Homophobie in Russland

Wie in einem Stall leben

Im autoritär regierten Russland, wo Schwule und Lesben täglich diskriminiert und zusammengeschlagen werden, äußert sich eine tiefsitzende Angst vor Homosexuellen. Die »sexuelle Mehrheit« hat inzwischen den Marsch in die Vergangenheit angetreten. Über Homophobie in Russland.

Die drei jungen Frauen – Alexan­dra, Anastassija und Lena –, alle drei bekennende Lesben, standen unschlüssig und mit etwas ängst­lichen Gesichtern am Moskauer Neuen Puschkinplatz. Am 16. Mai 2009 versuchte die aktive Szene der Moskauer Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen (LGBT), auf dem Platz einen Gay Pride unter freiem Himmel zu veranstalten. Doch der Platz an der Metrostation Puschkinskaja, nicht weit vom Kreml, den der Schwulenaktivist Nikolaj Alexejew über seine Website gayrussia.ru als Treffpunkt für den Gay Pride angekündigt hatte, trotz Versammlungsverbot durch den Moskauer Bürgermeister, war von der Polizei ­abgesperrt.
Alexandra hielt einen völlig zerkratzten Gay-Pride-Button in der Hand. Er war ihr im Gedränge von hysterischen Frauen mit schwarzen Kopftüchern und langen Röcken von der Jacke gerissen worden. Kaum hatte der unschuldige Button auf dem Asphalt gelegen, waren die russisch-orthodoxen Frauen in fundamentalistischem Eifer auch noch mit den Füßen auf dem Abzeichen herumgetrampelt. Doch damit nicht genug. Nachdem Alexandra den Button vom Boden gerettet hatte, wurde sie von einem kräf­tigen Mann »mit kaltem Blick« frontal mit einer kleinen Videokamera gefilmt. Unter die etwa 50 LGBT-Aktivisten und 100 Polizisten, die zum verbotenen Gay Pride ins Zentrum Moskaus ­gekommen waren, mischten sich noch mehr solche Männer mit kaltem und aggressivem Blick. Wenn man einem dieser Männer fest in die Augen guckte, wurde man gefragt: »Bist du schwul?« Auf die Frage »Wieso?« kam die dreiste Antwort: »Weil wir die Pidorasy (Kinderschänder) verprügeln werden.«
Die 24jährige Alexandra erzählt, dass sie als Lesbe auf der Arbeit nicht diskriminiert wird. Ihre Kollegen fragten sogar interessiert nach, wenn es um Homosexualität geht. Das ist sicher nicht typisch für Russland. Doch in der Großstadt Moskau lassen sich in der öffentlichen Meinung hier und da gewisse Lockerungen feststellen.
Im Sommer, so erzählt Alexandra, die als Angestellte arbeitet, treffen sich die jungen Lesben auf dem Neuen Puschkinplatz – auch Puschka genannt –, die jungen Schwulen auf dem Pleschka (Glatze), einem Platz nicht weit von der Moskauer Geheimdienstzentrale. Wenn die jungen Lesben sich treffen, gebe es keine Behinderungen, erzählt Alexandra. »Mädchen mit Mädchen finden die Leute interessant. Jungs mit Jungs rufen Aggressionen hervor«, meint die 22jährige Anastassija. »Ich bin traurig«, sagt die 23jährige Lena, mit Blick auf den abgesperrten Platz. »Das ist hier heute keine Parade der Schwulen und Lesben, sondern eine Parade der Omon (Sondereinheit der Polizei).« Ob sie sich zur Opposition zählen, will ich von den Mädchen wissen. »Wieso? Mit wem ich schlafe, hat doch nichts mit Politik zu tun«, meint Lena, die große Kopfhörer trägt und eine Jungenfrisur hat.

