Armut in Deutschland ist weiblich

Eine Wohnung für sich allein

Finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, ist für Frauen wieder erheblich schwerer geworden. Armut ist in Deutschland weiblich.

»Ich gehe nicht mit Männern aus, die weniger verdienen als ich«, sagt Reyes*, Dozentin für Spanisch an einer Berliner Volkshochschule und erklärt: »Männer haben so viel mehr Möglichkeiten, mehr Geld zu verdienen als Frauen. Nach meiner Erfahrung sind diejenigen, die noch weniger haben als ich, Looser, die im Grunde auf der Suche nach einer Mama sind, die auch auf finanziellem Gebiet die Verantwortung übernimmt.«

Reyes’ Meinung, die auf den ersten Blick arrogant erscheint, wird von den offiziellen Zahlen gestützt: In privatwirtschaftlichen Unternehmen verdienen Frauen noch immer rund ein Viertel weniger als Männer, auch wenn sie der gleichen Tätigkeit nachgehen. Von den sechs Millionen Minijobbern und fünf Millionen Teilzeitbeschäftigten in der BRD sind zwei Drittel weiblich, und Männer erhalten im Durchschnitt doppelt so viel Rente wie Frauen. 6,5 Millionen Menschen arbeiten mittlerweile im so genannten Niedriglohnbereich mit Stundenlöhnen unter 9,62 Euro im Westen und 7,18 im Osten, und auch hier stoßen wir wieder – diese Gruppe überschneidet sich ­allerdings mit der der Minijobber und Teilzeitarbeitenden – auf eine weibliche Mehrheit.
Dennoch scheinen sich Frauen mehr darum zu bemühen, überhaupt arbeiten zu gehen. Denn nur wenig mehr als die Hälfte aller Empfänger von Arbeitslosengeld II sind Frauen, und das, obwohl sie 91 Prozent der Alleinerziehenden stellen – jener Gruppe von Personen also, deren Lebenssituation ihnen weder Schichtarbeit noch mit Kita bzw. Schule unvereinbare Arbeitszeiten erlaubt, und die mit Vorbehalten potenzieller Arbeitgeber konfrontiert sind, welche bereits im Bewerbungsgespräch an Masern und Ringelröteln denken.
Es gibt also gute Gründe, sich weiterhin Sorgen um die Frauen zu machen. Das tut auch das Bundesamt für Statistik. Im November stellte es fest, dass mittlerweile jeder siebte Bundesbürger als arm zu bezeichnen ist, also mit einem monatlichen Einkommen unter 913 Euro auskommen muss. Insbesondere Arbeitslose, Alleinerziehende und Frauen seien betroffen, wurde vermeldet, wobei den Lesern überlassen bleibt da­rüber nachzudenken, ob es sich bei den drei Gruppen nicht tendenziell um eine einzige handelt, auf die alle vier Kriterien zutreffen: Frau, Kinder, kein Job, wenig Geld!

Die Frauen selber scheinen zu wissen, dass Kinder zu haben in diesem Land das größte Risiko in sich birgt, arm zu werden: Knapp 1,3 Kinder bringt eine Frau in der BRD durchschnittlich zur Welt, und die Tendenz ist sinkend, besonders wenige kamen in der ersten Hälfte dieses Jahres zur Welt. Kein Wunder, denn das 2008 eingeführte Elterngeld wird demjenigen Elternteil bezahlt, das seinen Job aufgibt; einen Betreuungsplatz für jedes dritte Kind unter drei Jahren soll es erst ab 2013 geben. Die Bundesregierung setzt weiter auf isolierte Kindererziehung zu Hause statt auf Ganztagsschulen oder Horte. Der anti-soziale Gedanke, Menschen ein Erziehungsgeld zu zahlen, die mit ihren Kindern zu Hause bleiben, kann nur von einer Regierung kommen, die Frauen mit Kleinkindern offenbar wieder an Küche und Kinderzimmer binden möchte.
Nicht nur die Frage »Kind oder keines?« muss sich jede Frau also gut überlegen. Sie tut auch gut daran, bereits über die Frage nachzusinnen, ob sie mit einem Mann (übrigens auch mit einer Frau) überhaupt zusammen leben will. Denn die Angleichung von nichtehelichen Partnerschaften an eheliche und die so genannten Hartz-Gesetze haben dazu geführt, dass Frauen, die arbeiten und Geld verdienen, für ihren Partner oder ihre Partnerin finanziell einstehen müssen, sofern er oder sie den Job verliert. In dem Fall, dass eine Frau arbeitslos wird oder wenig Geld verdient, ist sie es auch, die von Staats wegen abhängig gemacht wird vom Freund oder Lebenspartner, der wiederum nicht nur dem Jobcenter Aufschluss über seine Einkommensverhältnisse geben muss.
Ein Beispiel: Wer freiberuflich arbeitet in diesem Land, davon geht die Bundesregierung munter aus, verdiene tunlichst rund 1 900 Euro im Monat, denn auf dieser Mindestbemessungsgrundlage werden die Beiträge zur Sozialversicherung berechnet, die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger verlangen. Wer nicht auf diese Summe kommt, kann zwar durchaus für seinen Lebensunterhalt sorgen, wird aber – von der AOK beispielsweise – dazu aufgefordert, einen Antrag auf Beitragssenkung zu stellen, in dem Einkommen und Vermögen desjenigen abgefragt wird, mit dem man zusammenlebt. Das geschieht auch dann, wenn man das Finanzielle aus der Liebe lieber heraushalten wollte. Aber das entscheidet nicht mehr er oder sie, sondern die AOK.

