Israel als Pojektionsfläche im niederländischen Fußball

Wer nicht hüpft, der ist (k)ein Jude

Zischgeräusche wie von ausströmendem Gas aus den Fanblocks, Hooligans mit Davidstern und die Angst vor der Signalwirkung: Das Judentum als Projektionsfläche im niederländischen Fußball.

Drohend schallt es aus Dutzenden Kehlen in die Nacht: »Jodenbestuur!« – »Judenvorstand!« Gegenstände fliegen in Richtung des Clubhauses von Feyenoord Rotterdam. Der Mob schüttelt die Fäuste. Noch mehr Flaschen und Bierdosen werden geworfen, dann prescht die Einsatzpolizei auf Pferden vor und zerstreut die Menge.
Solche Szenen sind kein Einzelfall. Sie gehören vielmehr zur finsteren Folklore rund um das Stadion De Kuip, wenn Feyenoord Rotterdam mal wieder ein Heimmatch verloren hat. Nicht, dass in der Clubleitung tatsächlich Juden säßen. Doch. Es ist das letzte, was bleibt, wenn sonst alles zerfällt, so wie in dieser just zu Ende gegangenen Saison, in der der Traditionsclub in der Nähe der Abstiegszone fest hing. Die alten Zeiten beschwört man dann, die vergangenen Erfolge, und die Feindschaft mit den »Juden«, dem verhassten Erzrivalen Ajax aus Amsterdam. Auch wenn dieser gar nicht auf dem Feld steht, sondern, wie bei dem besagten Spiel im Dezember, der angehende Meister Alkmaar AZ.
Geht es dann tatsächlich gegen den früheren Serienmeister, tönen aus so manchem Fanblock akustische Holocaust-Referenzen: Zischgeräusche, die an Gasduschen erinnern sollen, Hitlergruß, Gesänge wie »wir gehen auf Judenjagd« oder »Adolf, hier laufen noch elf. Wenn du sie nicht vergast, tun wir es selbst«. Vor allem in den vergangenen Jahren erfreut sich der Chor »Hamas, Hamas, Juden ins Gas!« steigender Beliebtheit. Nicht nur unter Feyenoordanhängern, sondern auch beim FC Utrecht und ADO Den Haag hält sich in Teilen des Publikums eine entsprechende Tradition. Das Israel-Informations- und Dokumentationszentrum (CIDI) oder die Anne-Frank-Stiftung protokollieren solche Entgleisungen als antisemitische Äußerungen. Der Anhang von Feyenoord hingegen versichert, man habe nichts gegen Juden, nur gegen den Club, dessen Fans sich selbst so bezeichneten.
Unlängst enthüllte Ronald Buijt, Stadtrat der rechten Protestpartei Leefbaar Rotterdam, er habe seine Jugend in der Feyenoord-Szene verbracht und dabei auch »die Juden ins Gas« geschrien. »Du bist jung und fanatisch und rufst Dinge, ohne nachzudenken«, erklärte er. Den Vergleich mit fundamentalistischen Muslimen wies er dennoch von sich. »Sie meinen es ernst, aus einem tiefen Hass auf Israel heraus. Bei uns hatte es nichts mit dem jüdischen Volk zu tun. Ajaxfans waren ›Scheißjuden‹, genau wie wir ›Scheißbauern‹ waren.« Als »Bauern« gilt den Hauptstädtern der gesamte Rest des Landes, und so singen Ajaxfans denn auch davon, auf Bauernjagd zu gehen. Diese Beschimpfungen dienen traditionell als Rechtfertigung judenfeindlicher Ausfälle. Die Konstellation »Bauern gegen Juden« wird reduziert auf rhetorische Fanfolklore, die umso tiefer verankert ist, je größer die Städte sind. »Wer nicht hüpft, der ist (k)ein Jude«, heißt es dann, je nach Perspektive. Wie versicherte Ronald Buijt treuherzig? »Meine Freunde und ich standen geschlossen hinter Israel.«
Ajax Amsterdam und Feyenoord Rotterdam, das ist nicht nur auf dem Spielfeld ein Gegensatz. Dahinter steckt auch die im Fußball verbrei­tete Rivalität zwischen den beiden Metropolen eines Landes. Das Modell ist keinesfalls einzig­artig. In Lissabon und Porto pflegt man einen ähnlich aufgeladenen Konflikt. Die überhebliche, verschwenderische Hauptstadt gegen die schwitzende und keulende Arbeiterklasse. Sonntags­reden gegen ehrliches Ärmel-Aufkrempeln. Diese Klischees und der Hass, den sie ge­nerieren, werden so sorgfältig gepflegt wie ein Vorgarten an der Gracht. Beleidigende Chöre, heißt es auf beiden Seiten, gehören nun einmal zum Män­nersport Fußball. Und besingen die selbst ernannten »Juden« nicht selbst die deutsche Bombardierung Rotterdams im Mai 1940 mit Texten wie diesem: »Wenn der Frühling kommt, dann werfen wir Bomben auf Rotterdam«?