»Eine Aktion für die Medien«
Der bekannteste Schwulenaktivist, Nikolaj Alexejew, der seit 2005 versucht, in Moskau einen Gay Pride zu veranstalten, hatte wohl schon geahnt, dass der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow das Verbot des Gay Pride 2009 wie auch schon in den Jahren zuvor mit Polizeigewalt durchsetzen wird. Alexejew hat­te ausländische Fernsehanstalten vorsorglich zu ­einer medienwirksamen Aktion auf einer Aussichtsplattform auf den Moskauer Sperlingsbergen, einem beliebten Treffpunkt von Frischvermählten, eingeladen. Am 16. Mai 2009 fuhr der Aktivist, der 2008 in Genf einen Ausländer heiratete, mit einer falschen Braut – einem Transvestiten im Brautkleid – in einer weißen Limousine auf der Aussichtsplattform vor und fiel den Polizisten dort erst gar nicht auf. Erst als die ausländischen Fernsehkameras zu filmen begannen, wurden die Polizisten der Sondereinheit Omon aktiv. Alexejew wurde an Händen und Füßen in den bereitstehenden Gefängnistransporter geschleppt. Auch seine falsche Braut wurde dorthin verfrachtet. Insgesamt 51 Aktivisten, einige von ihnen aus England und den USA, wurden festgenommen und auf Polizeiwachen gebracht. Alexejew wurde einen Tag später entlassen, ohne dass es zu einer Gerichtsverhandlung gekommen wäre.
Am Neuen Puschkinplatz in der Moskauer Innenstadt erfuhren die LGBT-Aktivisten von den Verhaftungen auf den Sperlingsbergen sofort über ihre Handys. »Das ist eine reine PR-Aktion von Alexejew«, meinte die junge Anastassija enttäuscht. Lena, die daneben steht, findet, der ganze Gay Pride sei schlecht organisiert gewesen. Viele Leute aus der Szene hätten nur aus dem Radio gehört, dass es einen Gay Pride geben sollte.
Nikolaj Alexejew zählt bei der Durchsetzung des Gay Pride Moskau vor allem auf die Kraft der Medien und auf die internationale Öffentlichkeit. So hofft er, die LGBT-Szene in Russland – die ein öffentliches Auftreten bisher mehr­heitlich ablehnte – aus ihrer Erstarrung zu wecken und den Homosexuellen Russlands Mut zu machen. Alexejew hoffte, dass man unter dem Schutz des Eurovision Song Contest, der am gleichen Tag ins Finale ging, trotz Verbot durch den Moskauer Bürgermeister den ersten großen Gay Pride mit Beteiligung Homosexueller aus der Ukraine und Weißrussland in Moskau durchsetzen könne. Doch obwohl die internationalen Medien über das Vorhaben von Alexejew berichteten, scheiterte es. Es wurde deutlich, dass auch in Russland eine Bewegung der Homosexuellen von unten wachsen muss und dass die Medien die fehlenden Strukturen und LGBT-Organisationen in Russland nicht ersetzen können. Die homosexuelle Szene hat zwar eine Subkultur mit Zeitschriften, Clubs und Bars. Doch feste Strukturen, die große, öffentlichkeitswirksame Aktionen auf den Straßen von Moskau und St. Petersburg organisieren können, gibt es noch nicht.
Äußerst hinderlich wirken auch die reaktionären Ansichten des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow. »Wir haben in der Vergangenheit die Propaganda von sexuellen Minderheiten unterbunden und werden das auch weiterhin tun, weil diese Aktivitäten einer der Faktoren sind für die Ausbreitung der HIV-Infektion«, erklärte der Moskauer Bürgermeister 2008. »Einige so genannte Demokraten denken, dass die sexuellen Minderheiten ein wichtiger Indikator und ein Symbol für Demokratie sind. Aber wir werden in Zukunft verhindern, dass sie ihre Meinungen verbreiten können.« Er nehme dafür in Kauf, dass er weltweit für seine Ansichten kritisiert werde. Der 72jährige Luschkow erklärte auch, Kondome böten keinen hundertprozentigen Schutz gegen HIV, deshalb dürfe für das Verhütungsmittel nicht so stark geworben werden, eine Meinung, die auch von der russisch-orthodoxen Kirche vertreten wird. Schon 2001, als in Moskau eine Love Parade stattfinden sollte, witterte Luschkow Gefahr. Er ließ die Veranstaltung verbieten. Eine Love Parade hat es in Moskau bis heute nicht gegeben.
Um die LGBT-Gemeinschaft in Russland zu unterstützen, beteiligen sich inzwischen auch prominente Schwule aus Westeuropa an den kleinen Gay-Pride-Aktionen in Moskau, die trotz Verbot durchgeführt wurden, und setzen dabei ihre Gesundheit aufs Spiel. Am 27. Mai 2007 bekam Volker Beck, ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages, bei der nicht genehmigten Auftaktkundgebung zum Gay Pride direkt vor dem Moskauer Bürgermeisterhaus einen Faustschlag ins Gesicht und musste ärztlich behandelt werden. Auf der gleichen Veranstaltung wurden der Londoner Aktivist Peter Tatchell und der Sänger Richard Fairbrass von Schlägern angefallen. Tatchell wurde von Polizisten der Sondereinheit Omon »zu seinem Schutz« festgenommen.
