Ein vierbändigen Epos über die deutsche Linke von Erasmus Schöfer

Chronik des Falls und der Befreiung der Linken

Nennen wir es Faction! Mit seinem vierbändigen Epos über die deutsche Linke hat sich Erasmus Schöfer einen Platz in der Literaturgeschichte erschrieben.

Vor acht Jahren erschien im Dittrich-Verlag der erste Band von Erasmus Schöfers Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos«. Und man wurde aufmerksam auf den Autor, dessen Namen man noch gut kannte, wenn man auch nicht mehr so recht wusste, woher.
In diesem ersten Band mit dem Titel »Ein Frühling irrer Hoffnung« begann Schöfer (Jahrgang 1931) die Geschichte, die er schließlich in vier »Zeitromanen« auf rund 2 000 Seiten erzählen würde. Er begann seine Geschichte mit ihrem Ende. Ann, eine junge aufmüpfige Amerikanerin, die mit ihren angepassten Eltern nicht mehr klarkommt, besucht im Jahr 1989 ihren deutschen Großvater Viktor Bliss. Der ist ein Invalide, sein Gesicht ist von einem Brandunfall, den er nur knapp überlebt hat, schwer entstellt. Der skrupulöse, freundliche alte Herr, einst Historiker, Lehrer, nun schließlich Lektor mit einem sehr schmalen Gehalt, wohnt in einer ziemlich armseligen Klause. Er ist ein Achtundsechziger, ein Sozialist, er ist gescheitert, und mit dem Fall der Mauer ist für ihn nun beinahe die Welt zusammengebrochen.
Nach diesem Ende folgt im Roman der Anfang – wir sind nun im Jahr 1968, Viktor Bliss ist verhältnismäßig jung, und die Ereignisse des Jahres lassen ihn darauf hoffen, dass es eine gerechtere Welt geben kann, ja, geben wird. Er kämpft voller Idealismus und gemeinsam mit seiner Frau Lena, seinem neugewonnenen Freund, dem Betriebsrat Manfred Anklam, und mit Genossinnen und Genossen im Theater, in der Universität, vor den Springer-Druckereien. Gegen die Polizei und gegen die Kolleginnen und Kollegen. Über die beiden Romanbände »Zwielicht« und »Sonnenflucht« hinweg haben die Leserinnen und Leser von da an Bliss und die Seinen begleiten können. Im zweiten Band kam sogar noch ein weiterer Protagonist hin­zu, Armin Kolenda, ein Sozialarbeiter, der später Zeitungsreporter wird, dazu Dutzende Neben­figuren. Es geht um Arbeitskämpfe, K-Gruppen, die RAF, Startbahnbau-Verhinderer und Atomkraftgegnerinnen und immer wieder um innerlinke Auseinandersetzungen.
Im nun erschienenen abschließenden Band »Winterdämmerung« mündet die Geschichte in die Wendezeit. Die junge Ann besucht Berlin, als die Mauer fällt, gefeiert wird Silvester 1989, ein Datum, an dem mehr beginnt als nur ein neues Jahrzehnt. Und, um das Ende gleich vorwegzunehmen, es ist kein trübsinniges Ende, im Gegenteil: »Vielleicht, dachte Viktor Bliss, befreit uns der Absturz.«
Und vielleicht hat dieser »Absturz« die Linke ja wirklich befreit. Denn viele der verzweifelten und zugleich so nutzlosen Diskussionen müssen nun nicht mehr geführt werden, viele der Verletzungen müssen einander nicht mehr zugefügt werden. Seit 1989 muss die Linke keine Vasallentreue zum Ostblock mehr beweisen, auch muss sie nicht mehr beweisen, wie frei sie vom Stalinismus ist. Die Linke darf gelernt haben.
Erasmus Schöfer ist bislang weniger wegen seiner literarischen Leistung bekannt geworden als vielmehr wegen seines politischen Engagements. Er war federführend im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, gründete ein Indus­trie­theater, verfasste sozialkritische Reportagen und versuchte im Jahre 1989 auch noch einmal, mithilfe einer Standortbestimmung die DKP zu retten. Beinahe nebenher verfasste ­dieser rührige Autor auch noch Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Erzählungen. Doch erst mit der umfangreichen Tetralogie, die er jetzt beendet hat, zeigt sich Schöfer als der große Autor, der er ist.
