Jahrmarkt der Kritik

48 Stunden Gegen-Uni sollten in Göttingen die Grenzen des Studentenprotestes sprengen

Es ist Dienstag abend, und der Rucksack wird für einen etwas anderen Unibesuch gepackt: Zu Schreibzeug und Kaffeetasse gesellen sich Schlafsack und Zahnbürste. Der Theologische Fachbereich der Göttinger Uni ähnelt einem Ameisenhaufen. Über zweitausend Menschen haben sich eingefunden, um an einem vom Asta organisierten Mammutprojekt teilzunehmen. Die sterile Atmosphäre ist durch farbige Lampen, Stellwände und Sitzecken aufgelockert, die hereinströmenden BesucherInnen drängen sich um einen Infotisch, der vor Flugblattstapeln überquillt, aber den zur Orientierung unbedingt notwendigen Ablaufplan bereithält.

150 Veranstaltungen werden innerhalb der nächsten beiden Tage angeboten. Initiativen und Gruppen aus der Stadt, Vereine, Zeitungsprojekte und nicht zuletzt WissenschaftlerInnen und StudentInnen der Uni bestreiten das auch in thematischer Hinsicht immense Angebot. Ein paar Hauptstränge lassen sich ausmachen: Besonders zahlreich sind Veranstaltungen zu den Themen Sozialpolitik, Ökonomie, Feminismus und Internet; unsortierbar die Fülle von Workshops und kulturellen Angeboten.

Auf dem Weg zu zweckentfremdeten Übungsräumen geht es am Workshop "Haare schneiden und färben" vorbei, in dem gerade Nikolai, einem Studenten der Sozialwissenschaft, Theorie und Praxis von Schere und Kamm vermittelt werden. Die Podiumsdiskussion mit der stellvertretenden Unidirektorin Carola Lipp, Informatikern und Studierenden über den katastrophalen Zustand der neuen Medien an der Uni neigt sich dem Ende zu; an fünfzehn frei zugänglichen Privatrechnern tummeln sich sowohl eingefleischte Computerfreaks als auch unbeleckte Neulinge, die hier zum ersten Mal die Chance ergreifen, sich ohne Anträge und Wartezeit die Möglichkeiten des Internet erläutern zu lassen. Die Reise durch das Saturnsystem, die ein engagierter Astronom anbietet, ist überfüllt; daher steht als nächstes ein wenig linke Lokalgeschichte auf dem Programm: Nach einem Film über die Mescalero-Affäre wird mit Mitgliedern des Göttinger Asta aus dem Jahre 1977 über einen damals inkriminierten Buback-Nachruf debattiert, Vergleiche zum heutigen politischen Klima werden gezogen und die heutigen Möglichkeiten linker Politik beleuchtet.

Noch nach Mitternacht zappeln 150 Verrückte auf dem hell erleuchteten Campus und versuchen, den rhythmischen Bewegungen der Aerobic- Lehrerin in der modischen Gymnastikhose zu folgen. Vorbei an den FeuerspuckerInnen, verspricht die Poetische Nacht des Vereins Literaturgesellschaft doch mehr Entspannung. Zwar wird die improvisierte Kaffeehausatmosphäre mit gedämpftem Licht und Kerzen ein wenig vom Getöse des im Nebenraum stattfindenden Fußballspiels geschmälert, doch das stört eigentlich niemanden. Über drei Stunden geben sich bis zu 100 Leute den Gedichten aus fast dreitausend Jahren Lyrik über Lust und Liebe hin. Wer nun zur besten Frühschichtzeit immer noch nicht schlafen kann oder will, schaut "Star Trek" auf Großleinwand oder chattet im Internet. Als in einer Pause der Lesung spätexpressionistischer Gedichte von Gottfried Benn und Heiner Müller der Öko-Referent des Asta beginnt, ein Fahrrad mit der Flex zu zerlegen und scheibchenweise dessen Anatomie zu erklären, ist endgültig Schluß mit lustig. Im Ruheraum wird der Schlafsack entrollt.

Am nächsten Morgen fällt auf, daß sich sehr viele bislang als unpolitisch oder desinteressiert verstehende Leute in Arbeitskreise verirren, die etwa Elemente aktiver Arbeitsmarktpolitik diskutieren oder die Wählbarkeit der Grünen in Frage stellen. Die Landtagsabgeordnete Heidi Lippmann-Kasten, die seit Jahren zum Thema Menschenrechte in der Türkei arbeitet, ist erfreut über den hohen Anteil von Uni-Externen und auch Erstsemestern im Publikum. Die bunte, teilweise kuschelige Atmosphäre kann weder über die Qualität noch die Menge inhaltlicher Veranstaltungen hinwegtäuschen. Angelehnt ist das Konzept an die Volksuniversität, die zum letzten Mal vor zwölf Jahren in Göttingen stattfand. Geblieben ist der Anspruch, das System Universität zu kritisieren und nach außen hin zu öffnen. Asta-Vorsitzende Silke van Dyk: "Die Wissenschaft hat großen Einfluß auf das Leben aller - Stichwort Wirtschaftspolitik -, daher kann es nicht angehen, daß sie der Kenntnis des Großteils der Bevölkerung entzogen bleibt. Sie ist nur kontrollierbar, wenn sie ein gesellschaftliches Gut ist."

Daß das Konzept, unnötiges ExpertInnentum zu vermeiden, zumindest teilweise aufgegangen ist, zeigt sich, als nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung ganze Seminare die Vortragsräume verlassen, um in der Cafeteria mit den ReferentInnen weiterzudiskutierten. Besonders erstaunt ist Silke van Dyk über die rege Teilnahme an "mainstreamfernen" sozialpolitischen Veranstaltungen: "Es kamen immer über 80 Leute, um über Neoliberalismus, die Geschichte der Börsencrashs oder die Europäische Währungsunion zu diskutieren." Längerfristig ist geplant, die Vernetzung der verschiedenen Stadtgruppen mit der Uni zu intensivieren. Erste Kontakte funktionieren bereits: In den letzten Wochen hat ein Bündnis gegen Sozialabbau gemeinsam Aktionen im Rahmen des Uni-Streiks organisiert. Der vorherrschenden Tendenz, den studentischen VertreterInnen - wie in Bremen geschehen - den Blick über den Tellerrand zu verbieten, soll durch weitere 48-Stunden-Unis Einhalt geboten werden.