Insgesamt wurden auf dem Gay Pride 2007 31 Personen, darunter auch einige Rechtsra­dikale, festgenommen. Zwei Organisatoren des Gay Pride wurden wegen »Nichtausführung polizeilicher Anordnungen« vor Gericht gestellt.
Den Organisatoren des Gay Pride gelang es jedoch 2007 das erste Mal, die Isolation der LGBT-Gemeinschaft in der Öffentlichkeit aufzubrechen. Mehrere Prominente besuchten – wenn auch nur für kurze Zeit – den verbotenen Aufmarsch. Zu den Prominenten gehörten Ju­lija Wolkowa und Jelena Katina, die beiden Sängerinnen der Mädchenband t.A.T.u. Die beiden Sängerinnen, die sich bei ihren Konzerten gerne abknutschen, kokettieren mit einem lesbischen Image, sind aber eigentlich heterosexuell. Das sei schrecklich und eine Schande für ihr Volk gewesen, erklärte die Sängerin Julija am Tag nach dem Gay Pride dem Massenblatt Moskowskij Komsomolez. Sie sagte auch, sie sei von den Vorfällen so geschockt gewesen, dass sie an der nächsten Parade nicht teilnehmen werde.
Unerwartete Unterstützung bekamen die Homosexuellen auch von Alexej Mitrofanow. Der Duma-Abgeordnete, welcher damals noch zur ultranationalistischen Liberal-Demokratischen Partei von Wladimir Schirinowskij gehörte, erklärte vor Journalisten, er habe für das Verbot der Aktion kein Verständnis. Russland wolle doch Teil Europas sein.
Wer in Russland mit Gewalt gegen sexuelle Minderheiten vorgeht, brauchte bisher nicht mit Verfolgung zu rechnen. Alexej Napylow, der Mann, welcher dem grünen Bundestagsabgeordneten mit der Faust ins Gesicht schlug, bekannte sich in einem Interview mit der russischen Ausgabe von Newsweek frech zu seiner Gewalttat. Er sei stolz, dass er es gewesen sei, der den Deutschen geschlagen habe, sagte Napylow. Weiter erklärte der Schläger: »Selbst wenn ein Verfahren gegen mich eröffnet wird, wird es keine schwerwiegende Anklage geben. Ich habe angegriffen, weil das nötig war. Es gibt normale Schwule, welche ihre Präferenzen nicht hervorheben, und es gibt ›Pidorasy‹, die stolz sind auf ihren Schaden, die muss man erziehen.«
Volker Beck hat die russischen Justizorgane mehrfach aufgefordert, gegen den Täter Ermittlungen einzuleiten. Doch die Ermittlungen kamen nicht voran und wurden schließlich eingestellt. Ende Januar 2009 wurden sie überraschend wieder aufgenommen. Anlass waren offenbar die zahlreichen Nachfragen im Europäischen Parlament zur Diskriminierung russischer Homosexueller.
