Menschrechtsverletzungen in Mexiko

Kontrollieren, schikanieren, einschüchtern

Guerrero gehört zu den Bundesstaaten Mexikos mit den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Überproportional betroffen sind die Angehörigen der indigenen Minderheit. Dagegen kämpft seit 15 Jahren das Menschenrechtszentrum Tlachinollan in der Provinzstadt Tlapa. Auf dessen Jubiläumstagung zogen Experten aus ganz Mexiko eine trübe Bilanz.

»Ohne Vidulfo und die Rechtsberatung vom Zentrum säße ich wahrscheinlich immer noch im Gefängnis. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich zum 15. Jubiläum von Tlachinollan komme«, sagt der Ökobauer Felipe Arreaga Sánchez mit einem breiten Lächeln. Der stämmige Mann, dessen Pupillen hinter dicken Brillengläsern aufmerksam hin und her huschen, ist ein Pionier der Umweltbewegung im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. »Als wir spitz kriegten, dass immer weniger Wasser in Banco Nuevo ankam und dass es immer schmutziger wurde, begannen wir, aktiv zu werden. Wir haben die Holztransporte aus den Bergen blockiert, um den Einschlag zu stoppen. Der lag deutlich über dem Erlaubten«, erklärt das Gründungsmitglied der Campesinos ecologicos.
Die Organisation tritt für den Umweltschutz in der Sierra de Petatlán und der Coyuca de Catalán, einer nordöstlich von Acapulco liegenden Region, ein. Das wird nicht überall gern gesehen. Morddrohungen hat der streitbare Ökobauer Arreaga bekommen, im November 2004 wurde er festgenommen und unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer Guerillaorganisation und wegen Mordverdachts inhaftiert.
»Das waren fabrizierte Anschuldigungen, und das haben wir vor Gericht auch beweisen können«, sagt Vidulfo Rosales, der Anwalt des Menschenrechtszentrums Tlachinollan in Tlapa. Der Umweltbewegung in der Region hat die Freilassung von Arreaga, die ohne die Anwälte des Zentrums wohl kaum zustande gekommen wäre, Auftrieb gegeben.
Vor 15 Jahren wurde »Tlachi«, wie das Zentrum der Kürze wegen meist genannt wird, gegründet, und seit neun Jahren ist Vidulfo Rosales dabei. Er hat Felipe Arreaga zwar nicht vertreten, doch seit einigen Jahren steht der umtriebige Jurist der Rechtsabteilung des Menschenrechtszentrums vor. Die hat alle Hände voll zu tun, denn seitdem die Regierung von Felipe Calderón den Drogenkartellen den Krieg erklärt hat, ist das Militär auch in Guerrero noch stärker präsent als früher.
Nicht nur an den Hauptverkehrsstraßen wie der gut ausgebauten Autobahn von Mexiko-Stadt zum Feriendomizil Acapulco haben die Soldaten Kontrollposten und mit Sandsäcken gesicherte Unterstände errichtet, auch in den abgelegenen Provinzstädten wie Tlapa oder Ayutla wird patrouilliert. Guachos werden die oftmals sehr jungen, aber umso martialischer auftretenden Soldaten genannt. Besonders herrisch gehen sie mit den Angehörigen der indigenen Minderheit um. Rund 20 Prozent der Einwohner von Guerrero sind indigener Herkunft, oftmals leben sie in abgelegenen Regionen unter ärmlichen Bedingungen.

»Die Regierung hat sie weitgehend vergessen. Die Verkehrswege in die Dörfer sind miserabel, an den Schulen fehlt es an Lehrern, und zweisprachiger Unterricht ist eher die Ausnahme denn die Regel«, schildert Rosales die Verhältnisse. Die kennt er genau, denn in einem dieser Dörfer ist er selbst aufgewachsen. »Ich habe für meine Ausbildung gekämpft, und nun kämpfe ich mit Paragraphen für die Rechte der indigenen Minderheit.« Die Indigenas organisieren sich und fordern ihre verfassungsmäßigen Rechte ein. Doch das wird nicht überall gerne gesehen.
In Ayutla, wo die Organisation der indigenen Bevölkerungsgruppe der Me’Phaa (Opim) ihren Sitz hat, haben die Wände Ohren und die Straßenecken Augen. »Da stehen Unbekannte drei Stunden und länger gegenüber von unserem Büro und beobachten alles und jedes. Das sorgt für Verunsicherung und Angst«, erklärt Obtilia Eugenio Manuel und lässt die kräftigen Schultern nach vorne sinken. Polizei und Armee pa­trouillieren regelmäßig und fragen auch nach der Opim-Präsidentin. »Ich bin jedoch keine Straffällige, sondern die gewählte Vertreterin meines Volkes«, kommentiert sie das wiederholt demonstrierte Misstrauen des Staats.
Unscheinbar ist die einfache, weiß gekalkte Lehm­kate. Nur das helle Holzschild mit dem Schrift­zug »Kambaxo Xuaji Guini Me’phaa« weist darauf hin, dass sich hier das Büro der Opim befindet. Neben dem Schriftzug ist das Emblem der indigenen Organisation zu sehen, ein praller Maiskolben, unter dem sich eine Hacke und eine Machete kreuzen. »Mais ist unser wichtigstes Anbauprodukt«, erklärt Obtilia. Die kleingewach­sene Frau deutet auf die beiden braunen Hügel, die erst auf den zweiten Blick auf dem Maiskolben zu erkennen sind. »Die stehen für die Berge, die neben der Landwirtschaft unser Leben prägen.«
Dann fordert sie die Besucher auf, in das halbdunkle Innere des Hauses zu treten. Dort kauern ein gutes Dutzend Menschen im diffusen Licht, das durch die Eingangstür und die Ritzen im Gebälk eintritt, und diskutiert. »Unsere Situation ist derzeit extrem schwierig. Wir suchen nach Wegen, wie wir unsere Arbeit aufrechterhalten können, denn ich kann mich in Ayutla kaum mehr allein bewegen.« Die Anspannung ist der Frau anzumerken, derzeit ist die Situation brisant wie nie zuvor. Drohungen hat sie schon viele erhalten. Die ersten vor fünf Jahren, als sie auf einer Konferenz über die Vergewaltigung zweier Me’Phaa-Frauen durch Soldaten berichtete. Fünf Tage später erhielt sie einen Brief, in dem sie ­bedroht wurde: »Du wirst sehr bald in Frieden ruhen (…) Genug der dummen Lügen über die Vergewaltigung von Valentina und Inés.«

