Warten auf Dayton

Der US-Vermittler Holbrooke erreicht eine Einigung über die Telefonvorwahlen in Bosnien. Die Vertreibung von Flüchtlingen geht weiter

Kurz nach der Vertreibung von 500 muslimischen Rückkehrern aus der zentralbosnischen Stadt Jajce durch einige hundert Kroaten - wofür laut UN in Bosnien kroatische Behörden verantwortlich waren -, haben sich Mitte vergangener Woche die Präsidenten Kroatiens und Bosniens, Franjo Tudjman und Alija Izetbegovi«c, für die konsequente Umsetzung des Dayton-Abkommens und für einem Einheitsstaat in Bosnien ausgesprochen. Allen Flüchtlingen, so erklärten sie, stehe die uneingeschränkte Rückkehr offen. Am Abend zuvor waren in Jajce erneut sieben Häuser angezündet worden, in denen früher Moslems gewohnt hatten. In der Nacht auf Mittwoch hatten zudem Dutzende Kroaten mit lautem Protestgeschrei für einen Abbruch eines Treffens des Ausschusses für die Rückkehr der am Wochenende zuvor vertriebenen moslemischen Flüchtlinge gesorgt.

In einem Vorort von Sarajevo: Serben nicht die Täter, sondern Opfer - abgehalten von der Rückkehr in ihre alten Häuser durch Muslime. OSZE-Sprecher David Foley kommentierte die Vorfälle mit der eigenartigen Neukonstruktion eines Begriffs, der von den westlichen Staaten bis dahin vorwiegend für die serbische Seite reserviert war. "Wir können jetzt einen neuen Begriff, ethnische Wiedersäuberung, in das Wörterbuch des Schreckens in Bosnien-Herzegowina aufnehmen."

Washington, London und Bonn können nicht umhin, zumindest kurzfristig Abstand zu nehmen von einer Politik, die den Ex-Präsidenten der bosnischen Serben-Republik, Radovan Karadzÿi«c, als das größte Hindernis zum Frieden ansieht. Allein, die Umsetzung des Dayton-Abkommens leidet an einem zentralen Widerspruch: Das Ziel war erklärtermaßen ein gesamtbosnischer Einheitsstaat; im Dezember 1995 wurden jedoch zwei sogenannte Entitäten, die kroatisch-muslimische wie die serbische, völkerrechtlich verbindlich eingerichtet. Das Kalkül dabei: Sobald Kroaten und Muslime einen wirtschaftlich stabilen Staat aufgebaut hätten, bliebe der serbischen Republik Sprska nur der Anschluß an die Föderation - der bosnische Einheitsstaat wäre gerettet.

Doch nicht florierender Handel kennzeichnet die Verhältnisse in der muslimisch-kroatischen Föderation - die Vertreibung von Flüchtlingen und die Diskriminierung sogenannter ethnischer Minderheiten prägen das Bild. Blockadepolitik beider Seiten, der muslimischen wie der kroatischen, in den gemeinsamen Institutionen, Veruntreuung massiver Summen aus den Geldern für den Wiederaufbau, Kriminalität und Korruption sind an der Tagesordnung.

Bereits im Februar kursierte ein vertrauliches Papier im Bonner Auswärtigen Amt, das zwei Hauptfehler für die "erheblichen Defizite" beim schleppenden Wiederaubau Bosniens beklagt: "widerstreitende nationale Interessen" und "Rivalitäten zwischen den internationalen Finanzinstitutionen". Womöglich werde zuviel Geld in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen ins Land gepumpt - und zuwenig als Kredite. Vom Einmaleins staatlicher Entwicklungshilfe scheinbar völlig unbeleckt, konstatierten die Diplomaten aus Kinkels Sonderstab Bosnien: "Unentgeltliche Hilfe fördert nicht den sorgfältigen Umgang mit Geld."

