Berlin, wie es keiner kennt

Rafael Seligmann sammelt Stilblüten und drischt Phrasen: "Der Musterjude"

Moische Bernstein, 40, unverheiratet, abgebrochenes Studium, Betreiber des elterlichen Jeansladens, Monatsgehalt 2 500 Mark: Ein Loser, wie er im Buch steht. Das Buch heißt "Der Musterjude" und erzählt vom kometenhaften Aufstieg seines traurigen Helden in die Höhen der deutschen Medienwelt. Der Aufstieg beginnt mit einem dümmlich-provokanten Essay zum Thema "Hitler", den Bernstein für ein Nachrichtenmagazin hingerotzt hat. Weil es ein Jude ist, der den neurechten Mist geschrieben hat, wird der Artikel zum nationalen Medienereignis und sein Autor ein Star.

Vom Kolumnisten steigt Moische rasch auf zum Chefredakteur eines Boulevardblatts. Auch privat hat er endlich Erfolg: Statt mit Schicksen oder einer fetten arbeitslosen Russin teilt er sein Bett jetzt mit einer wunderschönen jüdischen Millionenerbin. Doch der Erfolg steigt Bernstein zu Kopf. So rasch wie sein Aufstieg verläuft auch der Crash, den er selbstzerstörerisch selbst inszeniert. Zum Schluß ist Bernstein wieder da, wo er angefangen hat: Im Jeansladen und in den Klauen seiner jiddischen Mamme.

Soweit die Story. Allzu plausibel ist sie nicht. Aber das hat der Autor wohl auch nicht im Sinn gehabt. Seligmann hat eine Groteske schreiben wollen über jüdische Neurosen, deutschen Philosemitismus und die Medienbranche. Und Grotesken sind nun einmal keine realistische Literatur. Dem Autor deshalb vorzuwerfen, daß seine - jüdischen und nichtjüdischen - Figuren Karikaturen sind, daß es in keiner Redaktion der Welt so zugeht, wie er sich das ausgedacht hat, daß der Plot sich nicht entwickelt, sondern nachvollziehbar hüpft - das wäre unfair: Überzeichnung gehört zum Genre.

Vorwerfen aber kann man dem Autor etwas anderes: Daß er schlecht schreibt. Das Buch wimmelt nur so von Phrasen. Moische raucht nicht einfach, nein er "sog den Rauch tief in seine Lungen". Eine Kellnerin, mit der er flirtet, hat, wie könnt' es anders sein, den "Schalk in den Augen" und bewegt "sich mit kräftigen, doch geschmeidigen Schritten". Seine Verlobte fährt nicht bloß Auto, sondern "jagte ihren himmelblauen Jaguar über die Avus". Sätze, wie aus der Bäckerblume, oder um Seligmann selbst zu zitieren: "Er verzapfte Banalitäten."

Ähnlich kreativ ist Seligmann, wenn es um das Lokalkolorit geht. Ein Gutteil des Romans spielt in Berlin, einer Stadt, die der Autor offenbar nicht kennt. Deshalb behilft er sich damit, diverse Kneipen, Restaurants und Bars zu nennen, durch die sein Held zieht - in der Manier von Provinzlern, die, aus der Großstadt heimgekehrt, am Stammtisch damit prahlen, in welch tollen Lokalen sie gewesen sind.

Apropos prahlen: Viel Raum nehmen die sexuellen Aktivitäten des Helden ein, der nicht nur über eine für sein Alter ungewöhnliche Potenz verfügt, sondern auch, scheint's, unwiderstehlich ist. Nun gehören Bettszenen natürlich zu jedem ordentlichen Unterhaltungsroman. Die Libido des Lesers will angesprochen werden. Seligmanns Sex-Szenen allerdings kitzeln eher das Zwerchfell. Siehe diese Cunnilingus-Beschreibung: "Er hielt sich an den weichen Äpfeln ihres Gesäßes fest ... Er schmeckte die salzige Feuchtigkeit ihres Geschlechts ... Ihr Lustwürmchen fand wie von selbst seinen Weg zwischen seine Lippen." Na Mahlzeit!

Die Liste der Seligmannschen Stilblüten ließe sich noch lange fortsetzen. Doch es ist nicht alleine die Summe dieser einzelnen Peinlichkeiten, die den "Musterjuden" so miserabel macht. Das Buch ist insgesamt mißglückt. Hätte der Autor sich wirklich darauf beschränkt, eine Groteske in Sitcom-Manier zu schreiben, es hätte eine nette Urlaubsstrandlektüre dabei herauskommen können.

Doch Seligmann hält das Genre nicht durch. Gelegentlich versucht er sich in Realismus, der stilistisch allerdings eher an Schulaufsätze des Typs "Mein schönster Ferientag" gemahnt. Dann wieder führt er in Art eines Schlüsselromans dünn kaschierte Promis wie Michael Wolffsohn, Michel Friedmann oder Lea Rosh vor. Und zwischendurch fühlt Seligmann sich offenbar zu Höherem berufen und langweilt uns mit essayähnlichen Ergüssen über Gott und die Welt, Juden, Israel und die Schoa. (Wobei er gelegentlich seine Wissenslücken offenbart: Marx wird zum Erfinder beziehungsweise Entwickler des dialektischen Prinzips, weil Jude. Irrtum, Rafael, es war der Goj Hegel!)

Und immer wieder, wie schon in früheren seligmannschen Büchern kommt ein verzweifeltes Epigonentum zum Vorschein. Rafael Seligmann eifert ebenso offenkundig wie vergeblich einem großen Vorbild nach: Philip Roth und dessen "Portnoy's Complaint". Im Unterschied zu Seligmann jedoch besitzt Roth die Fähigkeit zur künstlerischen Distanz seinem Alter ego gegenüber, den ironischen Abstand, der die autobiographischen Elemente, die in seine Bücher einfließen, amüsant machen. Seligmann aber agiert bloß seine Obsessionen aus. Sein "Musterjude" liest sich wie der feuchte Traum eines Pubertierenden. Ein Portnoy für Arme.

Rafael Seligman: Der Musterjude. Claassen Verlag, Hildesheim 1997, 360 S., DM 39,80