Die Pannenserie der Berliner S-Bahn

Es fährt kein Zug nach Irgendwo

Seit Juli fördert die Berliner S-Bahn das kreative Potenzial ihrer Kunden, zum Beispiel in den Disziplinen Fahrplananalyse oder Schöner Warten. Räder kaputt, Bremsen defekt, und ein Ende der Pannenserie ist erst mal nicht absehbar, meinen die Verantwortlichen.

»Ich geb’ auf!« Ein Mann wendet sich von dem Notfahrplan ab, der im Berliner S-Bahnhof Oranienburger Straße aushängt. Der Plan wurde überaus klein ausgedruckt, die unübersichtlichen Zahlenkolonnen könnten Abfahrtszeiten sein, aber auch irgendwelche komplexen Algorithmen. Ohnehin gilt: »Alle Angaben ohne Gewähr.«
Auf einer Bank wartet eine Frau auf einen Zug. Ob ihr vor der Fahrt nicht mulmig ist? Im Mai entgleiste eine S-Bahn wegen eines Achsenschadens. Die S-Bahn Berlin GmbH – nach eigenen Angaben »Ihr Nahverkehrs-Dienstleister in Berlin« – hatte es mit der Wartung nicht allzu genau genommen. Nach dem Unfall mussten dann etwa 4 000 Radsätze an den Zügen ausgetauscht werden, die Fahrgäste durften sich deshalb schon im Juli darin üben, Notfahrpläne zu entziffern.
Nun ist dem Unternehmen aufgefallen, dass die Bremszylinder der Fahrzeuge auch nicht im besten Zustand sind. Drei Viertel der Züge sind deshalb nicht in Betrieb, 23 Bahnhöfe geschlossen, auf der West-Ost-Verbindung im Stadtzentrum fährt überhaupt keine Bahn. Die wartende Frau nimmt das alles mit Gleichmut hin: »Irgendwie muss ich ja nach Hause kommen. Und nach den Rädern und den Bremsen kann es doch nicht mehr so schlimm kommen.«
Wenn die Frau wüsste! Ulrich Homburg, Vorstandsmitglied im Ressort Personennahverkehr der Deutschen Bahn (DB), ließ zur Lage der Ber­liner Tochtergesellschaft in der Presse verlauten: »Wir können nicht ausschließen, dass es andere Defekte bei Fahrzeugen gibt, die wir heute noch nicht kennen.« Es können also der Menschheit bisher noch unbekannte Mängel auftreten. Das wäre kein Wunder: Die DB und die von ihr beauftragten Manager haben die Tochtergesellschaft in den vergangenen Jahren recht drastischen Maßnahmen unterzogen.
Im Jahr 2004 beschloss die DB-Geschäftsleitung, ihren Konzern an die Börse zu bringen. Auch die Bilanzen der Berliner S-Bahn mussten sich entsprechend sehen lassen. So wurden dem Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, Hans Werner Franz, zufolge seither drei von sieben Werkstätten geschlossen und etwa 100 Wagen verkauft, die nun als Ersatz fehlen. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich um etwa ein Viertel verringert. Wo das Sparen und das Drangsalieren der Beschäftigten nicht ausreichten, hat man anderweitig nachgeholfen: Werkstattprotokolle sollen gefälscht worden sein, um die ausgebliebene Wartung zu vertuschen. Gegen die vier früheren, mittlerweile ihrer Ämter enthobenen Geschäftsführer der S-Bahn wird wegen »Gefährdung des Bahnverkehrs« ermittelt.
Die Vorgänge taugen im derzeitigen Wahlkampf gut dazu, sich öffentlich zu empören. Das Bundesverkehrsministerium schimpft über die »Politik der Bahn«. Der SPD-Verkehrsexperte Christian Gaebler sieht »die Schuld für das Chaos vor allem bei der Deutschen Bahn«. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), lässt seinen Sprecher über den »Saustall« wettern. Dass sich gerade SPD-Politiker so hervortun, ist amüsant. Von ihrem Parteikollegen, Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, war bisher wenig Einspruch gegen das Geschäftsgebaren der Bahn zu hören.
Zudem lässt Wowereit wissen: »Wir haben der Bahnprivatisierung immer kritisch gegenübergestanden.« Die populistischen Worte sind allerdings nicht mehr ganz zeitgemäß. Die Teilprivatisierung der Bahn, und somit auch der Berliner S-Bahn, wurde Anfang des Jahres ohnehin bis auf weiteres verschoben – angesichts der Krise ist eher der Staatskapitalismus wieder en vogue. Und so zeigt das Desaster der Berliner S-Bahn: Um ein Nahverkehrsnetz verkommen zu lassen, bedarf es gar nicht erst der Privatisierung. Die Deutsche Bahn, ein Staatskonzern, dem es da­rum geht, »stark auf dem Weltmarkt« zu sein, schafft das auch so.