Ida Dominijanni im Gespräch über die Sex-Skandale um Berlusconi im postpatriarchalen Zeitalter

»Es gibt Anzeichen für Berlusconis Ende«

Ida Dominijanni unterrichtet politische Philosophie an der Universität Roma Tre, ist Mitglied der feministischen Philosophinnengemeinschaft Diotima und Journalistin der linken Tageszeitung il manifesto. Sie analysiert aus feministischer Sicht die Skandalgeschichten des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und verweist auf die gesellschafts- und geschlechterpolitische Bedeutung seiner vermeintlichen Privatangelegenheiten.

Sie möchten, dass über Berlusconis Privatleben öffentlich diskutiert wird. Warum?

Berlusconi hat sein Privatleben als politischen Werbespot verkauft, er hat seine politische Karriere auf dem Bild vom erfolgreichen Unternehmer, perfekten Ehemann und Familienvater aufgebaut. Deshalb kann er jetzt nicht davon ausgehen, dass sein Privatleben plötzlich nicht mehr zählt.
In der Geschichte des modernen Staates ist die Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit an den Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Bereich gebunden. Nachdem im vergangenen Jahrhundert diese Trennung aufgebrochen wurde und sich die Frauen Zutritt zur Öffentlichkeit verschafft haben, ergibt die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem keinen Sinn mehr. Die Frauenbewegung der siebziger Jahre ist mit der Behauptung, »das Persönliche ist politisch«, noch weiter gegangen. Der Feminismus wollte das Persönliche politisieren, Berlusconi dagegen hat die Politik privatisiert.

Deshalb ist nun auch sein Sexualleben von politischem Interesse?

Es handelt sich hier nicht um einen Sexgate-Skandal. Berlusconis Noch-Ehefrau Veronica Lario hat die Trennung von ihrem Mann von Anfang an politisch begründet. Es geht um das von Berlusconi eingerichtete Tauschsystem aus Sex, Macht und Geld und nicht darum, dass der Ministerpräsident Sex hat.

Auf internationaler Bühne ist Berlusconi für seine Eskapaden bekannt, man lacht über ihn, aber auch mit ihm. Werden seine Machenschaften unterschätzt?

Sie werden nicht unterschätzt, aber sie werden verzerrt dargestellt. Berlusconi hat nicht nur dieses System konstruiert, sondern auch eine Fiktion erfunden. Darin spielt er die Rolle des traditionellen Mannes, indem er auf die italienische Karikatur des Latin Lover zurückgreift. Doch die Fiktion vom »echten Mann« ist tatsächlich nur eine Darstellung. Wir erleben nicht glanzvolle Tage des Patriarchats, sondern seinen Niedergang. Berlusconi reagiert mit seiner Inszenierung auf die veränderten gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse.

Könnten Sie genauer erklären, inwiefern die Skandalgeschichten Berlusconis post-patriarchale Züge zeigen?

Als Patriarchat bezeichnen wir eine soziale und symbolische Ordnung, die sich auf die männliche Vorherrschaft und das weibliche Einverständnis oder Schweigen stützt. Der Feminismus hat diese Ordnung zum Einsturz gebracht. Es gibt zwar immer wieder Rückschläge, die Entwicklung verläuft nicht linear, doch was wiederkehrt, kommt in Form des Postpatriarchats zurück, und auf diesen subtilen Unterschied kommt es an. Das alte patriarchale System gibt es nicht mehr, stattdessen haben wir es offenbar mit einem hyperpatriarchalen System zu tun. Wir haben den Herrn und seinen Harem, er besitzt Fernsehkanäle, auf denen Programme laufen, in denen er Frauen wie Schlachtvieh vorführen lässt. Doch man darf Berlusconis Fernsehwelt nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Die Fiktion wirkt performativ, die Wirklichkeit wird von ihr beeinflusst, aber sie ist nicht mit ihr identisch.

Viele junge Frauen identifizieren sich jedoch mit den Protagonistinnen der Fiktion. Ist das für eine Feministin nicht befremdlich?

Sicherlich, nur muss man sehen, dass es auch innerhalb dieser fiktiven Welt keine traditionelle Rollenverteilung mehr gibt. Es geht hier nicht um den dominierenden Mann und die unterdrückten Frauen. Auf der einen Seite gibt es die Maskerade des echten Mannes, doch in Wirklichkeit hat Berlusconi die Maske der Männlichkeit ja sehr verweiblicht. Er hat sich liften lassen, er bewegt sich wie eine Diva. Im Zusammenhang mit seiner populistischen Politik habe ich einmal scherzhaft behauptet, Berlusconi könne man eher mit Evita Peron vergleichen als mit ihrem Ehemann. Andererseits gibt es die Frauen, seine vermeintlichen Komplizinnen, die ihre Position nicht passiv erdulden, sondern aushandeln. Als die »Begleiterinnen« nicht bekamen, was ihnen versprochen wurde, haben sie gegen Berlusconi rebelliert, sie haben ihn öffentlich durch den Dreck gezogen.

Berlusconis Zorn richtet sich derzeit vor allem gegen die Presse, insbesondere gegen die Tageszeitung La Repubblica. Hat das linksliberale Blatt damit die führende Oppositionsrolle übernommen?

