Die Ukraine und die Nato

Streit um das Erbe

Von Ralf Hess

In den strategischen Planungen des Westens wie auch Russlands spielt die Ukraine eine zentrale Rolle. Mehrere Nato-Staaten wollen einen Beitritt des osteuropäischen Landes vorantreiben.

Es sei nun möglich, »das Erbe des Kalten Krieges endlich loszuwerden«, meint der russische Präsident Dmitrij Medwedjew. Allerdings nur, wenn die Nato den »Europäischen Sicherheitsvertrag« unterschreibe, dessen Entwurf die russische Regierung Ende November veröffentlichte. Unter anderem würde der Vertrag jedem Staat Aktivitäten untersagen, die die Sicherheit eines anderen Staates »signifikant beeinträchtigen«. Damit wäre aus russischer Sicht etwa der Beitritt weiterer Staaten zur Nato ausgeschlossen. Dementsprechend gering war die Begeisterung bei der Nato, deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen Mitte Dezember sagte, er sehe »keinen Bedarf an neuen Verträgen«.
So wird es vorerst dabei bleiben, dass Nato-Streitkräfte und russisches Militär einander misstrauisch beäugen. Wie die Bundeswehr kürzlich bestätigte, gab es am 15. September im estnischen Luftraum einen Zwischenfall mit russischen Militärflugzeugen. Zwei deutsche Eurofighter hatten ein russisches Radarflugzeug an der Grenze abgefangen, vorrangiges Ziel war die Überprüfung dieser Maschine. Nachdem sich die Nato-Piloten ihr genähert hatten, tauchten zwei russische Jagdflugzeuge auf. Die Kampfpiloten umkreisten einander und verletzten dabei noch finnischen Luftraum, dann eskortierten ebenfalls alarmierte nordeuropäische Jagdflugzeuge die Russen in internationalen Luftraum zurück. Geschossen wurde nicht, doch kam es bereits mehrfach zu Konfrontationen dieser Art.

Wie brisant der Konflikt werden kann, wurde beim russisch-georgischen Krieg im August 2008 sichtbar. Die russische Regierung wirft der Nato und vor allem den USA vor, dass sie ihre Einflusszone immer weiter in den ehemaligen sowjetischen Machtbereich ausdehnen wollen. Die Nato soll erweitert werden, und auch in ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens ist westliches Militär präsent. Die Ukraine spielt dabei in den Augen der Politiker und Militärs beider Seiten offensichtlich eine herausragende Rolle.
Der ehemalige russische Generalstabschef Juri Balujewski sagte im April 2008, dass Russland im Falle eines Nato-Beitritts der Ukraine gezwungen sei, »militärische Maßnahmen« zu ergreifen. Balujewski war bereits zuvor mit schneidigen Äußerungen aufgefallen. Medwedjew ersetzte ihn durch General Nikolai Makarow, gab ihm aber den Posten eines stellvertretenden Leiters des Nationalen Sicherheitsrates. Beobachter gehen daher nicht davon aus, dass mit dieser Personalentscheidung eine wesentliche Veränderung der russischen Militärpolitik einhergehen wird. Denn auch der russische Außenminister Sergej Lawrow betonte, dass Russland alles unternehmen werde, um einen Beitritt der Ukraine zum westlichen Militärbündnis zu verhindern.

Obwohl US-Präsident Barack Obama auf die Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa verzichtet und Russland Verhandlungen über nukleare Abrüstung angeboten hat, dürfte sich an der Politik der Nato-Erweiterung wenig ändern. Es bestehe trotz eines gewissen Widerstands innerhalb des Bündnisses ein Interesse bei einigen Mitgliedsstaaten an einem Beitritt der Ukraine und Georgiens, sagte James Appathurai, der Sprecher der Nato. »Auf dem Gipfel in Strasbourg und Kehl haben wir den Wunsch bekräftigt, diese Staaten aufzunehmen.« Während des Gipfeltreffens tagten denn auch Kommissionen, die zwar nicht über einen Beitritt der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken verhandelten, jedoch über Militärreformen, die einem solchen Beitritt vorausgehen müssen.
Dass noch viele Reformen nötig seien, betonen vor allem die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Spaniens. Offiziell lehnen sie nur eine zu schnelle Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato ab, doch können die an guten Beziehungen zu Russland interessierten Staaten mit dem Verweis auf mangelnde Reformen den Beitritt praktisch auf unbegrenzte Zeit hinauszögern.
Unklar ist überdies vor allem im Fall der Ukraine, ob es in der Bevölkerung eine Mehrheit für den Nato-Beitritt und eine Westbindung gibt. Eine Umfrage aus dem Jahr 2003 beispielsweise zeigte, dass mehr als zwei Drittel der Ukrainer ihr Land gerne in der EU sähen. Doch ebenfalls zwei Drittel strebten einen Beitritt zum von Russland dominierten »Einheitlichen Wirtschaftsraum« an, obwohl eine Mitgliedschaft in beiden Organisationen ausgeschlossen ist. Ein Viertel der Ukrainer stimmte in der gleichen Befragung einem Nato-Beitritt zu, ein Viertel war dagegen und der Rest konnte sich nicht entscheiden. Seitdem ist die Nato unpopulärer geworden, Umfragen von 2008 zufolge lehnen knapp 40 bzw. mehr als 50 Prozent der Bevölkerung eine Mitgliedschaft ab.

Die Unentschiedenheit der Bevölkerung sei »postsowjetische Schizophrenie«, meint der in der Ukraine bekannte politische Kommentator und Journalist Mykola Rjabtschuk. Er glaubt, dass die ukrainische Nation einfach noch etwas Zeit brauche, um sich für den Westen zu entscheiden. Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrysak weist hingegen ironisch darauf hin, dass der ukrainische Nationalismus ein »Minderheitenglaube« wäre, diese »Minderheit« jedoch die größte von allen sei. Die Bevölkerung in der Ukraine identifiziere sich wesentlich weniger gemäß politisch-geografischen Kategorien als nach sozialen Kriterien, also etwa als Arbeiter, Rentner oder Bauern.
Dennoch sind verschiedene Nato-Staaten weiterhin daran interessiert, den Beitritt der Ukraine voranzutreiben. So wurde die Gründung einer gemeinsamen Litauisch-Polnisch-Ukrainisches Brigade (LitPolUkrBrig) vereinbart. Ziel dieses Projektes ist es, ukrainischem Militär die Möglichkeit zu geben, sich in die Nato-Kultur »einzuleben«, berichtete die Baltische Rundschau im November. Da ein Beitritt der Ukraine zur Nato und zur EU derzeit nicht möglich ist, werden vorläufig nationalstaatliche Lösungen gesucht. Vieles spricht dafür, dass diese Politik von der US-Regierung unterstützt wird.
Zbigniew Brzezinski schrieb in seinem 1999 erschienen Buch »Die einzige Weltmacht« der Ukraine eine zentrale Rolle für die US-amerikanische Hegemonialpolitik zu. Wenn Russland die Kontrolle über die Ukraine zurückerlangen sollte, hätte es »alle Mittel, ein mächtiges, Europa und Asien umspannendes Reich zu werden«. Gute Gründe also, die Ukraine auf die Seite der Nato zu ziehen und dabei auch größere Risiken einzugehen. Brzezinski ist derzeit außenpolitischer Berater von Präsident Barack Obama.
Allerdings ist ein weiterer Rückschlag für die Integrationsemühungen zu erwarten. Denn am 17. Januar wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt, und Viktor Juschtschenko, der mit der Westbindung identifizierte Amtsinhaber, gilt als chancenlos.