Die französische Debatte über »nationale Identität«

Bonjour, Identität

Der französische Integrationsminister hat eine große, staatsoffizielle Debatte über »nationale Identität« ausgerufen.

Selbst für französische Verhältnisse war diese Resonanz ungewöhnlich. Rund 2 300 Artikel erschienen innerhalb von zehn Tagen zu einem relativ abstrakten Thema. Nachdem der Minister für Einwanderung und nationale Identität, Eric Besson, verkündet hatte, Frankreich werde in den kommenden drei Monaten eine große Debatte über »nationale Identität« führen, steht das Thema auf der Agenda der Redaktionen wieder ganz oben.
Und auch die Bevölkerung besinnt sich aufs Thema. Einer von Le Parisien veröffentlichten Umfrage zufolge halten 98 Prozent der Befragten die französische Sprache für einen wichtigen Bestandteil der »nationalen Identität«. Für 92 Prozent gehört die Republik und für 88 Prozent die Flagge zur Identität. 85 Prozent halten den Laizismus und 73 Prozent die Immigration für wesentlich. Eric Besson möchte eine Wertedebatte auslösen, vergleichbar mit der in Deutschland unter dem Stichwort »Leitkultur« geführten. Man möchte die Frage nach Nationalstolz und Identifikationssymbolen nutzen, um zu definieren, welche Anforderungen Zuwanderer künftig erfüllen müssen, um in Frankreich »integriert« werden zu können.
Denn anders als in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als man in größerer Zahl Arbeitskräfte anheuerte und sich um die genauere Zusammensetzung des neuen Arbeiterreservoirs nicht so sehr kümmerte, möchte man künftig die »legal« aufzunehmenden Zuwanderer genau auswählen. Französische Sprach­kenntnisse und eine Identifikation mit der Republik und ihren Werten gelten dabei als ein unabdingbares Minimum – neben der Forderung, dass »legale« Einwanderer auch noch spezielle berufliche Qualifikationen mitzubringen haben.
Besson will zwei konkrete Vorschläge diskutiert wissen. Zum einen möchte er, dass die Schüler mindestens einmal pro Jahr Gelegenheit bekommen, die Marseillaise zu singen, und dass die Migranten Integrationskurse besuchen. Auch wenn er die Debatte ansonsten im Vagen beließ, wusste er doch zu sagen, was für ihn nicht zur französischen Kultur gehört, nämlich die Burka. Dieses Kleidungsstück ist für ihn nicht mit der französischen »nationalen Identität« vereinbar. Allerdings wird die Burka, die vor allem in Afghanistan und in Pakistan verbreitet ist, in Frankreich ohnehin kaum getragen und ist etwa bei den maghrebinischen Einwanderern keinesfalls üblich. Denn in Nordafrika ist die Burka traditionell unbekannt. Nachdem sich jedoch im Früh­sommer eine Debatte um einzelne Fälle von Ganzkörperverschleierung entsponnen hatte, zählte das französische Innenministerium nach und identifizierte insgesamt 367 Frauen, die in Frankreich Burka tragen. Bei den Burka-Trägerinnen handelt es sich zumeist um Konvertitinnen, die nicht nur die französische Staatsbürgerschaft haben, sondern in der Regel auch französischer Herkunft sind. Sie handeln ähnlich wie Sektenanhänger, die ihre neu erworbene Zugehörigkeit auf besonders krasse Weise zur Schau stellen möchten. Zur Abgrenzung zwischen denen, die zur Nation gehören, und denen, die nicht dazugehören sollen, taugt die Burka insofern wohl kaum.
Aber der republikanische Nationalismus, der zugewanderten Staatsbürgern ein Versprechen auf »Integration« gegen bestimmte ideologische Vorleistungen anbietet, gerät auch in Frankreich in Konkurrenz zu einem völkischen Nationalismus. Ihn vertritt vor allem die unter anderem im Zuge dieser Nationaldebatte gegenwärtig wieder erstarkende extreme Rechte. Deren künftige Chefin Marine Le Pen konnte sich in den letzten beiden Wochen dank der Regierungskampagne zur »nationalen Identität« erfolgreich in den Medien profilieren. Sie verlangte auf schlagzeilenträchtige Art und Weise, bei Staatspräsident Nicolas Sarkozy vorgeladen zu werden. Endlich, so posaunte sie hinaus, habe man nun »ein Recht auf die Debatte, die wir seit 25 Jahren fordern« und »bei der wir die glaubwürdigste Partei sind«.
Sarkozy beantwortete ihr Ansinnen nicht, doch ließ er einige Tage später verlauten, die Chefs der einzelnen politischen Parteien würden voraussichtlich zu dem Thema nicht im Elysée-Palast empfangen. Da der Front National (FN) wegen des Mehrheitswahlrechts über keinen Sitz im Parlament verfügt, wären Vater und Tochter Le Pen aus dem Spiel.
