Ein Rückblick auf die Geschichte des Antiimperialismus

Deutschland, du Prolet!

Bereits in den zwanziger Jahren fühlten sich Deutsche als Kolonisierte und natürliche Verbündete der Opfer eines angloamerikanischen Imperiums. Ein Rückblick auf die Geschichte des Antiimperialismus.

In einem holländischen Zeltlager trafen sich im August 1928 rund 500 mehr oder minder junge Menschen aus 30 Ländern. Sie wollten einen »Weltbund der Jugend« gründen. Die Deutschen bildeten die größte Gruppe, in der Mehrzahl waren sie Mitglieder von sozialistischen, linksbürgerlichen und pazifistisch-religiösen Jugendgruppen, einige bündische und »jungnationale« Jugendbewegte waren allerdings auch mit dabei.
Neben den ebenfalls stark vertretenen Angloamerikanern und Holländern waren auch einige Angehörige von antikolonialen Bewegungen und Teilnehmer aus den Ländern anwesend, die man später »die Dritte Welt« nennen sollte. Für China waren Abgesandte der Kommunisten wie der Kuomintang gekommen, ein Mexikaner war ebenso da wie ein Syrer und Afrikaner. Ein Mitarbeiter Mahatma Gandhis las stilecht im grobgewebten Leinenanzug ein Telegramm des Meisters vor.
Es hatte zuvor eine Reihe vorbereitender Jugendtreffen gegeben, so auf der Freusburg 1927, wobei auch zwei Inder und ein philippinischer Student den Weg ins Siegerland gefunden hatten. Diese wenigen Ausländer, die weder aus Europa noch aus den USA kamen, faszinierten natürlich ungeheuer. In der Regel waren es Männer, die irgendwo in Europa studierten und nun als Repräsentanten nicht nur ihrer Länder, sondern ganzer Kontinente galten. Viel mehr an Möglichkeiten, mit einem »echten« Inder oder Chinesen zu sprechen, gab es gerade für deutsche Jugendliche kaum. So verbreitete sich auf solchen Treffen ein erster Hauch von »One World« rund um das Lagerfeuer.
Beim Treffen 1928 im holländischen Ommen entluden sich bereits zu Beginn die ersten Spannungen. Da schlossen sich die deutschen Teilnehmer lautstark dem Protest einiger Kommunisten gegen die ihrer Meinung nach zu »phrasen­haft(en)« bürgerlich-pazifistischen Eröffnungsreden an. Ein Redner entdeckte prompt »hinter der englisch-holländischen Kongressleitung die Werkzeuge der imperialistischen Regierungen«. Auf der einen Seite standen die angloamerika­nischen und westeuropäischen Gruppen, auf der anderen Seite die Deutschen, die mit den Vertretern der kolonialisierten Länder zusammenrückten. Bei einem separaten Treffen zwischen den deutschen Teilnehmern und den Vertretern der Kolonialländer nutzte ein deutscher Redner dann die Gelegenheit und reihte Deutschland unter die imperialistisch unterdrückten Kolonien ein.

Nicht nur über die Anwaltschaft für alle unterdrückten Nationen und die Notwendigkeit einer »entschiedenen anti-imperialistischen Haltung«, sondern auch in der einhelligen Ablehnung der »formalen« bürgerlichen Demokratie, die man von Briten und Amerikanern repräsentiert sah, war man sich innerhalb der deutschen Delega­tion einig. Was wiederum Westeuropäer und Amerikaner zeitweise dazu brachte, alle deutschen Teilnehmer schlichtweg für Kommunisten zu halten.
Die unterschiedlichen politischen Agenden zeigten sich deutlich in den Arbeitsgemeinschaften auf dem Treffen. Während die Angloamerikaner und Holländer die Mehrheit in der politischen Kommission innehatten und hier über eine Reform des Völkerbundes diskutierten, kamen die soziale wie die wirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft, in denen die Deutschen und Vertreter der Kolonialländer dominierten, zu dem Schluss, »dass der dauernde Weltfrieden von der Beseitigung des Imperialismus in all seinen Formen abhängt«.
Bereits beim Treffen auf der Freusburg im Vorjahr hatte sich diese Haltung der deutschen Teilnehmer abgezeichnet. In einem Reader finden sich Texte, deren Formulierungen und Worthülsen weit voraus in die Zukunft und auf den Politjargon der Protestbewegungen hinweisen; etwa wenn Ludwig Oppenheimer von den »bereits in der Weltpolitik offenbar werdenden Tendenzen und Ansatzpunkte(n) zu einer antiimperialistischen Einheitsfront« sprach und erklärte, wie sich »am Rande des Systems« bei den »gedrücktesten Völkern und Klassen« die »revolutionären Gegenkräfte« sammelten. Dies im Gegensatz zu der »relativ gesicherten Sphäre der Völker des imperialistischen Kulturkreises« – später hätte man wohl Metropole dazu gesagt.
Karl August Wittvogel, damals noch ein strenger Kommunist, war in dem Reader ebenso vertreten wie Wolf Abendroth. Beide warnten vor pazifistischen Thesen, die nur dem Imperialismus nützten. Nationale Verteidigungskriege des befreiten Proletariats sowie nationale Befreiungskriege müsse man nämlich unterstützen.