Die ersten Schwulen und Lesben in Moskau, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjet­union, Anfang der neunziger Jahre, zusammenschlossen, hatten noch ganz andere Probleme. Sie kämpften für die Streichung des Paragrafen, der gleichgeschlechtliche Liebe unter Erwachsenen verbot. Um zu erreichen, dass der Paragraf gestrichen wird, sei die Bewegung viel zu schwach gewesen, berichtet Nikolaj Alexejew im Gespräch mit dem Autor. (1) Der Grund dafür, dass der Paragraf dann 1993 tatsächlich gestrichen wurde, war Alexejews Meinung zufolge der Umstand, dass Russland »unbedingt in den Europarat wollte«. Die Abschaffung des Homo-Paragrafen sei eine Bedingung dafür gewesen. Eigentlich, so Alexejew, »wäre es gut gewesen, wenn der Artikel noch länger im Strafgesetzbuch gestanden hätte. Mit einer formierten Bewegung hätte man mehr erreicht als nur eine stille Abschaffung des Paragrafen.«
Nach der Streichung des Paragrafen sei die Schwulen- und Lesbenbewegung dann zum »völligen Stillstand« gekommen. Erst 2005 – als Alexejew ein paar gleichgesinnte Männer und Frauen für einen Gay Pride in Moskau um sich scharte – habe sich wieder eine »Bewegung« entwickelt, so der Aktivist, der klarmacht, dass er bei der Kampagne für den Moskauer Gay Pride vor allem auf die Medien und die internationale Öffentlichkeit setzt. »Die Medien brauchen ein großes Projekt, mit dem man das Thema wieder in die politische Sphäre bringen kann.« Der Moskauer Bürgermeister habe der neuen Bewegung durch sein plumpes Auftreten praktisch geholfen. »Seine Berater sagten ihm, er könne den Gay Pride ruhig verbieten. Da würde sich sowieso keiner dran beteiligen. Jetzt weiß er nicht, wie er sich aus dem Schlamassel befreien kann. Auf allen internationalen Pressekonferenzen wird er zum Gay Pride befragt.«

Doppelmoral treibt Blüten
Dass der Moskauer Bürgermeister und auch die Mehrheit der Moskauer Bürger ein Verbot des Gay Pride unterstützen, ist eigentlich ziemlich verlogen. Denn in der russischen Unterhaltungsindustrie und im Fernsehen gibt es zahlreiche schwule und lesbische Musiker, Tänzer und Moderatoren. Doch über ihre sexuelle Identität dürfen die homosexuellen Künstler nicht sprechen. Sollen sie doch ihre Neigungen in ihren Bars ausleben, empfiehlt Moskaus Bürgermeister. Doch selbst das ist nicht immer frei von Risiko. Im Mai 2006 demonstrierten 200 rechte Skinheads und Fundamentalisten der russisch-orthodoxen Kirche vor dem Moskauer Club Renaissance gegen eine Gay-Party. Die Demons­tranten schmissen Flaschen und Steine und schlugen mit Kreuzen und Ikonen auf das Personal des Clubs ein. Ein Priester erteilte den Protestierenden seinen Segen. Die etwa 150 Besucher des Clubs mussten unter Polizeischutz evakuiert werden.
Der Kreml betont, Russland sei ein europäisches Land. Seit 1996 ist Russland Mitglied des Europa-Rats. Doch indem von Politikern und Medien straflos Ängste gegen sexuelle Minderheiten geschürt werden, wird die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte verletzt.
In einem Klima von Homophobie, Verboten und opportunistischem Weggucken treibt die Doppelmoral ihre Blüten. Aus Rücksicht auf die homophobe Grundstimmung in der Bevölkerung schweigt die Moskauer Presse, wenn rechtsradikale Fanatiker vor Schwulenlokalen in Moskau demonstrieren oder junge Soldaten in der Moskauer Innenstadt von ihren Vorgesetzten auf den Strich geschickt werden.
Nachdem der Moskauer Bürgermeister den Gay Pride 2005 das erste Mal verboten hatte, wollte das liberale Info-Radio Echo Moskwy nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und setzte eine Expertendiskussion an. Doch selbst die gebildete und in politischen Fragen relativ aufgeklärte Echo-Hörerschaft erwies sich als resistent gegenüber den Argumenten der Gay-Aktivisten. Eine im Laufe der Sendung durchgeführte Hörerumfrage ließ dem Moderator fast den Atem stocken. Bei einer Rekordzahl von 8 000 Anrufern sprachen sich überwältigende 68 Prozent gegen eine Gay-Parade und nur 32 Prozent dafür aus.
Dabei hatten die Vertreter der Schwulenbewegung in der Radiodiskussion hoch und heilig versprochen, man werde bei der Moskauer Parade nichts Nacktes und Aufreizendes zeigen. Nur die Regenbogenfahne wolle man schwenken.
An der Diskussion beteiligte sich auch ein Abgeordneter der links-nationalistischen Partei Heimat, der erklärte, eine Gay-Parade richte sich gegen die jahrhundertealten russischen Traditionen, sie »beleidige« die »Ehre der Nation«. Das traf ungefähr die Mehrheitsmeinung in der russischen Bevölkerung. »Vater Alexander« von der russisch-orthodoxen Kirche erklärte, Schwulsein sei eine »Anomalie«, eine Gay-Parade verletze die christlichen Werte.
