Gelehrter und Kommunist

Eine Erinnerung an Jürgen Kuczynski.

Nun ist Jürgen Kuczynski, wenige Wochen vor seinem 93. Geburtstag, in seinem Haus in Berlin-Weißensee gestorben. Er hat ein gewaltiges, im einzelnen kaum überschaubares wissenschaftlich-literarisches Erbe hinterlassen. Insbesondere die vielbändigen Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiter in den westlichen kapitalistischen Ländern, zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, zur Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, zur Wissenschaftsgeschichte werden wegen ihres Reichtums an historischem Material, an Statistiken, an originellen Fragestellungen auch künftiger Generationen von Wissenschaftlern und Linken von größtem Nutzen sein. In der alten Bundesrepublik wie auch in anderen westlichen Ländern ist von keinem Historiker oder historischem Institut eine vergleichbare Analyse über Löhne, Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse, Nahrungsmittel, Alltags- und Familienverhältnisse der arbeitenden Menschen vorgelegt worden - dies alles hat den akademischen Betrieb jahrzehntelang nicht gekümmert.

Kuczynski wußte, daß unterhalb des Proletariats noch zahlreiche weitere Lebensformen existieren - Pauperisierte, Arbeits- und Obdachlose, Gelegenheitsarbeiter, Kranke - die, weil sie kaum jemals schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, von der traditionellen Geschichtsschreibung ebenfalls links liegen gelassen worden sind. Im Jahr 1984 erschienen im Berliner Verlag Der Morgen auch auf Anregung

Kuczynskis hin die 1947 geschriebenen Lebenserinnerungen von Valerie Radtke (der "Große Brief"), ein einzigartiges Lebens- und Überlebenszeugnis einer über Jahrzehnte in größter Armut lebenden Frau. So hat Kuczynski im Verlauf seines langen Gelehrtenlebens immer wieder auf entlegene, vom wissenschaftlichen Mainstream unbeachtete Fragestellungen und Quellenstränge hingewiesen. Er hat weit über 100 Bücher und mehrere tausend wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben, von denen viele in andere Sprachen - sogar ins Chinesische und Japanische - übersetzt worden sind. Mit welchen Arbeitstechniken er dies alles - ohne Hilfe eines großen personellen und technischen Apparats und ohne Computer - bewerkstelligt hat, ist eines seiner Geheimnisse. Vielleicht war die Verbindung von hoher Arbeitsdisziplin und Freude am Entdecken, am schriftlichen und mündlichen Formulieren, am Gedankenaustausch die Quelle seiner Produktivität. Nicht die Askese eines isoliert lebenden Forschers, sondern die Hinwendung zum Leben, seinen Widersprüchen und Hoffnungen.

Im vierten Band seiner "Studie zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften" zitiert Kuczynski eine Bemerkung Goethes über eine Begegnung mit Alexander von Humboldt Ende 1826: "Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Rohren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt." Diese Worte geben etwas von dem Eindruck wieder, den Kuczynski bei vielen seiner Gesprächspartner hinterlassen hat.

Aber im Unterschied zu dem seinem Selbstverständnis nach "unpolitischen", faktisch aber meist konservativen und staatstragenden klassischen deutschen Gelehrten verstand sich Kuczynski bereits in den zwanziger Jahren als homo politicus und Kommunist. Er teilte die Hoffnungen der linken Intelligenz auf eine sozialistische Transformation der Weimarer Republik, auf Erfolge im antifaschistischen Widerstandskampf nach 1933, auf sozialistische Fortschritte in der UdSSR, der DDR und anderen Ländern, die sich aus dem imperialistischen Weltzusammenhang lösen wollten, auf Erfolge der internationalen Friedensbewegung gegen die nukleare Hochrüstung. Eine politische Karriere in der DDR zerschlug sich in den fünfziger Jahren - die Machtapparatur der SED-Spitze und wohl auch die antisemitische Kampagne der späten Stalin-Jahre in der UdSSR blockierten sie. Das war günstig für die wissenschaftliche Produktivität: die Hauptwerke konnten so, in relativer Distanz zur Macht, geschaffen werden. Die Kapitalismus- und Konjunkturanalysen Kuczynskis (welche die Krisen- und Zusammenbruchstendenzen des Kapitalismus oftmals überzeichneten und seine soziale Integrationskraft unterschätzten) wurden von der Partei und Staatsführung geschätzt und gerne übernommen, was die wissenschaftlichen Freiräume für Kuczynski, sein Akademie-Institut für Wirtschaftsgeschichte und für seine Schüler vergrößerte. Gegen Ende der DDR wurde die Distanz zum politischen Immobilismus ihrer Führung und die Hoffnung auf eine Reformfähigkeit des Systems geringer. Gleichwohl wird die Plötzlichkeit der Implosion der DDR auch Kuczynski, der in vielen seiner Arbeiten dem "Zickzack der Geschichte" nachgespürt hat, erstaunt haben.