Und der ist er, obwohl insbesondere der ­Roman »Winterdämmung« viele kleine Schwächen aufweist. In »Winterdämmerung« werden die achtziger Jahre geschildert, die Protagonisten haben sich in alten Kämpfen verschlissen. Bliss ist in Griechenland in einen Waldbrand geraten und wird nie wieder ganz genesen können. Lena will sich scheiden lassen, denn sie hat eine neue Liebe gefunden und kann Bliss kaum noch ertragen, nicht nur ihres schlechten Gewissens wegen. Sie entdeckt für sich Maxie Wander (»Guten Morgen, du Schöne«) und die Frauenbewegung. Anklam wird entlassen, mit Geld abgespeist, wieder eingestellt und schließlich doch noch mal zum Aufrührer in einem Streik.
Viktor Bliss muss mit der DKP kämpfen, die von Betonköpfen geleitet wird, die jede abweichende Meinung in ihren Reihen verurteilen. Er wendet sich von der Partei ab. Kolenda schließlich muss damit leben, dass einer seiner besten Freunde zum Kindesmörder geworden ist und sich nach der Tat selbst getötet hat. Die Schicksale sind hart. Resigniert aber haben die Figuren am Ende doch nicht.
Im Hintergrund wird dabei auch gegen die Startbahn West gekämpft oder gegen die Schließung des Werkes in Rheinhausen protestiert, es werden die DDR, Kohl und Reagan kritisiert, die Grünen skeptisch beäugt, die Gewerkschaften abgewatscht, doch auch die Literatur des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt muss ­einiges einstecken.
Immer wieder zitiert Schöfer, wie in den vergangenen Bänden auch, sein literarisches und moralisches Vorbild Peter Weiss herbei. Und lässt bekannte Autoren wie Peter Härtling, Horst-Eberhard Richter, Robert Jungk oder sogar sich selbst als Figuren des Romans erscheinen, auch andere Namen aus dem Buch kann man heute noch im Telefonbuch finden.
Das klingt in dieser raffenden Aufzählung zunächst einmal befremdlich, scheint es doch Literatur aus einer vergangenen, heutzutage nicht mehr gut beleumundeten Zeit zu sein – moralinsauer, altbacken, ranzig. Tatsächlich wird die Kunst von jedem Moralisten, der sich in einem Künstler versteckt, beengt. Auch in Schöfers Tetralogie finden sich einige Stellen, die allzu belehrend klingen. Doch Schöfer ist viel zu sehr Künstler, als dass er allzu viele moralinsaure Passagen schreiben könnte, und ein kritischeres Lektorat hätte auch diese wenigen gestrichen.
Insgesamt aber wird die linke Geschichte plastisch, auch für jene, die seinerzeit nicht dabei gewesen sind. Allerdings braucht es ein Mindestmaß an Wissen, um die politischen und innerlinken Auseinandersetzungen der vergangenen 40 Jahre und damit den Roman verstehen zu können. Das muss man sich notfalls anlesen, oder, wenn man es sich einfach machen will, zumindest hin und wieder das Internet bemühen.
Wenn man zu diesem Zugeständnis bereit ist und Schöfer zudem eine Erotik nachsieht, die oft allzu phallisch ist, und wenn man sich schließlich mit ausreichender Neugier einlässt auf den mal sehr nüchternen, mal sehr expressiven Stil, der manchmal mit Absicht grammatische und orthografische Regeln ignoriert und dennoch außerordentlich lebendig und – gerade in den Dialogen – beinahe wie »im rich­tigen Leben« klingt, dann wird man belohnt mit einem Romanwerk über die deutsche ­Linke von 1968 bis 1989, das schon fast die Ausmaße und die Bedeutung eines Archivs hat. Und zugleich eben doch durch und durch Literatur im besten Sinne ist. Im englischen Sprach­raum kennt man die Faction, Fiktion also, die mit vielen Fakten angereichert ist. Diese Tetralogie darf man als ein weithin gelungenes Großwerk der Faction bezeichnen.

Erasmus Schöfer: Winterdämmerung. Die Kinder des ­Sisyfos. Dittrich-Verlag, Berlin 2008, 620 Seiten, 24,80 Euro