein wahres Traumland für Gentrifizierer.
Der Lea ist nicht viel größer als ein Kanal, auf dem Hausboote fahren, und schlängelt sich kilometerweit in den Süden, um schließlich in der Nähe der Docklands in die Themse zu münden. Die ersten Neubauten für Büros und Wohnungen entlang des Ufers sind bereits errichtet.
Inzwischen sind die Wohnungspreise im Londoner Osten dank der Finanzkrise wie überall in Großbritannien zwar wieder gesunken. Dennoch setzen Immobilienunternehmen unverdrossen auf einen Olympiaboom, wenn sich bis 2012 die Märkte halbwegs erholt haben sollten. Auch der konservative Bürgermeister Boris Johnson, der 2008 die Wahl gegen Livingstone gewann, hält an der Olympiapolitik seines Vorgängers fest.

Im schmalen, betonierten Hinterhof eines Reihen­hauses in Tower Hamlets sitzt Julian ­Cheyne. Anfang 60, graumelierter Bart, Brille. Bis vor zwei Jahren wohnte das frühere Labour-Mitglied an der Clays Lane in Stratford – dort, wo jetzt Bagger das Gelände umpflügen und das Athletendorf errichten. Die Sozialwohnungssiedlung für 450 Mieter wurde abgerissen, die Bewohner sind nun über das ganze Stadtgebiet verteilt. »Meine Katze habe ich weggegeben, die hätte hier keinen Auslauf mehr gehabt«, sagt Cheyne. Aber noch mehr ärgert ihn, dass durch den Umzug der Zusammenhalt der Bewohner an der Clays Lane zerstört wurde. Die London Development Agency (LDA) habe viel zu spät begonnen, ihnen gemeinsam Er­satzwohnungen anzubieten, obwohl sich in einer Umfrage die meisten Bewohner für einen gemeinsamen Umzug ausgesprochen hätten. »Der einzig praktikable Vorschlag war dann ein Haus direkt an der Autobahn.« Das habe er ebenso wie andere abgelehnt, nun sähen sich die ehemaligen Bewohner nur noch alle paar Wochen.
Cheyne hat sich nach seinem Umzug darauf verlegt, die Olympiaplaner mit kleinen Nadelstichen weiter zu ärgern, streitet sich mit der LDA über die Herausgabe von Informationen über den Kaufpreis für Clays Lane herum oder schreibt Leserbriefe zum gigantischen Einkaufszentrum, das ein Investor in Stratford neben dem Olympiagelände plant: Die Shopping Mall mit 300 Läden soll auch aus dem Westen Londons Kaufkraft abziehen.
Vor allem aber ist Cheyne bei Games Monitor ak­tiv, einer Gruppe, die seit 2004 gegen die Spiele protestiert. »Der Anstoß kam von deutschen Haus­besetzern in London«, sagt Cheynes Mitstreiterin Carolyn Smith. »Beim ersten Treffen waren 50 Zu­hörer gekommen, beim zweiten kamen nur noch 30.« Dann habe man losgelegt, damals noch unter dem Namen NoLondon 2012. Die Gruppe verschickte ein Dossier über die schädlichen Auswir­kungen an die IOC-Mitglieder, veranstaltete eine gut besuchte Pressekonferenz und eine Demonstration mit 100 Teilnehmern. »Umwelt oder Irak-Krieg zieht immer«, sagt Smith. Aber Stadtentwicklung oder Bürgerrechte? Keine Chance.
Als dann das IOC im Juli 2005 London statt des favorisierten Madrid den Zuschlag erteilte, sei der Schock unter den Aktivisten groß gewesen: »Ei­ne Frau ist sogar aus London weggezogen«, sagt Smith. Die Gruppe beschränkt sich nun darauf, auf ihrer Webseite die Auswirkungen der Spiele zu dokumentieren: die Vertreibungen von Mietern aus ihren Häusern und von Roma von ihren Stell­plätzen, den Abriss von Firmengebäuden und öffentlichen Sportplätzen, den Verlust einer Kleingartenanlage und andere Umweltzerstörungen.
