Der Meinungsfreiheit eine Gosse!

Die Protokolle der Rächer von Zion, oder Wie der Tagesspiegel einen Antisemiten schützt.

Nach den zaristischen Pogromen Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahrhunderts fragte ein besorgter Zeitgenosse in einer russischen Tageszeitung: "Den Pogrom haben die Juden weder erfunden noch betrieben. Aber wären sie dazu in der Lage? Die hypothetische Antwort muß lauten: Ja." Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß es schon damals Leute gab, die den Juden nicht verzeihen wollten, daß sie massakriert wurden - aber diese Anekdote ist frei erfunden.

Nicht erfunden hingegen ist, was ein um das deutsch-jüdische Verhältnis besorgter Zeitgenosse am vorvergangenen Freitag im Tagesspiegel schrieb. Sein programmatischer Kernsatz zur Endlösung der deutsch-jüdischen Versöhnungsfrage hieß: "Den industriellen Massenmord haben Juden weder erfunden noch betrieben. Aber wären sie dazu in der Lage? Eine widerliche Frage; die hypothetische Antwort muß lauten: Ja."

Was war geschehen, daß sich ein Redakteur zu einem derart flammenden Plädoyer für eine neue Gleichberechtigung von Deutschen und Juden hinreißen ließ? Auschwitz als Fluchtpunkt deutsch-jüdischer Egalität? Unter der Überschrift "Das Wasser auf den Mühlen der Lügner" kommentierte Thomas Lackmann die Entscheidung des Piper Verlags, das bereits fertiggestellte Buch "Auge um Auge - Opfer des Holocaust als Täter" von John Sack nicht auszuliefern. Der Verlag hatte erklärt, Sacks Buch könne Anlaß zu einem Mißverständnis bieten: nämlich zu der vom Autor mit einem sadistischen Politporno illustrierten wie vom Piper Verlag geteilten Auffassung, jüdische Überlebende der Massenvernichtung in Polen hätten die "Rolle ihrer Peiniger übernommen".

Einerseits über jedes Mißverständnis erhaben, schlummerte dieser Gedanke andererseits als Vorverständnis im Kopf eines Feuilleton-Redakteurs. Er wird deshalb die beklagte Zensur leicht verschmerzen. Er kennt das Buch nicht, aber schon längst dessen Botschaft: "Die Umstände", heißt es im Tagesspiegel über eines der Internierungslager in Polen, "unterschieden sich nicht vom Niveau eines Nazi-KZ." Irgendwann, wir werden es noch erfahren, muß also eine jüdische Wannsee-Konferenz stattgefunden haben. Bei dpa freilich war diese Vermutung schon zur sicheren Tatsachenfeststellung geworden. Die Agentur vermeldete den Rückzug des Piper Verlags unter der Überschrift: "Piper zieht Holocaust-Buch zurück".

Weder von der Sache selbst noch von der fraglichen Publikation hatte der Tagesspiegel-Kolumnist auch nur die geringste Kenntnis. Mehrere amerikanische Zeitschriften, unter ihnen The New Yorker, so berichtete Lackmann, hätten John Sacks Recherchen mit Vorschüssen finanziert, aber das Ergebnis dann abgelehnt zu drucken. Nur: The New Yorker hat nie etwas mit John Sack zu tun gehabt. Dort würde man einen Autor, dessen Ruf sich auf die Memoiren von Leutnant William Calley, des Killers von My Lai, gründet, nicht einmal mit dem Pförtner reden lassen. Als Sacks Bericht, so Lackmann weiter, schließlich als Buch unter dem Titel "An Eye for An Ey - The Untold Story of Jewish Revenge Against Germans in 1945" erschienen sei, "wurde er von den meisten Rezensenten ignoriert". In Deutschland haben derartige Auskünfte ihren besonderen Reiz, nicht erst seit Bitburg, als wieder öffentlich über den jüdischen Einfluß auf die amerikanische Presse räsoniert wurde. Gegen derlei hilft die Wahrheit wenig. Dennoch: Rezensionen, Kommentare oder Berichte über Sacks Buch erschienen in: New York Magazine, Daily News (New York), New York Times, The New York Observer, Los Angeles Times, San Francisco Chronicle, The Washington Post, The New Republic, The Nation, um nur die wichtigsten Zeitungen zu nennen.

Im Tagesspiegel ist offenbar keines dieser durchweg besseren Blätter bekannt. Man weiß nun, wie es auch kulturell um die vielbeschworene Westbindung bestellt ist: Sie reicht bis zum nächsten Kiosk in der Potsdamer Straße, denn dort gibt es die Zeit, in der vor einigen Monaten eine fünfseitige und John Sacks Bericht abgelauschte Infamie erschienen war. Aus ihr hat Lackmann abgeschrieben, was er seinen Lesern auftischte.

Wie damals die Zeit wurde nun auch der Tagesspiegel angesichts eines Buches, das Überlebende als SS-Doubletten schildert, von einer aus der neuen deutschen Selbstfindung bekannten Frage bedrängt. Waren die Opfer der Deutschen, die "Märtyrer auf dem Sockel", wirklich so unschuldig? Und sind die Überlebenden nicht so wie wir? Erst mit der Anverwandlung an Deutsche hat offenbar ein Ende, was Lackmann die "Ikonisierung der Opfer" nennt. Erst also, wenn man nicht nur die unermeßliche Unschuld der Opfer anzweifelt, sondern die in diesem bestimmten Zusammenhang entdeckte Übereinstimmung von Massenmördern und Überlebenden bekräftigt, erst dann erhält man die Antwort auf die Frage: "Sind etwa Juden Menschen wie du und ich?" Das hätte Thomas Lackmann gern.

Nach der Lektüre seines Textes wird Juden bestimmt die Frage immer noch egal sein, ob sie sich von den nichtjüdischen Mitbürgern unterscheiden. Andererseits muß man kein Jude sein, um Wert darauf zu legen, sich von Thomas Lackmann zu unterscheiden.

Aus freilich ganz anderen Gründen muß man bedauern daß der Verlag das Buch zurückgezogen hat. Hätte er es ausgeliefert, wäre der verdiente Schaden für den Verlag und der Unterhaltungsgewinn für die ...ffentlichkeit noch viel größer geworden. Denn amüsanter als der Einspruch eines Redakteurs, der der Meinungsfreiheit eine Gosse bahnen möchte, wäre doch die Neuauflage der beliebten Lichterketten gewesen. Sie hätten wieder einmal das Ansehen Deutschlands retten können. Mit leuchtenden Davidsternen und einer Rede des Bundespräsidenten, der nach den Alliierten nun auch den Juden verzeiht.

Erschienen in der Tageszeitung junge Welt am 20. Februar 1995