Verschuldet Euch!

Mit dem radikalsten Reformprogramm seit Jahrzehnten will China seine Wirtschaft modernisieren

"Der Film 'Titanic' zeigt, wie Menschen in einer schwierigen Lage mit der Beziehung zwischen Geld und Liebe, Armut und Wohlstand umgehen", meinte der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin - und forderte die Delegierten des Nationalen Volkskongresses in Peking auf, alle Kräfte für das neue Wirtschaftsprogramm zu mobilisieren. Das Schicksal der "Titanic" könnte allerdings auch das radikalste Reformprojekt seit Jahrzehnten, mit dem China seine Wirtschaft modernisieren will, ereilen. Der scheidende Ministerpräsident Li Peng hatte bereits in seiner Eröffnungsrede auf dem Volkskongreß, der letzte Woche zu Ende ging, bemerkt, daß die Leistung der Volkswirtschaft schlecht und das Banken- und Finanzsystem chaotisch sei. Die nächste Regierung müsse drei entscheidende Aufgaben bewältigen: die Umstrukturierung der Staatsbetriebe, den Abbau des öffentlichen Dienstes und die Reform des Finanzsektors.

Ende vergangenen Jahres waren in den Städten bereits 11, 5 Millionen Chinesen arbeitslos gemeldet, was einer offiziellen Quote von etwa 3,5 Prozent entspricht. In Wirklichkeit dürfte die reale Quote bereits mehr als doppelt so hoch sein. Hinzu kommen noch die Unterbeschäftigten, nach offiziellen Schätzungen etwa 140 Millionen Chinesen. Die meisten davon leben auf dem Land, werden von Familienangehörigen unterhalten und tauchen daher in keiner Statistik auf.

Dabei wird es nicht bleiben. Jeder zweite der 75 Millionen Beschäftigten in den Staatsbetrieben sei überflüssig und solle in den nächsten drei Jahren entlassen werden, erklärte der Vizeministers für Wirtschaft und Handel, Chen Qingtai, auf dem Kongreß. Weiterhin ist die Schließung unrentabler Industrieunternehmen vorgesehen. Allein in den letzten fünf Jahren wurden mit der Durchsetzung der "sozialistischen Marktwirtschaft" zwölf Millionen Menschen wegen die Schließung unrentabler Staatsbetriebe arbeitslos, weitere elf Millionen sollen in diesem Jahr entlassen werden. Der Schutz der Staatsfirmen galt einst als wesentlicher Bestandteil des chinesischen "Übergangsmodells", um eine soziale Explosion in den Städten zu vermeiden. Heute ist der staatliche Sektor, der noch vor knapp zwei Jahrzehnten 80 Prozent der gesamten Industrietätigkeit umfaßte, auf ein knappes Drittel geschrumpft. Und seit 1995 hat sich die Zahl der Konkurse verdoppelt bis verdreifacht: Sie sind ein beliebtes Mittel der Schuldentilgung für bankrotte Unternehmen; das Nachsehen haben dabei die Banken und der Staatshaushalt, die die Schuldenlast tragen müssen.

Die chinesische Regierung geht bei der Rationalisierung mit gutem Beispiel voran: Vize-Ministerpräsident Zhu Rongji ließ vom Nationalen Volkskongreß den Plan absegnen, 15 Ministerien abzuschaffen und im Laufe der nächsten drei Jahre vier Millionen Mitarbeiter der Behörden zu entlassen. Die 113 Millionen Staatsbeschäftigten - der Rest der Bevölkerung arbeitet weitgehend in der Landwirtschaft, ein kleiner Teil in Privatbetrieben - erhielten eine klare Warnung: Sie sollen sich darauf einstellen, daß jeder dritte in den nächsten Jahren seinen Job verlieren kann. Auf dem Land ist die Situation noch ernster: 120 Millionen Landarbeiter haben de facto nichts zu tun.

Die wichtigsten Umstrukturierungsmaßnahmen betreffen jedoch die Privatisierung der Staatsbetriebe, von den 68 000 Staatsunternehmen sollen am Ende noch gerade 625 übrig bleiben. Die überwiegende Mehrheit wird ohne weitere Umstände in die Marktwirtschaft entlassen, nur 16 000 Groß- und Mittelunternehmen können noch mit weiteren staatlichen Krediten rechnen. Die Folgen der neuen Wirtschaftspolitik sind bereits jetzt zu spüren. In der Industrie sind sechsmonatige Lohnrückstände und mehrmonatige Aussetzungen der Rentenzahlungen keine Seltenheit mehr.

