Behindertenfeindlichkeit und die Debatte um Prothesen in der Leichtathletik

Zu schnell für die WM

In der Debatte um die Karbonbeine des behinderten südafrikanischen Läufers Oscar Pistorius trifft latente Behindertenfeindlichkeit auf emanzipatorische Potenziale.

Bei der diesjährigen Leichtathletik-WM in Berlin wurden die besten Sportlerinnen und Sportler präsen­tiert, die besten Werfer, die ausdauerndsten Kämpfer, die schnells­ten Läufer. Wer als schneller Läufer gilt, ist ein­fach festgestellt: Er wird an aktuellen Rekorden gemessen. Problematisch wird es, wenn jemand zu schnell ist. Dann kann etwas nicht stimmen.
Dies erfährt zurzeit auch Usain Bolt, dessen Höchstleistungen beim 100- und 200-Meter-Sprint sich einige Berichterstatter nur mit Doping erklären können. Anderen, aber auf ähnlich über­durchschnittlichen Leistungen beruhen­den Vor­behalten sieht sich Caster Semenya ausgesetzt, deren Goldmedaille über 800 Meter ihr erst dann sicher ist, wenn einwandfrei festgestellt wird, dass sie wirklich eine Frau ist. Das Wort Intersexualität fällt in der Berichterstattung noch zögerlich – wenn, dann ist es etwas, das man »hat«, wie Pocken oder Krebs. Dennoch hat der Fall das Potenzial, das selbstverständliche Denken über eindeutig zuordenbare Zwei­ge­schlecht­lichkeit zu irritieren.
Ähnliches gilt für den Läufer Oscar Pistorius. Er läuft Bestzeiten über 100, 200 und 400 Meter, wird nach eigener Aussage immer besser, was angesichts seines geringen Alters eine realistische Einschätzung ist, und hat bereits mehrere Weltrekorde gebrochen – im paralympischen Bereich. Seine Unterschenkel, die ihm beide im Alter von vier Jahren amputiert wurden, ersetzt er beim Laufsport durch Karbonschienen. Sein Ziel ist es, im nicht-behinderten Sport mitzulaufen. Für diese Leichtathletik-WM lag er bei der Qualifikation knapp drei Zehntel Sekunden über der erforderlichen Norm von 45,95 Sekunden auf 400 Meter, weil ihm wegen eines Bootsunfalls mehrere Wochen Trainingszeit fehlten. Dass er sich überhaupt an den Qualifikationsrunden beteiligen konnte, ist jedoch Ergebnis ei­nes Rechtsstreits. Der Leichtathletikweltverband IAAF, der auch die WM in Berlin ausrichtet, hatte Pistorius 2008 nicht zu den Olympischen Spielen zugelassen. Grundlage dafür bildete eine IAAF-Regel, die seit März 2007 Sprungfedern, Räder und andere technische Komponenten als unzulässige Hilfsmittel definiert. Umfangreiche Tests Anfang 2008 an der Kölner Sporthochschu­le hatten bescheinigt, dass die Karbonprothesen Pistorius einen Vorteil verschafften. Die Entscheidung wurde zwar einige Monate später vom Internationalen Sportgerichtshof CAS revidiert, nun aufgrund von Tests, die weitere nicht unwichtige Faktoren wie das Rennen in Kurven oder auf nassem Untergrund einbezogen. Aber für die Vorbereitung auf die Qualifizierung für die Olympischen Spiele 2008 war es für Pistorius zu spät, er lag weit über seinen eigenen Bestzeiten.
Doch Pistorius kommt es nicht unbedingt darauf an, auf Anhieb Gold im nicht-behinderten Sport zu holen. Vielmehr will er sich nicht als behindert einstufen lassen und kämpft somit ge­gen die kategorische Einteilung in behinderten und nicht-behinderten Sport, die sich bei näherer Betrachtung kaum als natürliche aufrechterhalten lässt. Die wichtige Errungenschaft für be­hinderte Sportler und Sportlerinnen, mit eigenen Bestzeiten auf eigenen Sportveranstaltungen gegeneinander anzutreten, geht mit der Notwen­digkeit einer Klassifikation von Behinderten und Nicht-Behinderten einher. Wer behindert ist, bestimmen die Nicht-Behinderten. Paralympics bedingen so gleichzeitig den Ausschluss behinderter Sportler aus dem, was als »normaler Sport« rezipiert wird, und nähren unweigerlich das behindertenfeindliche Bedürfnis nach Abschottung statt Inklusion.
Die Diskussionen um Pistorius gehen jedoch noch weiter als die unterschwellige Behindertenfeindlichkeit. Behindert zu sein, heißt im gän­gigen Verständnis, eingeschränkt zu sein, den Alltag weniger gut bewältigen zu können, schlech­tere sportliche Leistungen zu erbringen. Auch der wichtige Hinweis darauf, dass man nicht behindert ist, sondern von der spezifischen Verfasstheit der Gesellschaft behindert wird, fußt auf dieser Annahme. Die Vorwürfe gegen Pistorius stehen dem diametral entgegen: Er verschaffe sich einen Vorteil aus seinen Prothesen, er sei »too abled« statt »disabled« (New York Times), betreibe »Techno-Doping«. Pistorius ist schlicht zu schnell für einen Behinderten.