La Repubblica kommt das Verdienst zu, von Anfang an verstanden zu haben, dass das Austauschsystem Sex – Macht – Geld eine Angelegenheit von öffentlichem und politischem Interesse ist. Die Zeitung hat natürlich eine ausgesprochen liberaldemokratische Ausrichtung, sie attackiert Berlusconi also aus liberaldemokratischer Sicht.

Welchen Sinn hat es, Berlusconi vorzuwerfen, er halte sich nicht an die demokratische Etikette, wenn es doch gerade zu seinem Programm gehört, die demokratischen Institutionen auszuhebeln?

Das ist ein weitreichendes Problem, es betrifft die so genannte demokratische Religion. Nach dem Fall der Berliner Mauer ist die bürgerliche Demokratie auch für die Linke zum einzigen politisch-theoretischen Horizont geworden, obwohl diese sich in den letzten 20 Jahren überall deformiert hat. Angesichts dieser Entwicklung macht man es sich zu einfach, nur Berlusconi zu skandalisieren, er steht nicht für eine Rückständigkeit der italienischen Demokratie, im Gegenteil, er fügt sich perfekt in den internationalen Trend der Demontage der konstitutionellen Demokratien.

Welche Reaktion gibt es auf diese Deformation der Demokratie?

Einige sagen, wir müssen der Degeneration Einhalt gebieten und die demokratische Orthodoxie wiederherstellen. Das ist die Position von La Repubblica. Andere, ich gehöre auch zu ihnen, sagen stattdessen, die Demokratie führt offensichtlich leider auch zu diesen Ergebnissen, nämlich zu plebiszitären Bewegungen, zu sozialem Konformismus, zur Entpolitisierung, und vielleicht sollte man deshalb wieder anfangen, über den bestehenden demokratischen Horizont hinaus zu denken. Das ist eine Debatte, für die der Fall Berlusconi zwar symptomatisch ist, die aber auch in anderen Ländern geführt wird, insbesondere in Frankreich.

Die linken Parteien haben auf die Skandalgeschichten sehr zurückhaltend reagiert. Haben sie dem System Berlusconi nichts mehr entgegenzusetzen?

Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Die italienische Linke kennt das Phänomen Berlusconi sehr gut. Wir wissen, wie er an die Macht kam, dass er die verfassungsmäßige Ordnung stürzen will und den Anspruch auf die absolute Macht erhebt, die per Plebiszit legitimiert werden soll. Wir wissen auch, wie ihm mittels seiner Massenmedien die Besetzung des kollektiven Imaginären gelang. Dennoch ist offensichtlich, dass wir ihn nie richtig ins Visier bekommen haben. Wir haben ihn immer entweder unterschätzt oder zu einem unüberwind­baren Feindbild aufgebaut. Es hat ganz klar an der richtigen und präzisen Einstellung gegen ihn gefehlt.

Berlusconis Auftritte werden immer absurder. Kommt in dieser Eskalation von Androhungen seine zunehmende Schwäche zum Ausdruck?

Bereits nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten habe ich die Prognose von Berlusconis bevorstehendem Niedergang gewagt, denn dieser Sieg markiert das historische Ende einer für ihn günstigen internationalen Ausgangslage. Berlusconi fügte sich perfekt in die Ära Bush, die amerikanische neokonservative Rechte gab ihm einen starken kulturellen und politischen Rückhalt. Dazu kommt nun die Aufdeckung der Skandalgeschichten, denen deshalb eine so weitreichende Bedeutung zukommt, weil die Bombe innerhalb seines eigenen Systems hochgegangen ist. Diejenigen, die sie gezündet haben, zuerst seine Frau, später die Prostituierten, standen ihm sehr nahe. Es gibt also deutliche Anzeichen für sein Ende.

Andererseits hat er bei den Europa-Wahlen im Juni kaum Verluste einstecken müssen. Ist der Konsens für ihn also weiterhin ungebrochen?

Ich würde einen gesellschaftlichen Umschwung nicht allein an Wahlergebnissen festmachen, es ist offensichtlich, dass er durch diese Geschichte viel von seiner Glaubwürdigkeit verloren hat. Wahr ist aber auch, dass er durch die von ihm inszenierte Fiktion von Virilität vor allem auf einen männlichen Konsens bauen kann.

Über das Einverständnis der Männer wird geschwiegen, die Frauen werden stattdessen der Komplizenschaft beschuldigt. Wie kommt es zu dieser Verkehrung der Tatsachen?

Das ist das Seltsamste an der aktuellen Debatte. Die Frauen sollen schuld sein, dabei basiert der Konsens hauptsächlich auf der männlichen Identifikation mit Berlusconi. Wer sich über das Schweigen der Frauen beklagt, übersieht zum einen, dass es Frauen waren, die zuerst über dieses System gesprochen und es öffentlich gemacht haben, und zum anderen, dass sich Frauen auch einzeln und nicht nur im Kollektiv äußern können. Der italienische Feminismus ist keine Partei, auch keine traditionelle Protestbewegung, er ist ein Zusammenschluss verschiedener Praktiken, die dazu beitragen sollen, dass sich weibliche Freiheit manifestieren kann. Überall, auch unter den First Ladies und den Prostituierten.