Schwer zu schaffen macht China auch die Asien-Krise. In einzelnen Industriezweigen ging die Produktion im Jahresvergleich um 30 Prozent zurück, da die Exporte in die Nachbarregion zusammenbrechen. Ein gigantisches Konjunkturprogramm - geplant sind Investitionen in Höhe von einer Billion Dollar für Infrastruktur, neue Wohnungen und Umweltschutz - soll nun das Wirtschaftswachstum wieder forcieren. Die Furcht vor weiteren Einbrüchen sitzt der chinesischen Regierung im Nacken: Die Asien-Krise werde den bisherigen Exportzuwachs mehr als halbieren, sagte der Zentralbankchef Dai Xianglong. Bei den derzeit übersensibilisierten Weltmärkten genüge das leiseste Anzeichen einer Rezession, um Kapitalflucht und damit eine Abwertung der Landeswährung Yuan herbeizuführen. Mit dem Konjunkturprogramm, so die Hoffnung, könnten doch noch acht Prozent Wirtschaftswachstum erreicht werden, die nötig sind, um neue Jobs für die Millionen Entlassenen aus den Staatsbetrieben zu schaffen.

Doch die geplanten Investitionen könnten sich als Bluff erweisen. Letztes Jahr investierte China etwa 5,5 Milliarden Dollar - es müßte also seine Ausgaben pro Jahr etwa um das Sechzigfache steigern, um das angestrebte Investitionsniveau zu erreichen. Finanziert werden soll das Investitionsprogramm aus den Spareinlagen chinesischer Bürger, die allerdings nicht einmal die Hälfte der geplanten Ausgaben betragen. Bereits im letzten Jahr überstiegen die Staatsausgaben die Kreditaufnahme bei weitem.

Die Ursachen für die Überschuldung liegen in den Wirtschaftsreformen, die die Regierung Deng Xiaoping seit 1978 durchführte. Der Staat lebte auf Kosten der Betriebe - er verlangte von ihnen zwar Steuern und Abgaben, zahlte aber keine Investitionszuschüsse mehr. Daher waren die Betriebe gezwungen, Kredite bei den Staatsbanken aufzunehmen. Mittlerweile müssen die meisten Unternehmen mehr Geld für die Kredittilgung aufwenden als für Personalkosten. Um dem völligen Zusammenbruch zuvorzukommen, will die Regierung nun die maroden Unternehmen schließen und zugleich ein soziales Sicherungssystem aufbauen, da bisher die Betriebe für die Renten und das Arbeitslosengeld aufkamen. Die Kommunistische Partei und die Staatsbürokratie kämpfen darum, ihre Machtbasis im Reformprozeß nicht zu schnell zu verlieren.

Bis zu 40 Prozent der Kredite in der VR China sind nach Schätzungen von Experten nicht gedeckt, der chinesische Zentralbankchef Dai Xianglong beziffert ihren Anteil auf 25 Prozent. Letztes Jahr mußten sechs Milliarden Dollar fauler Kredite endgültig abgeschrieben werden, die Gesamthöhe der unbedienten Darlehen an Staatsbetriebe beläuft sich auf rund 200 Milliarden Dollar - die Liquidität der Bank of China und der anderen drei chinesischen Großbanken ist mittlerweile so unsicher, daß ausländische Banken vor neuen Geschäften zurückschrecken. Das Finanzministerium plant deshalb die Ausgabe von Staatsanleihen in Höhe von 32 Milliarden Dollar, um die Banken zu stützen.China will sogar Handelsnachteile in Kauf nehmen, um eine Abwertung der Landeswährung zu vermeiden. "Wir sind bereit, auf der Exportseite den Preis dafür zu bezahlen, daß wir den Yuan stabil halten", sagte der stellvertretende Außenhandelsministers Long Yongtu am Rande des Volkskongresses. "Verschuldet euch!" könnte nach dem "Bereichert euch!" Deng Xiaopings das neue Motto der Wirtschaftspolitik lauten. Denn anders ist das Programm kaum zu finanzieren. Selbst wenn China in diesem Jahr eine ausgeglichene Handelsbilanz erreichen sollte, werden die Währungsreserven nicht mehr steigen. Damit sind aber weder die geplanten Investitionen finanzierbar noch die Stabilität der eigenen Währung aufrecht zu erhalten.

Die chinesische Regierung könnte daher doch noch zu einer Notlösung greifen. Bereits 1993 wertete China seine Währung um 30 Prozent ab, um den Export zu steigern. Sollte es nun wieder diesen Ausweg suchen, könnte sich die Asienkrise wesentlich verschärfen: Seine Nachbarländern und insbesonders Japan würden endgültig in einen Wettlauf der Währungsabwertungen hineingezogen.