So mutet es absurd an, dass Pistorius selbst ge­zwungen ist, gegen diese Vorwürfe anzugehen. Er darf nur deshalb an den Qua­li­fi­ka­tions­ent­schei­den für die Olympiade teilnehmen, weil er nachgewiesen hat, dass seine Behinderung ihm keinen Vorteil verschafft. Er betont sportsgeistgemäß, dass er nicht teilnehmen wollen würde, wenn er tatsächlich Vorteile hätte. Seine Verteidiger weisen zu Recht darauf hin, dass zu Spitzensport weit mehr gehört als ein technisches Hilfsmittel: Ausdauer und Kraft müssten hart trainiert, selbst der Umgang mit den Prothesen müsse gelernt werden.
Die Auseinandersetzung scheint selbstverständliche Annahmen zu verdrehen. Zwar geht es zunächst klassisch um den Kampf um Inklusion, gegen eine Ausgrenzung aufgrund von Behinderung. Doch das Bild von Behinderung verändert sich, wenn der Dreh- und Angelpunkt vermeintliche Vorteile sind, wenn Prothesen nicht länger als Ersatz für »echte« Körperteile, sondern als leistungsverbessernde Hilfsmittel gesehen werden. Der Konstruktionscharakter dieser Abgrenzungen offenbart sich an der Diskussion über Techno-Doping noch deutlicher. Ab wann etwas als unzulässiges Hilfsmittel gilt, ist Gegenstand von Aushandlungsprozessen innerhalb des Paralleluniversums der Sportverbände und der Sportgerichtsbarkeit. Niemand würde heutzutage noch Brillen und Kontaktlinsen als unzulässige Verbesserung der körperlichen Fähigkeiten disqualifizieren. Ebenso, wie vor kurzem über ein Verbot der neuartigen Schwimmanzüge diskutiert wurde, weil sie leistungsverbessernd seien, wurde zuvor über Schwimmbrillen und Badekappen debattiert. Leis­tungsverbessernd sind jedoch auch Trainings, die Entwicklung effizienterer Körperbewegungen und eine Umstellung der Ernährung. So lässt sich nicht nur historisch eine tendenzielle Verbesserung von sportlichen Bestzeiten feststellen, sondern auch wissenschaftliche Prognosen über theoretisch menschlich mögliche Bestzeiten werden beständig nach unten korrigiert. Angesichts des Bestrebens im Spitzensport, immer besser und schneller zu werden, ist es nicht verwunderlich, dass regelmäßig neue Tech­niken gefunden und zugelassen werden, die das ermöglichen, seien sie körpereigen oder externe Hilfsmittel. Die Trennung in »normale« Körper und unzulässige Hilfsmittel ist insofern eine fal­sche, als es keine der Gesellschaft vorgängige, rein natürliche menschliche Normalität oder Na­tur gibt. Dass auch die erste Natur immer schon gesellschaftlich geformt ist, entgeht jedoch sowohl Sportfunktionären als auch der Berichterstattung.
Die Diskussion, die um Pistorius’ Karbonbeine geführt wird, gehört somit zunächst zu der gängigen Entwicklung im Leistungssport, auch wenn hier zusätzlich behindertenfeindliche Ambitionen Eingang finden können. Zu etwas Besonderem wird sie dadurch, dass sie das Potenzial hätte, das gängige Bild von Behinderung zu beeinflussen. Behinderung als andere Fähigkeit statt als pure Einschränkung und Hilfsbedürftigkeit zu fassen, könnte die Behinderten gesellschaftlich zugewiesene Rolle als Opfer verändern. Der Kampf um Anerkennung als Akteure, als fähige, gleichberechtigte Menschen, fän­de so Unterstützung. Würden jedoch Pistorius’ Verteidiger auf dieses emanzipatorische Potenzial hinweisen, würden sie damit seinen Kampf um Gleichbehandlung und um die Zulassung zu den Olympischen Spielen untergraben.
Wer behindert ist, soll gefälligst einen Nachteil davon haben, lautet der Subtext der Argumentation, die Pistorius von der Teilnahme an den Sportveranstaltungen Nicht-Behinderter ausschließen möchte. Ähnlich ist Caster Semenya gezwungen, auf ihrem weiblichen Geschlecht zu bestehen, unabhängig davon, wie sie sich selbst definieren will und entgegen der gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung von Uneindeutigkeit und Intersexualität. Das Paralleluniversum Sport lässt seinen Protagonisten gar keine andere Wahl, als eine Position einzunehmen, die in allen anderen Bereichen der Gesellschaft der Emanzipation entgegensteht.