Die Krise der Sozialdemokraten in Holland

Auf dem Markt von Volendam

In vielen europäischen Ländern war die Europa-Wahl für die sozialdemokratischen Parteien ein Desaster. Den niederländischen Genossen geriet sie gar zum neuen Tiefpunkt einer anhaltenden Krise. Im Mittelpunkt des politischen Diskurses stehen hier seit einigen Jahren die Themen Zuwanderung, Integration und Multikulturalismus, dabei bestimmten die Rechtsliberalen und Populisten immer mehr die Debatte. Die Sozialdemokraten versuchen vergeblich, sich an deren Diskurs anzupassen.

Das winzige Städtchen Volendam ist ein Klischee von Holland: Trachten, Käse, Ijsselmeer und seit neuestem auch Geert Wilders, dessen rechtsliberale Partij voor de Vrijheid (PVV), die seit drei Jahren das politische Establishment in den Niederlanden aufscheucht, dort bei der Europa-Wahl knapp 50 Prozent aller Stimmen gewann. Volendam wurde damit zum neuesten Symbol für den »Aufstand der Peripherie« gegen die »Bevormundung aus Brüssel«, die »multikulturelle Gesellschaft« und die »kosmopolitischen Eliten«, wie es im Wahlkampf der des Populisten Wilders sowie auch in den Analysen nach der Wahl hieß. Bezeichnend, dass wenige Tage später ausgerechnet am Regierungssitz Den Haag dieses Ima­ge bestätigt wurde. Der sozialdemokratische Bildungsminister Ronald Plasterk sezierte in einem Interview das Debakel seiner Partij van de Arbeid (PvdA) und ging mit den Sozialdemokraten hart ins Gericht. Elitär sei man geworden, abgehoben von der Basis, eine Partei der Hochge­bildeten. Reuevoll fügte er an: »Ich würde gerne auf dem Markt von Volendam stehen und fragen, was wir anders machen müssen.«
Die verheerende Wahlschlappe, bei der die PvdA von 23,7 auf 12,1 Prozent abstürzte, erklärt derartig undistanzierte Avancen nur zum Teil. Plasterks Worte waren ein inhaltlicher Offenbarungseid, ge­leistet auf dem neuerlichen Tiefpunkt einer Krise, die bereits ein knappes Jahrzehnt anhält. Diese hat die Partei so orientierungslos gemacht, dass sie offenbar für jeden Fingerzeig dankbar ist. »Nicht, um alles direkt umzusetzen«, präzisier­te Plasterk seine Vorstellung, nur »um zu wissen, was die Leute stört.« Ein deutliches Bild: Die Sozialdemokraten haben den Kontakt zur Bodenstation verloren.
Geert Wilders gehört nach Pim Fortuyn und der ehemaligen Integrationsministerin Rita Verdonk bereits zur dritten Generation von Volkstribunen, die sich selbst zu Vertretern eines politischen und gesellschaftlichen Unbehagens einer wachsenden Schicht erklärt haben. Die Sozialdemokraten dagegen gleichen einem Rutengänger, der auf einen Ausschlag wartet. Verzweifelt ist die ehemalige Volkspartei auf der Suche nach dem »Volk«.