In der Tat eine groteske Konstellation, wenn dieselben Fans israelische Flaggen schwenken, sich als »Superjuden« feiern und in ihren Graffiti den Schriftzug »AFC Ajax« mit einem Davidstern versehen. Dabei machen gerade die hooliganlastigen Fanclubs immer wieder von sich reden. Wer versucht, der Sache auf den Grund zu gehen, landet schnell bei der Frage nach Henne oder Ei. Bei Ajax heißt es, am Anfang hätten die als Beleidigung gemeinten »Juden«-Rufe aus den gegnerischen Blocks gestanden. Ähnlich der Adaption des rassistischen nigger durch Afroamerikaner sei »Jude« später als Kampfname und Selbstbezeichnung verwendet worden. Außerhalb Amsterdams hält man es eher mit der Version, Ajax­an­hänger hätten sich in erster Linie selber als Juden bezeichnet – und sich daher über Beschimpfungen nicht zu wundern.
Undeutlich ist auch, wann diese Rhetorik aufkam. Schon in den dreißiger Jahren kursierte in Anlehnung an physiognomische Klischees der Beiname »Nasen« für Ajax-Fans. Der Bezug auf das Judentum stieg dann ab den Siebzigern sprunghaft an, als die Hooligankultur aus England herüberschwappte. Dabei wurde Ajax weder als jüdischer Verein gegründet, noch hatte es jemals eine entsprechende Identität. Die Legende vom Judenclub basiert allein auf der Bevölkerungsstruktur Amsterdams, wo sich ab dem 17. Jahrhundert viele Juden niederließen. Zudem lag das Stadion De Meer, wo der Club zwischen 1934 und 1996 seine Heimspiele austrug, in der Nähe des Judenviertels. Daher waren im Publikum zahlreiche jüdische Fans, ebenso wie verschiedene Juden in der ersten Mannschaft für Aufsehen sorgten. Eddy Hamel und Johnny Roeg liefen in den Zwanzigern und Dreißigern für Ajax auf. In den Sechzigern und frühen Siebzigern waren Bennie Muller und Sjaak Swart ebenso Teil der »Goldenen Generation« wie der legendäre Physiotherapeut Salo Muller, der als Talisman des Erfolgs galt. Die offizielle Ajax-Geschichtsschreibung fasst zusammen: »Als echter Amsterdamer Club hat Ajax natürlich historische Verbindungen mit der jüdischen Gemeinschaft. Wie viele andere Vereine kennen und kannten wir jüdische Spieler, Funktionäre, Helfer und Zuschauer.«
Man bekennt sich zu dieser Tradition, macht aber wohlweislich keinen Unterschied zu aficionados aus anderen Gemeinschaften, auf die man ebenso stolz sei.
Seit einigen Jahren versucht der Club, den Philosemitismus der eigenen Fans einzudämmen, weil jüdischen Fans die Spiele des vermeintlichen Judenclubs wegen antisemitischer Sprechchöre nicht zugemutet werden könnten. Diese würden durch die – zumindest mehrheitlich – nichtjüdischen Ajaxfans provoziert, da »Juden« eben andere Assoziationen als »Bauern« wecke – »zumal in einer Gesellschaft mit den heutigen Spannungen«, so der Vorsitzende Uri Coronel. Er ist selbst Jude und stört sich noch immer an antisemitischen Gesängen. An die eigenen Fans hat er sich inzwischen gewöhnt. Für Coronel ist das Problem vor allem eines der Symbolik. Im philosemitischen Ha­bitus der Ajaxfans sieht er keineswegs wirkliche Unterstützung von Juden. Ebenso nimmt er den Feyenoordfans ab, keine Judenfeinde zu sein. »Sie haben nur einen krankhaften, abnormalen Hass auf Ajax und Amsterdam«, lautet seine Diagnose.
Eines jedoch räumt Coronel ein: Die gesellschaftliche Akzeptanz des Stadionantisemitismus wächst. »Immer öfter«, so Ronny Naftaniël, Direktor des Israel-Informations- und Dokumentationszentrums, »werden verletzende Parolen auch in der Alltagssprache verwendet.« Gerade auf den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg zu Jahresbeginn waren regelmäßig Parolen aus den Fanblocks zu hören. Vor allem »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« gehört bereits seit der zweiten Intifada zum verbalen Repertoire. Elise Friedmann, Leiterin der CIDI-Abteilung Antisemitismusforschung, fordert nicht nur die Strafverfolgung der Schreihälse. In einem offenen Brief rief sie auch den Amster­damer Anhang auf, von projüdischer Symbolik Abstand zu nehmen. Diese, nuancierte Friedmann zwar, dürfe keine Rechtfertigung für Antisemitismus sein. »Aber wenn Ajaxfans unter einer Israel-Fahne den Gegner als Kakerlaken beschimpfen, ist das etwas anderes.«
In die Schlagzeilen geriet das Thema zuletzt aber vor allem durch den »Klassiker« zwischen Ajax und Feyenoord im Frühjahr. Dieser wurde nicht nur von Gewalt, sondern auch den entsprechenden Parolen überschattet. Die Vorstände beider Clubs kamen daher mit dem Fußballverband KNVB und den Bürgermeistern beider Städte überein, zu der Begegnung fünf Jahre lang keine Auswärtsfans zuzulassen. Eine drastische Maßnahme, die von den Rotterdamer Fans entsprechend quittiert wurde. Sie ­zogen durch die Innenstadt und beschimpften ihren Bürgermeister Ahmed Aboutaleb, einen praktizierenden Muslim, als »dreckigen Juden«.