Smiths Hauptsorge gilt Fragen der inneren Sicherheit, etwa den Drohnen, die während der Spiele London aus der Luft überwachen sollen, und der inneren Verfasstheit der britischen Gesellschaft, die sie gerne mit dem »Modell Deutsch­land« der siebziger Jahre vergleicht: hoher Konformitätsdruck, fast keine Opposition. Und was ist mit der Gentrifizierung? »Die findet ohnehin statt, mit oder ohne Spiele«, glaubt sie.
Dann führt Smith, Mitte 40, wetterfeste Kleidung, durch ihren Wohnort Dalston, einen Stadtteil von Hackney, für den die lokale Verwaltung eigens einen Masterplan zur Aufwertung veröffent­licht hat. Neben Bahngleisen rattern Presslufthämmer. Die erste U-Bahn nach Hackney, das bis­her nur über Busse zu erreichen ist, ist im Bau und soll das Viertel an die City anschließen. Neue Wohnungen entstehen, in Hochhäusern und alten Fabriken. In der Dalston Lane steht eine Ruine – eines von neun Häusern im Bezirk auf Spekulationsgrundstücken, die in den vergangenen Jahren mysteriösen Bränden zum Opfer gefallen sind. Für das 2002 vom Bezirk privatisierten Haus war zuvor die Abrissgenehmigung verweigert worden.
Und schließlich ist da der Markt, auf dem die Metzger abgehackte Kuhbeine im Dutzend übereinander gestapelt haben und über den ärmlich gekleidete Menschen mit Plastiktüten schlendern. Ein Markt für den lokalen Bedarf, nicht pittoresk genug für Touristen. »Die Bezirksverwaltung geht gegen die Händler vor, etwa durch Stromsperrungen«, sagt Carolyn Smith. Das Trinken in der Öffentlichkeit hat die Behörde durch ein großes Plakat am Eingang des Marktes verbieten lassen.

Lokale Märkte als Zielscheibe? Im Nachbarbezirk Newham scheint gerade ein ähnlicher Konflikt zu Ende gegangen zu sein. Dort hatte der Labour-Bürgermeister Robin Wales den Queen’s Market im Visier – den »Schandfleck«, wie er ihn nannte. Statt des vor allem von Migranten genutzten Marktes sollte ein Luxus-Neubau mit 350 Wohnun­gen entstehen, samt einer neuen Markthalle. Eine Bürgerinitiative befürchtete steigende Mieten, die sich die derzeitigen Standinhaber nicht mehr leisten könnten. Nun hat ausgerechnet der neue Londoner Bürgermeister die Pläne gestoppt: Das 96 Meter hohe geplante Wohnhaus sei der Um­gebung nicht angemessen, befand er.
Mit der Aufwertung des East End käme eine Ent­wicklung Londons zum Abschluss, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst den Westen der Stadt erfasste, welche die Soziologin Ruth Glass, eine deutsche jüdische Emigrantin, 1963 zur Prägung des im Deutschen so sperrigen Begriffs »Gentrification« (benannt nach der englischen Bezeichnung »gentry« für den niederen Adel) veranlasste: »Viele der Arbeiterviertel Londons sind eines nach dem anderen von den unteren und oberen Mittelklassen erobert worden. Hat dieser Prozess der Gentrifizierung in einem Viertel einmal begonnen, schreitet er schnell voran, bis alle oder fast alle ur­sprünglichen Bewohner vertrieben worden sind und sich der gesamte soziale Charakter des Viertels verändert hat.«
Von Chelsea über Notting Hill, Camden Town und Primrose Hill bis hin nach Islington ist so seit den fünfziger Jahren nach und nach der gesamte Londoner Westen gentrifiziert worden, ehe die Welle in den neunziger Jahren auch in den Osten oder das im Süden gelegene Brixton hinüberzuschwappen begann. In Notting Hill, ehemals ein Zentrum armer schwarzer Einwanderer, offeriert der örtliche Makler derzeit beispielsweise eine 52-Quadrat­meter-Wohnung im beliebten Blenheim Crescent für 550 Pfund – pro Woche, versteht sich.