Um die Ursachen der Krise zu finden, liegt es na­he, bei der Modernisierung der niederländischen Sozialdemokratie zu beginnen. Auch in den Niederlanden, wie in vielen anderen europäischen Ländern, hatten in den neunziger Jahren harte Einschnitte in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Konjunktur. Diese fielen just in die längste ununterbrochene Regierungsbeteiligung der PvdA zwischen 1989 und 2002. Die sprichwörtliche niederländische Konsenskultur, die als »Polderdemokratie« bekannt gewordenen Verhandlungen zwischen Regierung und »Sozialpartnern«, er­leichterten der Partei den Anschluss an den neoliberalen Diskurs. Als New Labour und die Neue Mitte 1997 und 1998 mit ihrer Modernisierungsagenda begannen, galt das vermeintliche niederländische »Jobwunder« bereits als Vorzeigemodell. Zweifellos hat diese Entwicklung die PvdA von ihren traditionellen Milieus entfremdet. Bei den Wahlen drückte sich das ab Mitte der neunziger Jahre in einem Aufschwung der Sozialistischen Partei aus. Inzwischen stagniert die SP, während die Sozialdemokraten weiter an Boden verlieren.
Einschneidender ist in den vergangenen Jahren die Frage nach Zuwanderung und Integration geworden, die tiefe Furchen in die niederländische Diskurslandschaft schlägt. Populisten wie Geert Wilders spalten das Land in jene, die weiter der multikulturellen Idee des melting pot anhängen, und die wachsende Gruppe derer, die Immigration aufhalten wollen und Assimilation fordern. Wie die zahlreichen Stimmenverluste der PvdA an die Freiheitspartei zeigen, zieht sich diese Kluft mitten durch die frühere sozialdemokratische Wählerschaft. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Signalwirkung von Protagonisten der niederländischen Kritik am Multikulturalismus. Sowohl Pim Fortuyn als auch Ayaan Hirsi Ali begannen ihre politische Laufbahn als Sozialdemokraten. Die PvdA als Verfechterin der multikulturellen Gesellschaft wurde in der allgemeinen Wahrnehmung auch zur Verantwortlichen für deren vermeintliches Scheitern. Seit Fortuyn gehört es daher zum guten Ton, den Sozialdemokraten die Reste dieser Politik um die Ohren zu schlagen. Und die reagierten wie Minister Plasterk mit öffentlicher Selbstgeißelung. »Wir können nicht weiter auf die Segnungen der multikulturellen Gesellschaft hinweisen, wenn die Leute ihre Nachbarn nicht mehr verstehen und die Müllsäcke aus den Fenstern fliegen sehen.«
Bemerkenswert ist diese Aussage nicht zuletzt, weil sie zeigt, wie auch in der PvdA die gängigen rassistischen Klischees – wie eben die Müllsäcke, die nach unten fliegen – schon längst als Bestand­teil des Diskurses über Immigration und In­te­gra­tion geworden sind.

Seit dem Wahlerfolg des ermordeten Fortuyn im Jahr 2002 bemüht man sich in der Partei nach Kräften um einen Imagewechsel. Die Frage, ob die Sozialdemokraten die Fortuynsche Lektion inzwischen gelernt hätten, gehört seither zu jeder Wahlanalyse. Und so inszeniert man sich nicht länger als softe Migrantenversteher, sondern als geläuterte Partei, die vor Repression nicht mehr zurückschreckt und gelernt hat, hart durchzugrei­fen. Aufstrebende Politiker wie der Vizefraktionsvorsitzende Jeroen Dijsselbloem und der Rotterdamer Bürgermeister Ahmed Aboutaleb verkörpern diese Wende ebenso wie der gegenwärtige Parteichef und Finanzminister Wouter Bos mit seinem Bekenntnis zur »Polarisierung«. Ein Opfer dieser Imagekampagne war die frühere Integrationsministerin Ella Vogelaar. Weil sie auf diesem Posten nicht die gewünschte Härte zeigte, wurde sie von der Parteileitung Ende vergangenen Jahres demontiert.
Ein weiterer Meilenstein sollte das im Dezember veröffentlichte neue Integrationskonzept der PvdA werden. Unter großer Medienanteilnahme verkündete man dort das Ende von Toleranz und Multikulturalismus, um fortan von Zuwanderern Anpassung zu fordern. Doch der Schuss ging nach hinten los. Auf Druck der Parteibasis musste das Programm Anfang 2009 abgeschwächt wer­den. Deutlich wird damit einmal mehr, dass der von der Parteileitung angestrebte Erneuerungsprozess eine tiefe Krise bedeutet. Nach außen dagegen wiederholt sie die Botschaft, dass die For­tuynsche Lektion eben doch noch nicht gelernt sei. Nicht umsonst ist die Schlappe bei den Europa-Wahlen, die sich im Übrigen in den Umfragen vorher und nachher bestätigte, der zweite große Absturz nach 2002.

Sieben Jahre später befindet sich die PvdA in einem strategischen Dilemma, in dem es nichts zu gewinnen gibt. Der angestrebte Imagewechsel gelingt ihr offenbar nicht.
Die von Plasterk angesprochenen »Volksviertel, in denen früher 80 Prozent PvdA wählten«, könn­ten die Sozialdemokraten wiederum nur auf Kos­ten der eigenen Mitglieder erreichen. Allerdings hat die Freiheitspartei diese Wählerschaft derzeit fest im Griff, und selbst aus dem verbliebenen politischen Spektrum könnten sich wohl die meis­ten Parteien glaubwürdiger als Hardliner auf dem Gebiet der Integration profilieren. Immerhin erfüllt sich dafür der Wunsch des Bildungsministers. Für kommenden Samstag hat ihn der örtliche PvdA-Verband auf den Marktplatz nach Volendam eingeladen. Ein Ausweg aus der Klemme dürfte sich dabei kaum auftun.