Dass man sich schon damals von rechts bis links einig werden konnte, was den »Imperialismus« betraf, machte der Angehörige eines »jungnationalen« Bundes deutlich, als er in seinem Beitrag schrieb: »Das ganze deutsche Volk ist heute Weltproletariat – oder ein Proletarier unter den Völkern! (…) Die gelben, braunen und schwarzen Proletariervölker sind jedoch heute denselben Herren untertan, wie das deutsche Volk – den Siegern von Versailles! Und wer die Freiheitsbewegung der farbigen Völker als berechtigt anerkennt, muß auch den Freiheitswillen des deutschen Volkes anerkennen und die Berechtigung zum Freiheitskampf!«
Deutschland als unterdrückter »Weltproletarier« war ein weit verbreiteter Topos im Denken der Konservativen Revolution und der Nationalbolschewisten. Ein Bündnis mit Aufständischen der Kolonien und des Ostens hatte man ja von deutscher Seite bereits im Ersten Weltkrieg an­gestrebt und vor allem auf einen »Heiligen Krieg der Moslems« gehofft. Nach der Niederlage sollte eine weitere Weltmission Deutschlands in Sachen »Volksbefreiung« sich erneut auf ein solches Bündnis stützen. Eine Fortsetzung fand diese Strategie im Zweiten Weltkrieg, als Gandhis Rivale Subhash Chandra Bose mit seinem Radio Free India von Berlin aus so »antiimperialistische« wie antibritische Aufstandspropaganda sendete.
Der Antiimperialismus als Freibrief für einen deutschen »Freiheitskampf« – gegen die »Sieger« von Versailles, den westlichen Parlamentarismus, das Empire oder den angloamerikanischen »Turbokapitalismus«. Die Bezeichnungen wechselten wie die Jugendmoden, die Fixierung blieb.
Karl Rössel, der Kurator der Berliner Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«, hat im Interview mit der Jungle World (36/09) die Frage gestellt, warum von den unzähligen »Nahost-Experten« keiner »auf die Idee gekommen ist zu untersuchen, welchen Einfluss es auf den Nahost-Konflikt hatte, dass er nach 1945 wesentlich und an führenden Stellen von Faschisten geführt wurde oder von Sympathisanten der Nazis«. Einen zeitgenössischen Autoren gab es allerdings, den diese Frage bewegt hat, es war jedoch kein Deutscher, sondern ein Amerikaner armenischer Herkunft. Er ist der Frage nach der Rolle der Nazis im israelischen Unabhängigkeitskrieg sehr konkret nachgegangen, nämlich undercover. John R. Carlsons Buch »Cairo to Damascus« erschien 1953 auf Deutsch im Verlag der von Eugen Kogon mitherausgegebenen Zeitschrift Frankfurter Hefte. Die Lektüre des nahezu vergessenen Werks ist, um es gelinde zu sagen, stellenweise etwas verstörend.
Carlson schloss sich im Jahr 1948 unter falschem Namen in Kairo dem Jihad gegen Israel an. Doch der umjubelte Aufbruch der uniformierten »Grünhemden« scheiterte etwas kläglich bereits am Suez-Kanal. Auf seiner Weiterfahrt begegnete Carlson dann in Gaza und Damaskus den versprengten Feldwebeln und Leutnants des Afrikakorps, die den Krieg nun mit – aus ihrer Sicht eher un­fähigen – Arabern gegen das entstehende Israel weiterführten.

Der notorische Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, organisierte dafür die Flucht der angehenden deutschen Jihadisten aus den britischen Kriegsgefangenenlagern in Ägypten. Die ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Kollaborateure vom Balkan erzählten Carlson offenherzig von ihren Angriffen auf jüdische Siedlungen, vom Juden­töten oder ihren Ausbilderaufgaben bei der syrischen Armee. Den Sold holte man sich im Büro des Großmuftis ab.
Die Vorstellung, der Kampf gegen das »Imperium« heilige automatisch den Kämpfer, war eine weitere Generation später bei Teilen der Achtundsechziger-Bewegung Konsens. Über die dubiosen Wurzeln der arabischen Revolution und ihre frühen Waffenbrüder schwieg man. Der Gedanke, dass Deutschland »besetzt« sei, war dagegen en vogue. Dokumente aus dieser Zeit erscheinen heute recht bizarr. Eine Ausgabe der Darmstädter Studentenzeitung vom November 1974 etwa beschäftigt sich ein Jahr nach dem israelisch-ägyptischen Oktoberkrieg mit dem Nahen Osten. Der Südjemen befand sich noch »auf dem Wege zu einer sozialistischen Gesellschaft«, im Oman gab es eine richtige Befreiungsbewegung, die PFLOAG, und eine Analyse über »Perspektiven für die Palästinafrage« konstatiert einen stetigen Niedergang Israels und für Ägypten den Ausbau seiner »historisch gewachsene(n) dominante(n) Stellung in der arabischen Welt«. Ein Reisebericht aus Israel ist bebildert mit einem Traktor, auf dem ein Bewaffneter mitfährt: »Wildwest-Revival in Israel: bewaffnete Zivilisatoren im israelisch-syrischen Grenzland.«
Neben den Analysen und Verlautbarungen von längst dem Gedächtnis entschwundenen nahöstlichen Politkadern gibt es ein hochinteressantes Fotodokument. Offensichtlich wollte jemand auch mal etwas Agitprop einfließen lassen. Das ganzseite grobkörnige Bild in Schwarzweiß zeigt eine Nahaufnahme Moshe Dayans, offensichtlich in einem Unterstand, er hält ein Fernglas bereit. Zu seiner schwarzen Augenklappe ist eine zweite über das andere Auge hinzugemalt. Der kurze Text darunter, in der Aufmachung einer Nachrichtenagenturmeldung, lautet: »Verteidigungsminister Mosche Dajan bei der Besichtigung der vorgeschobenen Israelischen Linien 10 km westlich von Wien (Österreich)«, vordatiert auf den März 1976. Was für ein Traum. Nicht mehr die Türken, sondern die Israelis vor Wien. Das wäre endlich der wahre deutsche Volkskrieg geworden.