Geschrei mit einem Urenkel

Hörgeräte funktionierten bei Jürgen Kuczynski nie. Das kam seiner Art, mit Interviewern und manchen Fragen umzugehen, sehr entgegen

Du gehst immer um fünf Uhr nachmittags schlafen, warum?

Was?

Warum du immer so früh schlafen gehst.

Ich brauche zwölf bis vierzehn Stunden.

Und wieso trägst du immer Turnschuhe?

Wie?

Du hast immer Turnschuhe an!

Was?

Deine Schuhe.

Ach ja. Das sind die vornehmen Schuhe. Und das hier sind die anderen. (Er zeigt ein paar Kord-Pantoffeln.)

Warum Turnschuhe?

Ich mag andere Schuhe nicht. Diese sind viel bequemer, und in meinem Alter lebt man bequem.

Du lebst hier mit deiner Frau ...

... und 60 000 Büchern. Aber ich lese fast nur Zeitungen und Zeitschriften, deutsche, ausländische. Bücher lese ich kaum noch.

Ich habe einen Kollegen, der schreibt Artikel, aber liest nicht.

Ja, wofür soll er denn Bücher lesen?
Für einen Journalisten sind ganz andere Dinge wichtig. Ein Journalist braucht nicht gebildet zu sein. Sein Fach kennen, genügt völlig.Und man muß einfach schreiben.

Aber man muß Leser und Leserinnen doch auch fordern?

Ich bin gegen Komplikationen, aber ich bin nicht gegen Überraschendes. Das ist etwas anderes. Wenn du die Leute schockieren willst, bin ich hundertprozentig einverstanden. Aber das bedarf keiner Komplikation.

Du erzählst in deinem neuen Buch "Freunde und gute Bekannte", das im September erscheint, die Geschichte eines Satzes, der sich durch alle Texte zieht, die du für uns geschrieben hast. Nur, keiner weiß, wer ihn geschrieben hat, Marx oder Engels oder ...

"Vor der Menschheit steht die Alternative Sozialismus oder Barbarei." Ja. Diese Geschichte ist zugleich die Geschichte eines großen historischen Fehlers, den ich begangen habe. Sie begann für mich 1920, während des Kapp-Putsches. Damals fürchteten viele Linke um ihr Leben, unter anderem auch Karl Kautsky - der ist dir doch ein Begriff?

Am zweiten Tag des Putsches sagte meine Mutter meinem Vater, Karl Kautsky sei bei ihrer besten Freundin illegal untergekommen. Ich besuchte ihn dort. Kautsky war ganz rührend zu dem 15jährigen Jungen und erzählte ihm viel von Marx und Engels. Und auch, daß Marx gesagt habe - das hat es nie schriftlich oder gedruckt gegeben -, daß die Menschheit vor der Alternative Sozialismus oder Barbarei stehe, und sicher gewesen sei, daß der Sozialismus siegen würde. Und dann hob Kautsky seine Hand, und sagte: "Mein Junge: Du mußt lernen, dort, wo die Wissenschaft aufhört, glauben zu können wie die alten Juden, die Christen und die Mohammedaner."

Elf Jahre später, 1931, war ich ein kleiner Funktionär der KPD, Wirtschaftsredakteur bei der Roten Fahne und las die "Junius-Broschüre" von Rosa. Und da wird dieser Satz Engels zugeschrieben. Rosa hat ja weder Marx noch Engels gekannt, und ich fragte eine Reihe derer, die sie noch gekannt hatten, woher die Information stamme. Der einzige, der mir hätte helfen können, war Eduard Bernstein - ein Sozialdemokrat. Und die Sozialdemokraten waren damals Sozialfaschisten. Und Verbrecher, Verräter. Und wie sollte ich als kommunistischer Funktionär zu diesem Bernstein gehen? Ich quälte mich, bis ich nach einem Jahr entschied, ich würde dem Genossen Ernst Thälmann einen Brief schreiben, daß wir doch wissen müßten, wer nun diesen historischen Satz gesagt habe. Und daß ich deswegen Bernstein aufsuchen würde. An dem Tag, als ich den Brief schrieb, ist Bernstein gestorben.

Das heißt: Wegen dieses lächerlichen kleinen parteitreuen Funktionärs voll antimarxistischer Ideen - denn Marx hätte nie zugelassen, wie wir die Sozialdemokraten behandelten - wissen wir nicht, ob Marx oder Engels der Urheber war. Du verstehst, daß ich das für die größte Dummheit halte, die ich je in meinem Leben überhaupt begehen konnte.

Du warst damals fünfzehn. Kannst du verstehen, was heute die Fünfzehnjährigen so anstellen?

Nicht die Nazis. Aber daß die Jugend nicht angezogen ist von politischen Parteien, das kann ich verstehen.

Warum finden Jugendliche es attraktiv, Nazi zu sein?

Wegen der Vergangenheit. Die ist für Jugendliche reizvoll. Die Nazis hatten das Volk hinter sich, sie spielten vor der Welt eine Rolle. Die falsche natürlich, darüber muß man nicht diskutieren. Das beeindruckt Jugendliche. Deutschland an erster Stelle.

Und wie ist das mit den Linken?

Es ist ganz erschreckend, zu sehen, wieviele Jugendliche etwa die PDS wählen, aber nicht eintreten. Es fehlt die Begeisterung. Sie wählen die PDS aus Verachtung für die SPD und die Grünen. Positiv für die PDS ist das nur bei den Wahlen, und meistens sind ja keine Wahlen.