Seitdem hat die Opim-Präsidentin viele weitere Drohungen erhalten, zuletzt auf dem Handy. »In 14 Tagen würden sie mich umbringen, hieß es da. Ich solle bloß nicht glauben, dass sie mich nicht erwischen würden.« Das glaubt Obtilia schon lange nicht mehr, denn in den vergangenen Monaten ist zu viel passiert, als dass sie irgendeine Drohung auf die leichte Schulter nehmen könnte. »Ich will nicht das Schicksal von Raúl und Manuel teilen«, sagt sie mit brüchiger Stimme und weint. Raúl Lucas Lucía und Manuel Ponce Rosas waren Repräsentanten einer anderen in der Region von Ayutla lebenden Bevölkerungsgruppe, der Mixtecos. Der erste war Präsident der Organisation für die Zukunft der Mixtecos (OPFM), der zweite der Sekretär. Die beiden wurden am 13. Februar von drei bewaffneten Männern entführt und eine Woche später tot aufgefunden. »Fünf Monate später gibt es keine Spur, keine Verhaftung, nichts. Gerechtigkeit hat es für uns nie gegeben«, klagt Obtilia und streicht sich eine lange pechschwarze Haarsträhne aus der Stirn.
Straflosigkeit ist längst zu einem Charakteristikum Mexikos geworden, und die Bundesstaaten im Süden des Landes, Guerrero, Oaxaca und Chiapas, sind davon besonders stark betroffen. »Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben wir in Mexiko mehr als 1 200 Verschwundene registriert. Davon entfällt die Hälfte, also 600, auf den Bundesstaat Guerrero. Der ist seit langem für seine negative Menschenrechtsbilanz bekannt«, erklärt Rosales. Regelmäßig hat er in Ayutla zu tun, denn hier unterhält das Menschenrechtszentrum Tlachinollan eine Außenstelle. Doch das bescheidene Büro ist derzeit versperrt.
»Zu gefährlich«, sagt Rosales, denn in den vergangenen Monaten hat es mehrere Angriffe in Ayutla gegeben, sowohl auf Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums als auch auf lokale Menschenrechtler. Dabei gehen die Verantwortlichen, zumeist Paramilitärs, immer skrupelloser vor. So wurde Ende Juni der Pick-Up von Margarita Martín de las Nieves beschossen, als sie von einem Treffen mit Diplomaten der kanadischen und der US-amerikanischen Botschaft kam. Die Menschenrechtlerin von der Organisation für die Zukunft der Mixtecos (OPFM) kam mit dem Schrecken davon. Bezeichnend ist jedoch, dass noch Stunden nach dem Angriff die für ihren Schutz verantwortliche Polizeieinheit nicht zu erreichen war. Selbst als sie die Nummer für akute Gefahrensituationen wählte, die man ihr eigens mitgeteilt hatte, nahm niemand ab, und auch das Satellitentelefon, das man ihr gegeben hatte, funktionierte nicht. Merkwürdige Zufälle, die dazu führen, dass Repräsentanten der Indígenas sich nicht allzu gern unter den Schutz der staatlichen Ordnungskräfte stellen. Verdächtigungen, dass die Sicherheitskräfte mit den Paramilitärs, die oftmals beste Kontakte zu den Drogenkartellen haben, unter einer Decke stecken, sind die Folge.