Wohl wahr. Nach Schätzungen aus Sarajevo gehen bis zu 30 Prozent aller Zuschüsse durch Korruption verloren. Ein Grund dafür dürfte sein, daß die westlichen Geberländer seit Beginn des Krieges allein die bosnische Führung um Alija Izetbegovi«c als legitime Vertreter Bosniens betrachten. So war die bosnisch-muslimische Führungsclique Adressatin aller Spenden und Gelder, die nach Bosnien geflossen sind. Sowohl die serbische als auch die kroatische Seite widersetzten sich diesem Vorgehen immer wieder - jedoch ohne Erfolg. Bereits vor einem halben Jahr hatten die Sozialdemokraten aus Sarajevo kritisiert, "daß in Bosnien eine Mischung aus Chauvinisten und Mafiosi herrsche; aber niemand aus der Regierung hat seinerzeit Stellung zu diesem Vorwurf genommen" (zitiert nach Balkan Press Nr. 38). Als auch der britische Außenminister Robin Cook Ende Juli die Veruntreuung von Millionen durch die bosnische Regierung anprangerte, bezeichnete Izetbegovi«c die Vorwürfe als tendenziös, versprach jedoch, eine Untersuchungskommission einzurichten: als altbewährtes Mittel, die Wahrheit über die Verwendung der Mittel zu vertuschen, argwöhnt die kroatische Tageszeitung Vjesnik vom 30. Juli.

Aufschlußreich an den Berichten über die Korruptionsvorwürfe ist zudem, daß Außenminister Kinkel im Gegensatz zu seinem britischen Amtskollegen von unterschlagenen Geldern angeblich nichts weiß. Besteht Kinkel lediglich darauf, das Problem der Korruption wegen wichtigerer Dinge zu ignorieren, oder drängen da erneut deutsch-britische Rivalitäten an die Oberfläche, fragt Vjesnik.

Wenngleich der Dayton-Vertrag gerade mal anderthalb Jahre alt ist, beginnen die führenden Kräfte in Bosnien damit, ihre Uhren umzustellen: War bislang der Vertragsschluß von Dayton Dreh- und Angelpunkt der Zeitrechnung, ist es nun die Präsenz der US-Armee. Noch elf Monate, und das Mandat der US-amerikanischen SFOR-Truppen läuft aus. Zivile Hilfsorganisationen und die anderen Mächte der Bosnien-Kontaktgruppe (Rußland, Großbritannien, Frankreich, BRD) verfolgen nervös die jüngsten Entwicklungen in der Föderation. Konflikte auch zwischen den Nato-Partnern sind geradezu programmiert. Scharfe Kritik übten die USA bereits vergangene Woche am internationalen Chefkoordinator für die Friedenshilfe in Bosnien, dem Spanier Carlos Westendorp. Washington wünscht sich einen weitaus energischeren Statthalter der Europäer in Sarajewo, einen, der die bosnischen Politiker mit Zuckerbrot und Peitsche zur Zusammenarbeit zwingt.

In der US-Hauptsstadt verstärkt unterdessen der republikanisch dominierte US-Kongreß seinen Druck auf die Clinton-Administration, die Konfliktparteien in Bosnien zum gemeinsamen Handeln zu bewegen. Vorerst noch mit politischen Mitteln - offen halten sich die US-Strategen aber auch weiterhin eine militärische Option. Aus dieser innenpolitischen Notlage Clintons erklärt sich die jüngste politische Großoffensive der USA in den Hauptstädten des ehemaligen Jugoslawien. Unterstützt von den West-Europäern versuchen die USA, den brüchigen Vertrag von Dayton doch noch zu retten: Die Vertreter im bosnischen Staatspräsidium sollten dazu gebracht werden, gemeinsame Botschafter zu ernennen, sich auf eine gemeinsame Regelung der Staatsangehörigkeit zu einigen und eine gemeinsame Währung einzuführen. Der erste Erfolg des US-amerikanischen Balkan-Feuerlöschers Richard Holbrooke auf seiner jüngsten Mission in der vergangenen Woche war mager. Nach Verstreichen zweier Fristen einigten sich die drei Mitglieder im paritätisch besetzten bosnischen Staatspräsidium zwar auf die Ernennung gemeinsamer Botschafter. Auch im Streit um die Telefonvorwahlen für Bosnien fanden die drei Vertreter einen Kompromiß. Doch das, was den Konfliktschlichter Holbrooke eigentlich auf den Plan gerufen hatte - die Vertreibung tausender Rückkehrer innerhalb der kroatisch-muslimischen Föderation nämlich -, blieb ausgespart: Anderthalb Millionen Bosnier im In- und Ausland warten also weiter auf den Frieden von Dayton.