Eine Hörerin lenkte schließlich die Debatte auf einen ganz praktischen Aspekt. Eine Gay-Parade habe Russland mit seinem rapiden Geburtenrückgang »gerade noch gefehlt«, erklärte die Radiohörerin. Nikolaj Alexejew, Chefredakteur der Internetzeitung gayrussia.ru, konterte, nicht die Schwulen seien am Geburtenrückgang schuld. Der Staat tue nichts, um die normale Ehe zu schützen. Im Gegensatz zu Euro­pa gebe es in Russland keine materiellen Vergünstigungen für Ehepaare. Und wenn in Russland ein Ehemann seine Familie verlasse, sei das für die Frau eine Katastrophe. Die vom Gesetz vorgeschriebenen, kümmerlichen Alimente zahlen die flüchtenden Männer in der Regel nicht.
Der Geburtenrückgang ist eins der wichtigsten Argumente gegen den Gay Pride. Die Schwulen werden damit praktisch zum nationalen Sicherheitsrisiko erklärt, und es erstaunt nicht, dass gerade die fundamentalistischen Kreise in der russisch-orthodoxen ­Kirche zu den schärfsten Gegnern des Gay Pri­de gehören.
Alle Versuche der aktiven LGBT-Gemeinschaft, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, werden nach wie vor unterbunden. So sollte in St. Petersburg im Oktober 2008 ein schwul-lesbisches Filmfestival stattfinden. Kurz vorher zogen verschiedene Säle ihre Zusagen zurück. Als man endlich einen Club gefunden hatte, der bereit war, die Veranstaltung durchzuführen, erschienen am ersten Festivaltag Beamte des Feuerschutzes und erklärten, der Club werde aus technischen Gründen geschlossen.
Das aktive Auftreten von LGBT-Aktivisten in Moskau rief nicht nur die russisch-orthodo­xe Kirche, die Polizei und den Bürgermeister auf den Plan, sondern auch Rockmusiker, die sich um das langsame Zerbröseln der Geschlechtsunterschiede Sorgen machten. Im Juni 2007, unmittelbar nachdem die Moskauer Polizei den Gay Pride in der Innenstadt aufgelöst ­hatte, fand im Moskauer Musikclub B1 ein Rock­konzert unter dem Titel »Marsch der sexuellen Mehrheit« statt. Der Organisator des Konzerts, Alexej Kortnew – Sänger der Rockgruppe Nestschastnyj Slutschaj –, erklärte in ­einem ­Interview mit der Moscow Times, er sei nicht »gegen diese Leute« (gemeint war die LGBT-Gemeinschaft). (2) Aber: »Wir sind gegen die aktive Popularisierung homosexueller Werte un­ter jungen Leuten.« Diese Popularisierung nehme sehr schnell zu, insbesondere auf der Bühne und in der Popmusik. Kortnew beklagte »die Erosion des Unterschieds zwischen Männern und Mädchen« und die »nachdrückliche Verleugnung unserer sexuellen ­Natur«.
In der russischen Provinz führt das schwulenfeindliche Klima zu schlimmen Auswüchsen. Im September 2008 wurde in der sibirischen Stadt Krasnojarsk der Schwulenclub Chanter von der Polizei gestürmt. Wie ein Augenzeuge, der wie alle Besucher des Clubs auf die Polizeiwache gebracht wurde, der Zeitung Nowyje Iswestija berichtete, war die Polizei auf der Suche nach einem Pädophilen, der einen achtjährigen Jungen vergewaltigt haben soll. (3) Dass Pädophile sich gerade in Gay-Clubs aufhalten, scheint für die russische Polizei eine ausgemachte Sache. Die Polizisten behandelten die Clubbesucher wie Mitglieder einer gefährlichen Mafiabande. Alle Besucher des Clubs mussten ihre Handys ausschalten und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Wer sich nicht an die Anordnung hielt, wurde mit Füßen getreten. Auf der Wache mussten die Festgenommenen zur Gaudi der Polizisten Kniebeugen machen. Die Erniedrigungen wurden mit Handys aufgenommen. Dann machte man von den Festgenommenen steckbriefliche Fotos, nahm Fingerabdrücke und durchsuchte ihre Taschen. Für weitere Belustigung der Polizis­ten sorgten die privaten Videos auf den Handys der Clubbesucher.
Abseits der Skandale, Einschüchterungen und Verbote hat sich in den letzten 15 Jahren ­jedoch eine feste Subkultur gebildet. In Moskau gibt es 15 reine Szene-Einrichtungen – Bars, Clubs und Saunas –, davon vier für Lesben. Zur Szene gehören auch Sportclubs, und es gibt gemeinsame Unternehmungen, wie Ausflüge in die Natur. Doch für eine Stadt wie Moskau seien 15 Einrichtungen »sehr wenig«, meint ­Nikolaj Alexejew.