Unterdessen meldet der FN sich aber in der Öffentlichkeit lautstark zu Wort und findet damit viel Beachtung. Anderthalb Tage nach der Einrichtung der Regierungs-Website zur »nationalen Identität« hat er seine eigene Seite (http://www.identitenationale.net/) eingerichtet.
Im Unterschied zur Regierung bedient die extreme Rechte in dieser Debatte zielstrebig das Ressentiment, dass die Anwesenheit von Migranten auf französischem Boden eine Gefahr für die »nationale Identität« darstelle. Derzeit scheint die Kampagne ihr Zuspruch zu verschaffen: Erstmals seit längerem stieg der FN in der Wählergunst sprungartig und legte in einem Satz von sechs auf neun Prozent zu.
Auf der anderen Seite des politischen Spek­trums hadert ein Teil der Linken unterdessen damit, wie man sich zu der Debatte verhalten äußern solle. Die französische Sozialdemokratie entschied sich Anfang letzter Woche dazu, die Diskussion zu »boykottieren«: Zwar sei es legitim über nationale Identität zu diskutieren, aber derzeit werde das Thema aus Wahlkampfgründen von der Regierung instrumentalisiert. Der radikale Linke Olivier Besancenot hingegen meinte, die nationale Identität sei grundsätzlich uninteressant, viel wichtiger sei die »soziale Identität«. Ausgeschert aus den Positionen der Linksparteien ist unterdessen die frühere sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal. Auch wenn sie ebenfalls die Wahlkampfabsichten der Regierungspartei kritisierte, befand sie doch die Debatte für grundlegend richtig. Schon vor nunmehr drei Jahren habe sie »als eine der Ersten die Diskussion um Nation und nationale Identität führen wollen«. Sie habe im Wahlkampf 2006/07 dazu aufgefordert, »in meinen Veranstaltungen die Nationalhymne Marseillaise zu singen, aber meine Partei hat das verstört«.
Auf der von der Regierung eingerichteten Website (http://www.debatidentitenationale.fr/) ist allerdings noch nicht viel passiert. Nur wenige User wollten sich an der Debatte beteiligen, sieht man von den Beiträgen einzelner Politiker des Regierungslagers wie François Fillon, Jean-François Copé und Arno Klarsfeld ab. Die Rubrik »Literatur« ist offenbar sehr eilig zusammengeschustert worden und listet 40 sehr unterschiedliche Buchtitel zum Thema »französische Identität« auf; das Spektrum reicht von Victor Hugo bis hin zu Luc Ferry. Letztgenannter war vor nunmehr fünf Jahren Bildungsminister unter Präsident Jacques Chirac.
Die Internetnutzer sollten sich auf der Webpage mit eigenen Debattenbeiträgen zur Frage »Was bedeutet Französischsein heute?« zu Wort melden. Aber schon anderthalb Tage nach der Einrichtung der Site wurde bekannt, dass Wortmeldungen von Net-Usern von der Webpage entfernt wurden. Rue 89, eine der größten Online-Zeitungen Frankreichs, berichtete über Fälle von Zensur. So wurde eine Userin namens »Agnès« zensiert, die geschrieben hatte: »Bonjour. Über eine hypothetische nationale Identität nachzudenken, bedeutet, dem Nationalismus auf leisen Sohlen den Weg zu bereiten. Unsere Identität ist rein persönlicher Natur.« Und wenn überhaupt, so fuhr die Verfasserin fort, dann wolle sie nach einer »europäischen Identität« suchen. Andere User sahen ihre Beiträge von der Seite gestrichen, weil sie etwa geschrieben hatten: »Franzose zu sein, bedeutet im Moment für mich vor allem, mich für den Umgang mit Einwanderern in meinem Land zu schämen.« Oder auch: »Ich fühle mich als Franzose, aber ich kann es nicht definieren. Habe ich Lust, eine französische Nationalidentität zu definieren? Nein.«
In den nächsten Monaten sollen fast 400 Veranstaltungen in den französischen Bezirken stattfinden. An ihnen sollen die forces vives de la nation teilnehmen: Als solche »lebendigen Kräfte der Nation« werden im Französischen mitunter gesellschaftliche Akteure von Gewerkschaften bis hin zu politischen Parteien und Fachverbänden bezeichnet. Doch stehen bislang erst drei Termine dafür fest, die von einzelnen übereifrigen Abgeordneten der Regierungspartei UMP in Windeseile angemeldet worden sind, noch ohne dass die konkreten Modalitäten der Diskussion schon klar wären.
Die französischen Präfekten, die den Zentralstaat in den knapp 100 Verwaltungsbezirken repräsentieren, waren am 2. November, dem Tag der offiziellen Eröffnung der »großen Debatte«, zumeist noch gar nicht richtig informiert. Das ministerielle Rundschreiben, das Eric Besson ihnen zugeschickt hatte, hatte einen Großteil der hohen Beamten bis zum Stichtag nicht erreicht. Dabei soll die »Debatte« zum Gutteil auf den Präfekten beruhen, denn diese sollen Diskussionsvorschläge von Bürgerinnen oder Bürgern entgegennehmen und sammeln, Veranstaltungen organisieren und – auf Basis eines »Vorschlags« aus dem Ministerium Bessons – auch selbst das Wort ergreifen.
