Die Auflösung von Sonderschulen

Einschulung unerwünscht

Wer von der Förderschule kommt, hat schlechte Chancen auf Integration. Aber der Integration förderbedürftiger Schüler in reguläre Schulklassen stehen zahlreiche Hindernisse im Weg.

Der 18jährige Stephan aus dem Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel besuchte die Förderschule und verließ sie ohne Abschluss. Damit ist er nicht allein, rund 77 Prozent der Schüler deutscher Förderschulen bekommen keinen Schulabschluss. »Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz mache ich mir eigentlich nicht«, sagt Stephan, es falle ihm schon schwer, einen Praktikumsplatz zu bekommen.
Denn auch wenn Bund und Länder auf dem so genannten Qualifizierungsgipfel im Oktober 2008 beschlossen haben, dass »für Schülerinnen und Schüler in Förderschulen eine vertiefte Berufsorientierung angeboten wird«, haben Schüler aus Förderschulen kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz – ob sie einen Schulabschluss erhalten haben oder nicht. Der diesjährige Behindertenbericht der Bundesregierung kommentiert dies lapidar: Die Bundesregierung nehme »die Sorge ernst, dass der Besuch einer Förderschule für ein Kind mit Behinderung nicht immer seine Bildungs- und Berufsperspektive angemessen fördert«.
Stephan ist nun im zweiten Jahr in einem so genannten Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) für Schüler ohne Hauptschulabschluss. Auch das bietet ehemaligen Förderschülern keine echte Perspektive. »Die Ergebnisse sind bestürzend, kurz zusammengefasst – die Maßnahme BVJ bringt wenig«, sagt Wilhelm Leeker, der über die Geschichte und die erreichten Ziele des BVJ an der Universität Oldenburg promoviert und fast 30 Jahre mit förderbedürftigen Jugendlichen gearbeitet hat. Seiner Studie zufolge erhalten nur rund zwölf Prozent der ehemaligen Förderschüler einen Ausbildungsplatz, weitere 20 Prozent landen in Helferberufen. Die große restliche Mehrheit meldet sich arbeitslos oder beantragt nach dem Berufsvorbereitungsjahr ALG II.
Leeker zufolge ist die frühe Festlegung von Schülern auf eine bestimmte Schulart ausschlaggebend für die Perspektivlosigkeit der Förderschülerinnen und Förderschüler. »In meiner Arbeit kann ich aufzeigen, dass Schüler, die in den ersten Jahren auf die Förderschule kommen, dauerhaft keine Chance haben, in Arbeit zu kommen.« Auch Martin Röser vom Hamburger Verein »Leben mit Behinderung« kritisiert die mangelnden beruflichen Perspektiven der Schüler mit geistigen Behinderungen. »Viele von ihnen arbeiten in Werkstätten für Behinderte, obwohl es möglich wäre, Arbeitsplätze in ›normalen‹ Unternehmen zu schaffen«, sagt der Bereichsleiter für den Hamburger Westen der ­Jungle World.

Von der Erfüllung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die nach der Ratifizierung durch die Bundesregierung seit dem März 2009 verbindlich ist, Schüler mit und ohne Behinderung von Anfang an gemeinsam zu unterrichten, ist Deutschland weit entfernt. Im Behindertenbericht der Bundesregierung 2009 heißt es: »In Deutschland besuchen nur 15,7 Prozent der behinderten Kinder und Jugendlichen gemeinsam eine Schule mit Nichtbehinderten«, rund 480 000 Kinder besuchen in Deutschland eine »Sonderschule«, wie die Förderschulen in manchen Bundesländern noch heißen. »Innerhalb der europäischen Union nimmt Deutschland einen der letzten Plätze ein«, bestätigt Klaus Lachwitz von der Bundesvereinigung Lebenshilfe. In anderen europäischen Ländern findet eine integrative »Beschulung« von 80 Prozent der förderbedürftigen Schüler statt. Finnland hat überhaupt keine Förderschulen mehr.
Um den von der UN-Konvention ausgehenden Handlungsdruck zu mindern, entschärfte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Konvention vorsorglich vor der Ratifizierung, indem das englische »inclusive« mit »integrieren« übersetzt wurde. Einige Kultusminister der Länder sehen die Forderung nach »Integration« als bereits erfüllt an, schließlich bereiteten angeblich auch die Sonderschulen ihre Schüler auf ein Leben in der Gesellschaft vor. Das nordrhein-westfälische Schulministerium hebt die Vielzahl der unterschiedlichen Förderorte geradezu als »innovativ« hervor: »Die Vielfalt der Organisationsformen und die Pluralität der Förderorte sind eine Bereicherung.«
Auch haben alle Bundesländer die Einhaltung der UN-Konvention an »personelle, sachliche und organisatorische Voraussetzungen« gekoppelt – sprich, wenn kein Geld da ist, gibt es keine Integration. Behindertenselbsthilfegruppen bemängeln dies schon seit langem. Sowohl die Lebenshilfe als auch die Elternorganisation »Gemeinsam leben – Gemeinsam lernen« fordern die Abschaffung dieser Einschränkung und konsequente integrative »Beschulung« – und damit die Abschaffung der Sonderschulen.