Seriöse Internetprojekte wie www.gayrussia.ru, www.gay.ru und www.lesbi.ru bemühen sich um die Vernetzung der Szene in Russland und die Information über wichtige Ereignisse im westlichen Ausland. In Moskau gibt es den Verlag Kwir, der das gleichnamige Schwulenmagazin und die Lesbenzeitung Pinx herausgibt sowie Literatur zur LGBT-Thematik vertreibt. Das Magazin Kwir wird in Moskau und St. Petersburg an Zeitungskiosken verkauft. Und es gibt eine Hand voll im ganzen Land bekannter Künstler, die offen zu ihrer sexuellen Orientierung stehen, wie etwa der Popsänger Boris Mojsejew sowie das Paar Semfira (Rocksängerin) und Renata Litwinowa (Schauspielerin).

»Auch Kasparow schweigt zu unseren Problemen«
Und wie positionieren sich die LGBT-Aktivisten in Russland in der russischen Politik? »Wir stehen gezwungenermaßen in Opposition zur Macht«, meint Nikolaj Alexejew, dabei sei man im Grunde nur eine Menschenrechtsbewegung, die für die bürgerlichen Rechte kämpft. Weder von der Regierung noch von der Oppo­sition erwarte die LGBT-Gemeinschaft Verständnis für die Probleme der sexuellen Minderheiten. Alexejew gibt sich pragmatisch. »Die Opposition kämpft um die politische Macht. Wir haben nie um die politische Macht gekämpft. Wir wollen mit der Staatsmacht, die jetzt im Amt ist, zusammenarbeiten, damit sie das Problem der Homophobie im Land anerkennt und damit sie unsere Rechte anerkennt.« Wenn die heutige Opposition an die Macht käme, würde sich an der Lage der LGBT-Gemeinschaft nichts ändern. Das sehe man schon daran, dass die Oppositionspolitiker Angst haben, die Wörter »gay« und »homosexuell«, »Lesben«, »Homophobie« auszusprechen. Von der Opposition, auch von Garri Kasparow, habe es nie ein Wort der Kritik gegeben, wenn in Russland die Rechte der LGBT-Gemeinschaft verletzt wurden, so Alexejew.
Trotzdem ist Russlands bekanntester Schwuler optimistisch. Der Kampf gegen die Homophobie, der jetzt in Russland beginne, werde irgendwann zum Erfolg führen. Oft dauere es sehr lange, bis sich die Situation in einem homophoben Land verändere. »In Sydney war der Gay Pride verboten, und die Polizei verhaftete die Teilnehmer. Jetzt ist der Mardi Gras ein großer Festtag.« Auch die Schwulen in Russland wollten nicht ewig »wie in einem Stall« leben. »Die Situation wird sich nicht ändern, wenn man keine Anstrengungen unternimmt.«
Der Weg, den Russland bei seiner Modernisierung einschlägt, gefällt Alexejew nicht. »Wir übernehmen vom Westen das Schlechteste. Wir übernehmen nicht Bürgerrechte, Demokratie und Freiheit. Wir übernehmen eine verfälschte Freiheit. Eine Superboutique auf dem Twerskoj Bulwar zu eröffnen, wo alles Millionen kostet, das ist normal.« Die Ansichten von Bürgermeister Luschkow seien haarsträubend. »Angeblich führt die Werbung für Safer Sex zur Ausbreitung von Aids. Wozu wählt man Politiker?« fragt Alexejew. »Man wählt sie nicht, damit sie irgendwelchen tierischen Instinkten ihrer Wähler folgen, sondern damit sie die Gesellschaft voranbringen.« Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit für mehr Toleranz und Verständnis für die Rechte der Schwulen und Lesben zu werben. »Man müsste Journalisten wie Wladimir Posner [liberaler Fernsehmoderater, Anm. d. Autors] nur erlauben, zu sagen, was sie über das alles denken. Da würde sich sofort sehr viel ändern.«
Alexejew als strammen Oppositionellen zu bezeichnen, wäre sicher übertrieben. Über Putin verliert der LGBT-Aktivist kein böses Wort. Der russische Premierminister habe sich bisher »unklar« zum Gay Pride geäußert, betont Alexejew. »Auf einer Pressekonferenz im Kreml sagte er 2007, seine Aufgabe als Staatsoberhaupt sei es, das demografische Problem zu lösen. Im zweiten Satz sagte er, er werde sich für die freie Meinungsäußerung einsetzen.« Die Medien hätten das damals als Absage an den Gay Pride interpretiert. Eigentlich – so der Aktivist – müsste Putin erklären: »Leute, es reicht. Wir müssen die Bürgerrechte schützen, unabhängig von der sexuellen Orientierung.« Wenn Putin die Gay-Parade erlaube, werde Bürgermeister Luschkow »in der ersten Reihe marschieren«, da ist sich Alexejew sicher.