Der Wende folgte die Abwicklung. Kuczynski mußte sehen, wie die Wissenschaftsinstitutionen, Bibliotheken, Verlage, Zeitungen und Zeitschriften, für die er jahrzehntelang gearbeitet hatte, in rascher Folge aufgelöst wurden. Zahlreiche Mitarbeiter und Schüler wurden in die Arbeitslosigkeit geschickt. Nur selten hat es in der europäischen Geschichte eine Zerstörung von Wissenschaft in diesem Ausmaß gegeben.

Die letzten Lebensjahre nutzte

Kuczynski zu Reflexion und Überprüfung der Theorien über die Abfolge von Gesellschaftsformationen sowie zur Fortsetzung seiner Wirtschafts- und Konjunkturanalysen, die in kleinen linken Zeitungen erschienen. Er setzte seine umfangreiche Vortragstätigkeit fort - Kuczynski gehörte zu den wenigen Marxisten in der Welt, die immer noch vor vollen Sälen und großen Auditorien sprachen und deren Argumente Anklang fanden. Ebenso fortgesetzt wurden seine umfangreichen Korrespondenzen, seine Antworten auf Fragen, die ihn auch von ganz Fernstehenden - gerade auch aus den sogenannten nicht-akademischen Bereichen - erreichten. Seine berühmten ein- bis zweizeiligen Kurzbriefe waren oft Zeichen der Ermutigung. Kuczynski arbeitete regelmäßig im Rat der Alten der PDS mit.

Er sah wachsende Zeichen von Barbarei in den Zentren des Kapitalismus - Dauerarbeitslosigkeit, Verelendung, Brutalisierung und Entzivilisierung des Alltagslebens, Polarisierung von Arm und Reich, ökologische Zerstörungen. Die Krisen der Ersten und der Dritten Welt würden sich wechselseitig durchdringen und überlagern. Der Marxist behielt aber die Hoffnung und den Glauben - nicht die Gewißheit -, daß langfristig ein neues Bündnis von Arbeit und Intelligenz Barrieren gegen die Barbarisierung wird errichten können. Am Schluß seines zuletzt erschienenen Buches: "Was wird aus unserer Welt? Betrachtungen eines Wirtschaftswissenschaftlers" schrieb Jürgen Kuczynski: "Es fragt sich also: Wer soll den völligen Verfall des Kapitalismus in die Barbarei aufhalten? Wer soll den Lauf der Geschichte ändern und ihn auf eine sozialistische Gesellschaft richten? Ich glaube an den letztlich richtigen Instinkt von Arbeitern, Angestellten und Intelligenz. Es wird das ausgebeutete Volk, das zu stets wachsender Arbeitslosigkeit, ob Arbeiter oder Angestellter, verdammt ist, im Bündnis mit der linken und humanitären Intelligenz, sein, das die Wendung bringt, das uns vor dem Verfall in völlige Barbarei retten wird. Es wird das Volk sein, das eine sozialistische Gesellschaft aufbauen wird, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und in wunderbarer materieller und geistiger Blüte."