Deshalb patrouilliert in den indigenen Gemeinden längst eine alternative Polizei. »Es sind Leute aus den Gemeinden, da besteht mehr Vertrauen«, sagt Abel Barrera, der Direktor des Menschenrechts­zentrums Tlachinollan, und deutet auf die Truppe, die heute bei der Menschenrechtskonferenz in Tlapa anwesend ist. Dort wird die Situation analysiert, die weder regional noch national Anlass zu Optimismus gibt. Das sprechen Frauen wie Obtilia deutlich aus. Sie klagt an, fordert und tritt für die Rechte der Minderheit und explizit für die der Frauen ein. Das ist alles andere als typisch in der patriarchalen Gesellschaft Mexikos, auch bei den Me’Phaa haben die Frauen lange Zeit die Männer machen lassen.
»Die Meinung von Obtilia hat Gewicht, und längst ist sie eine Symbolfigur für die Frauen der Region geworden«, sagt Alejandra González Marín, Psychologin vom Menschenrechtszentrum in Tlapa. »Sie steht für den Wandel und für den Widerstand der Frauen: gegen das Patriarchat und gegen die Vergewaltigung als Strategie des schmutzigen Krieges der Armee.« Über Jah­re hat sie zwei von Soldaten vergewaltigten Me’Phaa-Frauen geholfen, für sie übersetzt und sie unterstützt. Nicht nur in Mexiko, sondern auch vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in San José, wo die Fälle derzeit anhängig sind.
Für den mexikanischen Staat und seine Armee, deren Angehörige der Militärjustiz unterstehen, ist das Verfahren wenig schmeichelhaft. Zudem wurde der mexikanische Staat vom gleichen Gerichtshof verpflichtet, der Opim-Präsidentin und weiteren 41 Repräsentanten der Organisation Schutz zu gewähren. Doch auf die Polizei und die Armee ist in Mexiko nicht immer Verlass. Zahlreiche Korruptionsfälle, die im Zusammenhang mit dem Drogenschmuggel stehen, zeigen das genauso wie das Vorgehen gegen soziale Organisationen. Kontrollieren, schikanieren und einschüchtern sind Vokabeln, die immer öfter mit der Armee und Polizei des Landes in Verbindung gebracht werden.

»Selbst eine Hausdurchsuchung kann mit einem Anfangsverdacht aufgrund eines anonymen Anrufs begründet werden. Für die Regierung sind das Voraussetzungen, um effektiv gegen den Drogenhandel vorgehen zu können«, erklärt der Anwalt Rosales. »Aus unserer Perspektive ist das jedoch zynisch, denn Verfassungsgarantien werden außer Kraft gesetzt beziehungsweise eingeschränkt, wodurch auch Menschenrechtsverteidiger immer angreifbarer werden«, kritisiert der 35jährige.
Überdies zeigen die jüngsten Ereignisse in Mexiko, dass all die Bemühungen der Regierung, den fünf oder sechs großen Kartellen das Handwerk zu legen, kaum fruchten. So hat das Drogenkartell von Michoacán Rache geübt für die Festnahme eines ranghohen Kapos und in den vergangenen Wochen zahlreiche Bundespolizisten ermordet. »De facto haben wir es wie in Kolumbien mit einer Militarisierung zu tun, die mit einer Zunahme von paramilitärischen Aktionen einhergeht. Dabei ist zu beobachten, dass Vertreter von sozialen Organisationen zumindest überaus skeptisch betrachtet werden«, sagt Abel Barrera. »Wir haben es mit einem brisanten Cocktail von bewaffneten Akteuren zu tun.«
Dabei sind die Hintergründe und Motive nicht immer klar. In Guerrero sind es die Landfrage und die Konflikte um natürliche Ressourcen, die das Leben in einem der ärmsten Bundesstaaten Mexikos prägen. So gibt es Auseinandersetzungen um Wasser, aber auch um Gold, schildert der renommierte Experte Barrera eine Komponente der bewaffneten Konflikte. Zu den bewaffneten Gruppen gehören auch kleine Guerillaorganisationen, die genauso wie die Drogenkartelle das staatliche Gewaltmonopol unterminieren. In die Nähe der Guerilla werden, ähnlich wie in Kolumbien, auch gern die sozialen Organisationen gerückt. »Wenn sich die Bewohner einer Region beispielsweise gegen die Zerstörung der Natur wenden und dafür kämpfen, dass zumindest ein Teil der Gewinne in der Region bleibt, dann kann es passieren, dass sie kriminalisiert werden«, schildert Abel Barrera ein typisches Vorgehen der staatlichen Ordnungskräfte, mit dem die Anwälte vom Menschenrechtszentrum in Tlachinollan immer wieder zu tun haben.
Der Biobauer Felipe Arreaga Sánchez ist dafür ein gutes Beispiel. Man hatte fingierte Zeugen bezahlt, die aussagten, dass Arreaga ein Mitglied einer kleinen, in Guerrero operierenden Guerillaorganisation sei. Solche Strategien wendet man in Mexiko und in Guerrero immer wieder an. So ist Vidulfo Rosales derzeit damit beschäftigt, für die Freilassung von vier Mitgliedern der Opim zu kämpfen. Sie sitzen in Ayutla im Gefängnis und hoffen, dass die Anwälte des Menschenrechtszentrums sie freibekommen. Doch das kann dauern. Felipe Arreaga musste zwei Jahre warten.