Doch die einzige Hoffnung scheinen im bundesweiten Vergleich im Augenblick nur Hamburg und Bremen zu sein. In Bremen wurde beschlossen, dass die Sonderschulen nach und nach weitgehend abgeschafft werden. In Hamburg entscheidet der Senat in den kommenden Monaten über eine Novellierung des Schulgesetzes. Dann soll der Passus der »personellen, sachlichen und ­organisatorischen Voraussetzungen« für die Integration gestrichen werden. Eine Zustimmung gilt als wahrscheinlich. Die Änderung hätte weitreichende Konsequenzen für die Hamburger Schulen. Auf dem Papier könnte dies auf eine schnelle Auflösung der Förderschulen hinaus­laufen. Die ersten Sonderpädagogen schauen sich bereits nach Stellen in den neu entstehenden Primar- und Stadtteilschulen um.
So begrüßenswert die Entwicklung, eine Auflösung der Sonderschulen, auf den ersten Blick sein mag, so schmerzlich vermisst man ein Konzept für die Integration der förderbedürtigen Schüler. Noch ist überhaupt nicht klar, wie die Integration in der Praxis vonstatten gehen soll. Es gibt zwar lange Erfahrungen mit Integrationsklassen, doch waren diese bisher die Ausnahme und materiell gut ausgestattet. Die GEW äußert bereits erste Sorgen, dass im Prozess hin zur in­tegrativen »Beschulung« gespart werden könnte. »Welche Mittel zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, ist vollkommen unklar«, sagte der Vorsitzende der GEW, Klaus Bullan, der Jungle World. Aufgrund der miserablen Haushaltslage könnte bei der Realisierung der ambitionierten Pläne schnell gespart werden. Und zum Sparpreis, da sind sich Bildungsforscher einig, ist die Inklusion nicht zu haben, auch weil die Zahl der Schüler, mit denen herkömmliche Schulen nur schwer klar kommen, stetig steigt.
Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck bemängelte Ende Juli in seiner Kolumne in der Hamburger Morgenpost die großen Klassen und die zu hohe Unterrichtsverpflichtung der Lehrer als Hindernisse auf dem Weg zu einer individuellen Förderung. »Deutsche Schulen sind Armenhäuser, und sie helfen sich gegen die dürftige Ausstattung mit Ausgliederungen in Form von Sitzenbleiben, Rücklaufenlassen und Abschulen zu Sonderschulen«, so der Bildungsforscher.
Scheitern könnte die ganze Inklusion aber auch noch am Widerstand konservativer Eltern in Hamburg. Die bereiten gerade ein Volksbegehren gegen die Schulreformpläne vor, ihr Ziel ist die Verhinderung der Reformen. In ganz Blankenese fahren die SUVs mit Protestaufklebern gegen die Schulreform durch die Straßen. Auch wenn das Volksbegehren scheitern sollte, werden konservative Eltern mit Sicherheit weiter gegen die Inklusion von verhaltensauffälligen Schülern protestieren. Einen netten Mitschüler mit Down-Syndrom akzeptieren auch Eltern aus gehobenen Schichten. Jugendliche Macker aus Problemfamilien mit »Hurensohn-Digger«-Gehabe und entsprechendem Förderbedarf würden die feine Hamburger Elternschaft wohl doch zu sehr aufmischen.