Wahrscheinlich gibt es in ganz Russland »nur zweieinhalb offene Gays«, witzelt Alexejew. »Russland ist ein Land, wo es keinen ein­zigen Politiker gibt, der sich offen als Gay zu erkennen gibt, und nur einen im Showbusiness, Boris Mojsejew. Und er wird auch ziemlich unter Druck gesetzt.« Man habe ihm gedroht, ­seine Konzerte abzusagen, und nun habe sich der Sänger sogar für das Verbot der Gay-Parade ausgesprochen. »Das muss man sich mal vorstellen.« Alexejew gesteht ein, dass sich der Großteil der Homosexuellen im Land noch abwartend verhalte. »Die Mehrheit der Gays ist dafür, dass alles so bleibt, wie es ist, und alles irgendwann von selbst kommt. Aber warum soll ich warten? Die Leute leben ihr ganzes Leben und erreichen auf diese Weise überhaupt nichts.«

»Wir müssen durch diese unangenehme Etappe durch«
Anna Komarowa, eine junge Lesbe, die von 2005 bis 2009 mit Alexejew in dem Internetprojekt gayrussia.ru zusammengearbeitet hat und jetzt als freie Fotografin arbeitet, ist der Meinung, man müsse noch viel mehr dafür tun, damit die LGBT-Szene auf die Straße gehe.
Um von dem »toten Punkt« wegzukommen, müssten Homosexuelle »zu Tausenden« auf die Straße gehen, meint die junge Aktivistin bei einem Gespräch (4) in der Friendly Bar, einer Schwulenkneipe nicht weit vom Kreml. »Es gibt eine große totalitäre und autoritäre Erfahrung. Das betrifft nicht nur die Gay-Bewegung, sondern die gesamte Opposition. Wir haben es noch nicht geschafft, unsere Kräfte zu vereinigen. Vertreter der Opposition ins Parlament zu schicken, ist so gut wie unmöglich. Es gibt riesige Hürden. Da bleibt nur die Straße.«
Das sei eine »unangenehme Etappe«, aber da »müssen wir durch. Das ist unvermeidlich.« Dass der Protest auf der Straße Erfolg bringt, sehe man daran, dass nach dem ersten verbo­tenen Gay Pride viele Bücher erschienen. »Die wären nie gedruckt worden, wenn wir nicht auf die Straße gegangen wären.« Es erschien das Buch »Ich, Pierre Seel, deportiert und vergessen« des Franzosen Pierre Seel in russischer Übersetzung, und es erschien »Das ultramoderne Kind« der russischen Pädagogin Alla Barkan. Dort gibt es ein Kapitel über die Probleme von gleichgeschlechtlichen russischen Paaren, die Kinder haben, und dort werden Vorschläge gemacht, wie gleichgeschlechtliche Paare ihre Rechte durchsetzen können.
Auch eine feministische Bewegung gebe es in Russland praktisch nicht, meint Anna. Die Geschichte der russischen feministischen Bewegung beschränke sich auf eine kurze Etappe im 20. Jahrhundert. Diese Etappe war »sehr kurz und nicht deutlich«. Russland entwickle sich nach dem westlichen Modell, nicht nach dem asiatischen. Doch alles komme mit »großer zeitlicher Verspätung«.