Im Januar kommenden Jahres soll dann nach drei Monaten Debattenzirkus vorläufig Schluss sein. Aber gekrönt werden soll das Ganze von einem großen Kolloquium mit Wissenschaftlern und Intellektuellen, das den Planungen zufolge am 4. Februar kommenden Jahres stattfinden wird. Gegen Ende desselben Monats soll der zuständige Minister Eric Besson dann eine Auswertung und Zusammenfassung, eine »erste Synthese«, der nationalen Debatte veröffentlichen. Rein zufällig finden drei Wochen später die französischen Regionalparlamentswahlen in allen 22 Regionen statt. Ersten Umfragen zufolge vermuten 64 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen denn auch, dass die Kampagne im Zusammenhang mit den Wahlen steht und dass das erste Ziel des Regierungslagers darin bestehe, »die Wählerschaft der Rechten zu mobilisieren«. Gleichzeitig aber halten fast 60 Prozent die Debatte über nationale Wertfundamente und Nationalsymbole als solche für »berechtigt«.
Offenkundig ist, in welcher Eile das Riesenspektakel aufgezogen worden ist. Mutmaßlich wurde es tatsächlich relativ kurzfristig anberaumt – nicht nur als Manöver im Vorwahlkampf, sondern auch, um die in den vergangenen Wochen sich abzeichnenden Verluste des konservativen Bürgerblocks zu verhindern und die politische Rechte von Neuem zusammenzuschweißen. Die Affäre um den schwulen Kulturminister Frédéric Mitterrand, dem Pädophilie vorgeworfen worden ist, die Vetternwirtschaft von Präsident Nicolas Sarkozy zugunsten seines Sohnes Jean oder auch der Streit um Wirtschaftspolitik und hohe Staatsverschuldung haben in den vergangenen Monaten für Unmut innerhalb des rechten Lagers gesorgt. Vor allem die Wählerschaft der Konservativen in den Unter- und Mittelschichten und die stramm Rechten in der Anhängerschaft haben sich den Staats- und Regierungsspitzen zunehmend »entfremdet«, wie Beobachter formulierten: Sie verstehen weder, warum man einem Vertreter der »mondänen Kultureliten« und vermeintlichen Wüstling – wenn nicht »Sittenverbrecher« – wie Frédéric Mitterrand ein Ministerium zuschanzte, noch, warum der von Sarkozy propagierte Leistungsbegriff bei seinem als Student eher leistungsschwachen Sohn nicht gelten solle. Nun gilt es, ihnen auf die Schnelle wieder ideologische Vorlagen zu liefern, auf dass sie nicht an ihrem Spektrum und dessen »Werten« zweifeln.
Eine symbolische Provokation startete Staatschef Sarkozy im Kontext der Debatte. In einer Rede vor Bauernfunktionären und Landwirten in Ostfrankreich verkündete er, »die Erde, der Boden« seien ein wesentlicher »Teil der nationalen Identität«. Diese Worte wurden vom Publikum, vor dem sie ausgesprochen wurden, als Anspielung auf konkrete materielle Interessen verstanden. Denn viele französische Landwirte beschweren sich – ähnlich wie die deutschen – über zu niedrige Preise etwa für Milch, die ihnen von Einkaufszentralen der Supermärkte diktiert werden, und fürchten deshalb, die Bewirtschaftung ihres Bodens aufgeben zu müssen. Einen ganz ähnlichen Satz hatte Sarkozy bereits am 19. Februar vor Landwirten geäußert, ohne dass dies damals für Aufsehen gesorgt hätte. Damals hatte er sogar – etwas grundsätzlicher – hinzugefügt, er sei gewählt worden, »um die nationale Identität zu verteidigen«.
Nun aber fiel der Satz in einen Kontext, in dem durch die Ankündigung Eric Bessons eine erhöhte Aufmerksamkeit für ideologische Fragen im Zusammenhang mit Fragen der »Nation« und des Patriotismus geweckt worden war. Zahlreiche Beobachter, vor allem auf der Linken und im linksliberalen Milieu, beschwerten sich deshalb vorletzte Woche: Indem er die »nationale Identität« an die Begriffe von Erde und Boden knüpfe, propagiere Sarkozy einen Nationenbegriff, wie Marschall Pétain und der präfaschistische Denker Maurice Barrès ihn gepflegt hätten. Im Deutschen entspräche dies ungefähr dem Begriff des Blut-und-Boden-Nationalismus. Die der KP nahe stehende Tageszeitung L’Humanité sprach deswegen alsbald vom Abgleiten Sarkozys in den Pétainismus.