Aber Jugendliche begeistern sich doch durchaus, für Pop-Gruppen zum Beispiel.

Aber nicht für Politik. Jugend ist immer begeistert. Und Kapitalismus ist die Verführung. Da brauchst du dir nur die Medien anzuschauen.

Aber die Medien bilden doch auch nur Gesellschaft ab.

Aber gleichzeitig formen sie die Gesellschaft. Zum Beispiel, wenn man sieht, welche Rolle Sex spielt. Oder Abenteuer.

Siehst du noch fern, ab und zu?

Nein. Nicht mehr. Ich lese Zeitungen.

Du bist Mitglied der PDS ...

Mein Vater war ein linker Bürger, der in der Weimarer Republik die Kommunisten wählte, weil das die am wenigsten unangenehme Partei sei. Seine Kinder haben verstanden, daß man Mitglied einer Partei sein muß. Auch ich bin heute Mitglied der PDS. Aber nicht, weil ich begeistert bin. Ich gehe nicht soweit wie mein Vater, daß es die am wenigsten unangenehme Partei ist, aber sie ist eine schwache Partei. Sie hat kaum Arbeiter als Mitglieder, genau wie die DKP. Sie ist gut in der kommunalen Arbeit, sie versagt völlig den Arbeitslosen gegenüber, sie versagt völlig in der Mobilisierung der Bevölkerung.

Wo gibt es mal wenigstens Hunderttausend, die demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit, gegen Obdachlosigkeit?

Die Partei war allerdings sehr vernünftig in der Frage der Tolerierung des Bündnisses zwischen Sozialdemokraten und Grünen. Eine kluge Politik. Aber sie hat nicht daraus die Lehren gezogen zur Mobilisierung der Massen.

Sie hat auch kluge Leute. Gysi ist für mich der größte Taktiker in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aber ohne jede Ahnung von Strategie. Bisky ist einer der anständigsten Menschen, die ich an der Spitze einer Partei kenne, Modrow ist wirklich eine wundervolle Gestalt, aber er reißt nicht hin.

Du lebst hier mit 60 000 Büchern ...

... und meiner Frau Marguerite. Die wohnt im Keller, und ich gehe jede Stunde runter. Sie kommt nicht rauf, nur wenn die Magnolien blühen. Für die Blüten kommt sie jedes Jahr nach oben.

Wann habt ihr euch kennengelernt?

Am 18. September 1926, um zwei Minuten nach acht, und geheiratet haben wir 1928. Wir sind also 69 Jahre verheiratet.

Muß man verheiratet sein?

Nein, warum?

Du hast nie Zweifel gehabt?

Nein. Ich kann mir denken, daß sie mal Zweifel gehabt hat, aber ich habe nie gezweifelt.

Warum könnte sie gezweifelt haben?

Ich bin kein bequemer Mensch. Wir sehen uns beim Frühstück, und nachmittags gehe ich alle Stunde runter zu ihr. Ich bin schwerhörig, eine Unterhaltung ist schwer für sie. Nein, ich wünschte, sie hätte einen besseren Mann in ihrem Alter als mich. Sie kümmert sich um den Haushalt. Und sie liest ein wenig, von mir allerdings nur die wöchentliche Kolumne für euch. Sie hat sehr schlechte Augen, aber sie hat sehr gute Lupen.

Und sie kritisiert dich?

Ja, sie ist ja auch Wirtschaftswissenschaftlerin und hat unter anderem eine der Marxschen Frühschriften mit seinen nachträglichen Anmerkungen entdeckt.

Habt ihr auch zusammengearbeitet?

Ja, als wir jung waren, haben wir zusammengearbeitet. Dann kamen die Kinder. Sie ging erst ans DDR-Außenwirtschaftsministerium und dann zum Institut für Marxismus-Leninismus. Dort war sie aber unter die Dogmatiker gefallen. Eine Zeitlang hat sie das ertragen, dann ist sie gegangen.

In deinen Kolumnen fehlen Scherze.

Bisweilen, ja.

Du hast aber früher ziemlich viele Scherze gemacht.

Das ist richtig. Ich war sogar neben Egon Erwin Kisch der größte Schüttelreimer der Partei. Meine waren allerdings viel komplizierter als seine, zum Beispiel dieser hier: "Und das süße Wickelkind/macht mit seinem Kickel Wind." Weißt du, was ein Kickel ist? Natürlich nicht, weil es das Wort gar nicht gibt. Aber jeder glaubt, es zu wissen, jedenfalls hat mich nie jemand gefragt, was das sein könnte. Die Kehle, der Po? Dir ist also aufgefallen, daß ich früher mehr Scherze gemacht habe?

Ja.

Ich werde dran denken. Kennst du übrigens meine Glosse, in der ich der Frage nachgegangen bin, ob die Wertzuwachssteuer auf Krematoriumsprodukte, also Asche, vom Standpunkt der Politischen Ökonomie aus berechtigt sei?

Nein ...

Die mußt du lesen!

In 200 Jahren, hast du geschrieben, werden wir den Sozialismus haben ...

Nein - dann wird er vollendet sein. Und das ist ein großer Unterschied.

Im Augenblick reden nur Verrückte vom Sozialismus, wir zum Beispiel.

Das ist richtig, aber du wirst ihn noch erleben.

Hey, wann geht es wieder los?

Vielleicht in zwanzig, dreißig Jahren. Aber solche Dinge kann man nie wissen. Man muß sich überraschen lassen.

Das Gespräch mit Jürgen Kuczynski führte der Autor im April 1997