Emanzipation sieht anders aus. Ökonomische Unabhängigkeit vom Mann zu erreichen, die unverzichtbare Voraussetzung jeder weiblichen Emanzipationsbestrebung und eine Standardforderung seit dem frühen 19. Jahrhundert, ist seit den sieben Jahren rot-grüner Regierung wieder erheblich schwerer geworden und eigentlich nur noch möglich, wenn eine Frau allein in einer Wohnung lebt und Herrin über ihre Einkünfte ist.
Falls sie sich aber dennoch dazu entschlossen hat, sich – wenn auch indirekt – abhängig zu machen von ihrem Partner, wenn sie Kinder hat und die Beziehung scheitert, muss sie feststellen, dass Arbeiten außerhalb der Kernarbeitszeiten – insbesondere üblich in den traditionell weiblichen Berufsfeldern wie Kranken- oder Altenpflege, in der Gastronomie und weiteren Dienstleistungsberufen – nicht mehr möglich ist und dass die meisten Männer sich damit schwer tun, ihren Unterhaltspflichten den Kindern gegenüber nachzukommen. Sie tun das nicht unbedingt aus böser Absicht, denn jeder fünfte unterhaltspflichtige Vater ist zahlungsunfähig. Aber auch von den übrigen macht die Mehrheit Probleme und zahlt gar nicht oder zu spät. »In diesem Fall geht das Jugendamt in Vorauskasse«, erzählt Elena*, alleinerziehende Mutter einer fünfjährigen Tochter, »aber mein Ex-Mann bekam natürlich eine Rechnung. Daraufhin ging er zum Jugendamt und erklärte, das Kind sei zu 50 Prozent bei ihm. Danach wollte er, dass die Kleine wirklich die Hälfte der Zeit bei ihm verbringt, aber sie will einfach nicht. Ihr Zimmer, ihre Spielsachen, ihre Freunde sind hier. Ich möchte sie nicht zwingen, von daher muss ich auf das Geld verzichten und zusehen, dass ich über die Runden komme.«
Elena, die seit einigen Monaten arbeitslos ist und an einer vom Arbeitsamt geförderten Fortbildung teilnimmt, weiß seit kurzem, dass sie wieder schwanger ist. »Mein Freund möchte, dass wir alle zusammenziehen«, erzählt sie weiter. Alle, das wären auch die Kinder des neuen Freundes aus erster Ehe. »Das wäre auch vernünftig. Aber den Job hat er. Es ist also klar, wie die Arbeitsteilung in den nächsten zwei, drei Jahren aussehen wird. Jetzt lerne ich Programmieren, aber wer weiß, ob ich mit dem ganzen Trubel dazu komme, am Ball zu bleiben. Und was, wenn auch diese Beziehung nicht klappt?« Dann steht sie da, mit zwei Kindern, ohne Job und muss ALG II beantragen: »Wer weiß, wann man da wieder rauskommt?«
So ist die Armut hierzulande in erster Linie eines, nämlich weiblich. Frauen wissen das und agieren entsprechend. Im Familienministerium grübelt man derweil über den drastischen Geburtenrückgang in der zweiten Hälfte von 2008 und der ersten des Jahres 2009.

* Name von der Redaktion geändert