Noch fehlt im East End aber, sieht man einmal von der Brick Lane in Tower Hamlets ab, in der um die frühere Old-Truman-Brauerei eine Kneipen­meile entstanden ist, immer noch das, was solche Viertel für die Mittelschichten attraktiv macht: ein flächendeckendes Netz von Cafés, Restaurants und Ausstellungsorten. Die Coffeeshop-Ketten wie Costa, Nero, Pret und Starbucks, welche die Londoner City mit ihren Filialen überziehen, sind bis­lang nur bis zur U-Bahn Station Aldgate East gekommen, unweit der Brick Lane, als beginne da­hinter eine No-Go-Area.
Michael Edwards, Professor am University College London, und einer der schärfsten Kritiker der Londoner Stadtentwicklungspolitik, hat noch als Student bei Ruth Glass Vorlesungen besucht. Warum ist die jahrelange Kritik an Gentrifizierung fördernden Großprojekten wie Olympia ohne Folgen geblieben? »In der Regierung gibt es einen starken Glauben an einen Trickle-Down-Effekt, daran, dass nahezu jedes Projekt einen positiven Effekt für die Armen haben wird«, sagt Edwards. Livingstone habe bei der Modernisierung des öffentlichen Nahverkehrs in London Hervorragendes geleistet, etwa durch verbesserte Taktzeiten und kostenlosen Transport für Personen über 60. »Aber bei Olympia und anderen Bauprojekten hat er sich auf einen faustischen Pakt mit dem Finanzsektor eingelassen.« Und dann erklärt er das komplizierte Londoner Wohnungssystem. Dabei handelt es sich um einen nahezu unregulierten Markt – weshalb die Preise schnell in die Höhe schießen – und zwei Systeme des so genann­ten affordable housing (bezahlbares Wohnen) für diejenigen, die sich die geforderten Mieten nicht leisten können. Im social housing gibt es zum Teil jahrelange Wartezeiten und Kriterien, die nicht das Einkommen berücksichtigen, sondern Allein­erziehende oder Einwohner mit einem schlechten Gesundheitszustand bevorzugen. Hinzu kommt das intermediate housing, dessen Finanzierung jedoch so teuer ist, dass nicht die Ärmsten davon profitieren, sondern Beschäftigte im öffentlichen Sektor, die in der Innenstadt gehalten werden sollen.
Livingstone überließ den wegen des Londoner Bevölkerungswachstums dringend notwendigen Bau neuer Wohnungen weitgehend dem privaten Sektor, wollte die Investoren aber verpflichten, 50 Prozent der Wohnungen für affordable housing zu errichten. Mit anderen Worten: Dafür, dass die Bauherren bei den normalen Mieten freie Hand bekamen, sollten sie den anderen Teil mitfinanzieren.
Dieses System sei nun gescheitert, sagt Edwards. Angesichts der Finanzkrise spielen die Investoren nicht mehr mit. Entweder sie verlangen, den Anteil an Sozialwohnungen zu reduzieren – oder bauen erst gar nicht. So muss mangels Investoren das Athletendorf in Stratford nun völlig von der öffentlichen Hand finanziert werden. Die Kosten in Höhe von 1,1 Milliarden Pfund sollen durch den späteren Verkauf der Wohnungen teilweise wieder hereinkommen. So könnte ausgerechnet die Immobilienkrise die Gentrifizierung durch die Olympischen Spiele befördern.
»Nachdem das alte System wegen der Finanzierungskrise zusammengebrochen ist, wäre es jetzt eigentlich möglich, eine Debatte über Alternativen der Wohnungsfinanzierung zu führen«, sagt Edwards. »Aber ich bin da nicht sehr optimistisch.«
Als wäre nichts gewesen, erscheinen derzeit die ersten Artikel in den Reiseteilen der Zeitungen, die Londons Osten als neues Touristenziel anprei­sen. »Trotz Graffitis und heruntergekommenen Ecken – das East End ist einen Besuch wert, bevor es sich für immer verändern wird«, heißt es et­wa in der Sunday Mail. Seit den Tagen von Jack the Ripper habe die Gegend mit einem Imageproblem gekämpft, dies sei bald, dank Olympia, vorbei.
An den Ausfallstraßen von Tower Hamlets hat die Verwaltung des Bezirks vor kurzem neue Schil­der aufhängen lassen: »Wussten Sie, dass die Kriminalität in Tower Hamlets im letzten Jahr um zehn Prozent zurückgegangen ist?« Jack the Ripper wohnt nicht mehr hier, jetzt kommt das IOC.