Es habe lange gedauert, bis sie offen als Lesbe aufgetreten sei, erzählt Anna Komarowa. Dabei sei sie schon lange Lesbe. »Obwohl, ich hatte auch zu Männern Beziehungen, auch eine lange Liebesbeziehung. Aber schon im Alter von fünf Jahren wusste ich, dass ich Frauen liebe. Schon damals habe ich aber gefühlt, dass man das den Erwachsenen lieber nicht erzählt, weil sie das nicht für gut befinden.« Im Alter von 30 Jahren begann für Anna eine erste längere Beziehung zu einer Frau. Da erklärte sie es dann auch anderen gegenüber offen, dass sie eine Lesbe ist. Dass sie dann aktiv wurde, sei spontan gekommen. »Am 17. Mai 2005 saß ich mit meiner Freundin vor dem Computer. Wir lasen Texte über Homosexuelle. Und wir beschlossen, zu zweit mit Flugblättern auf die Straße zu gehen. Wir hatten 60 Flugblätter, die wir kopiert hatten, darauf stand in großen Lettern: ›Heute ist der Tag des Widerstands gegen die Homophobie!‹ Wir gingen auf die Twerskaja, nicht weit vom Kreml. Ich hatte natürlich Angst. Aber ich habe das gemacht, um meine eigene Angst zu überwinden. Ich hatte Glück. Mir ist nichts passiert. Aber meine Freundin, die auch Anna heißt, wurde von einem fiesen Typen angemacht. Zum Glück wurde er von seiner Freundin weggezogen. Dieser junge Mann war außer sich. Sie erzählte, so ein Gesicht habe sie noch nie gesehen.«
Schon oft fühlte sich Anna verfolgt. »Ich wusste, dass man uns beschatten und uns bedrohen würde. Ich habe die Sowjetzeit miterlebt. Mein Vater ist Militärarzt. Er hat im ›Sternenstädtchen‹ bei Moskau Mitarbeiter der Raumfahrt und KGBler behandelt. Ich wusste Bescheid.«
Anna wurde auch schon persönlich bedroht. »Es gab mehrere solche merkwürdige Situationen, besonders im Jahr 2005, als ich aktiv wurde. Einmal hat mich ein Mann auf der Straße bedroht. Ich ging spazieren. Der Mann hatte mich offenbar über mein Handy elektronisch geortet. Er drohte, mich zu schlagen. Auch Alexejew wurde beschattet.«
Selbst in einer Metropole wie Moskau werde man heute als Lesbe im Alltag immer noch diskriminiert, erzählt Anna. Frauen könnten zwar in Moskau auf der Straße Hand in Hand gehen. »Aber es kann sein, dass diese Frauen zu Hause und auf der Arbeit ihre Identität nicht offen leben. Das ist ein Paradox.« Frauen, die auf der Straße Hand in Hand gehen, würden zwar keine Angriffe riskieren, aber sie müssten mit sozialem Druck rechnen. In der russischen Provinz sei es schwieriger. »Ich kenne ein Mädchen aus Woronesch, dem die Rippen eingeschlagen wurden. Sie ging mit ihrer Freundin spazieren. Sie sieht aus wie ein Junge. Maskuline Lesben haben besonders viel auszustehen«, meint Anna, die selbst kurz geschorene Haare trägt.
Mit ihrer Mutter könne sie über alles reden, erzählt Anna, nicht jedoch mit ihrer Schwester. Wenn sie Freunde nach Hause einlade, schäme sie sich für Anna. »Sie sagt, du darfst nicht mit am Tisch sitzen, geh in dein Zimmer. Ich sage, ich werde mich nicht im Schrank verstecken.« Aus Protest trägt Anna auch zu Hause ihren Gay-Pride-Button. »Meine Schwester hat zwei Wochen nicht mit mir geredet.«
Anna, die noch nie im westlichen Ausland war, träumt von einem zweiten Wohnsitz außerhalb von Russland. Doch ins Ausland emigrieren möchte sie nicht. Ohne die russische Subkultur könne sie nicht existieren, meint die Aktivistin. Und obwohl es im westlichen Ausland leichter für Homosexuelle sei, wäre sie dort nicht nur als Lesbe, sondern auch als Russin in der Minderheit.

Anmerkungen:
(1) Interview mit Nikolaj Alexejew, 7.12.2008
(2) »Old-Fashioned Values«, »Moscow Times«, 1.6.2007
(3) »Netradicionnyj podchod«, »Nowyje Iswestija«, 9.9.2008
(4) Interview mit Anna Komarowa, 7.3.2009
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus:
Ulrich Heyden / Ute Weinmann: Opposition gegen das System Putin. Herrschaft und Widerstand im modernen Russland.
Rotpunktverlag, Zürich 2009. 326 Seiten, 24 Euro.
Das Buch erscheint dieser Tage.