Die Krise der Popmusik

Wir machen das wieder unter uns aus

In Berlin wird weiter darüber geredet, wie die Popmusik gerettet werden kann, wenn niemand mehr Platten kauft.

Das Jahr 2009 war eines, in dem besonders viel gejammert und der Niedergang von allem mög­lichem beschworen wurde. Zeitungen werde es bald gar nicht mehr geben, hieß es, und die Medienvielfalt sei sowieso bedroht. Alles werde geschluckt vom Internet, das sozusagen erst begonnen habe mit der digitalen Revolution, und eigentlich heiße die nächste echte Weltmacht nicht China, sondern Google.
Kurz vor dem Knock-out befinde sich auch die Musikindustrie. Der Befund zu dem so gut wie unrettbaren Patienten: Die Digitalisierung habe den Tonträger entwertet. Musiker nehmen Platten auf, verkaufen diese, gehen ein wenig auf Tour und können davon so gut leben wie all die Menschen, die sich um die Aufrechterhaltung dieses Systems kümmern (Plattenhändler, Musikjournalisten, Promoter) – dieses einst so wunderbar florierende Modell stehe kurz vor dem endgültigen Kollaps.
Was also ist zu tun? Wie kann man auch heute noch als Musiker über die Runden kommen, ohne finanziell unter Hartz-IV-Niveau zu sinken? Wie bringt man wieder mehr Menschen dazu, für Musik nicht bloß dann zu bezahlen, wenn sie neue Klingeltöne für ihre Handys benötigen? Diese Fragen wurden gleich in einer ganzen Reihe von Kongressen, Panels und öffentlichen Krisensitzungen erörtert. In Berlin fanden Veranstaltungen zur Thematik statt wie »Dancing with myself«, »Audio poverty« und das Begleitprogramm zum Musikfestival Transmediale. Man traf sich und diskutierte über Lösungsvorschläge wie die »Kulturflatrate«, die das grenzenlose Herunterladen von Musik, Filmen und Büchern gegen die Entrichtung einer Grund­gebühr erlauben soll. Oder man dachte darüber nach, wie man einen Musikjournalismus wieder attraktiver machen könnte, der seine ordnende Funktion weitgehend verloren hat, weil beim Erscheinen der nächsten Ausgabe einer Musikzeitschrift bereits längst im Netz darüber entschieden worden war, welche Neuerscheinungen brauchbar sind und welche nicht. Hängt noch jemand am Format Album? Darf man für die Jägermeister-Rockliga spielen, auch wenn man mal eine Platte mit dem Titel »Fickt das System« aufgenommen hat, so wie die Sterne? Über solche Dinge lässt sich tatsächlich stundenlang diskutieren, wenn es sein muss.
Die Gesprächsrunden vor Publikum waren nötig, anregend und fanden Resonanz. Musikindustrie, Musiker und Musikkonsumenten konnten sich noch einmal darüber austauschen, was sie überhaupt noch voneinander wollen.
Seit dem Veranstaltungsmarathon zur Popkulturkrise ist nun fast ein Jahr vergangen, während weiterhin nach einem adäquaten Umgang mit der digitalen Realität gesucht wird. Vinyl wird mehr und mehr als wertiger Tonträger wiederentdeckt, für den noch jemand bereit ist zu zahlen. Aber vor allem wird von immer mehr Leuten akzeptiert, dass Musik, egal ob warenförmig oder als kostenloser Download, immer häufiger bloß noch Mittel zum Zweck ist. Der Zweck ist, dank der eigenen Musik als DJ lukrative Bookings zu bekommen oder sich als Band wieder sprichwörtlich den Arsch abspielen zu dürfen. Denn die Konzertbranche boomt erstaunlicherweise mehr denn je. Auf der Bühne, so die Erkenntnis, liegt das Geld. Die Live-Show wird als nicht digitalisierbares, nicht wiederholbares, einmaliges Ereignis wahrgenommen, nicht mehr als Dreingabe zur geliebten Schallplatte, wie früher. Wer Fan einer bestimmten Band ist, macht dies nicht mehr primär durch den Kauf einer Platte manifest, sondern durch den eines Konzerttickets.
Was all diese Rezeptionsveränderungen bedeuten, ob in der Branche der Konzertveranstalter tatsächlich Goldgräberstimmung herrscht und inwieweit durch den Live-Boom die Bedeutung von Musik wirklich neu definiert wird, über all das soll in einer ganzen Kongressreihe diskutiert werden, die fortan am Berliner Theater Hebbel am Ufer unter dem programma­tischen Titel »Life is Live« stattfinden wird.
Bei der Auftaktveranstaltung am Wochenende wurde jedoch schnell wieder deutlich, woran diese ganze Diskutiererei über Pop krankt. Der Bedarf, doch nochmal über alles zu reden, fast so wie früher, als der Popdiskurs noch halbwegs glamourös erschien und nicht in ständiger Katerstimmung geführt wurde, ist ganz offensichtlich beinahe ausschließlich nur noch bei Menschen über 30 vorhanden. Menschen, die mit Plattenläden und nicht mit Amazon aufgewachsen sind, veranstalten Panels mit ebensolchen Menschen für ebensolche Menschen. Die Jüngeren drängelten sich bei der ersten Runde von »Life is Live« immer erst in Scharen nach dem Gerede ins Theater. Zu den Auftritten der Hipster-Acts Panda Bear und Pantha du Prince kamen sie in Strömen, während den ex­trem unwürdigen Auftritt der abgehalfterten Whirlpool Productions am zweiten Abend des Kongresses kaum noch jemand sehen wollte. Wahrscheinlich hatte sich schon vorher im Netz herumgesprochen, dass der House von Whirlpool Productions heute so frisch klingt wie eine Rede von Helmut Kohl.
Junge Leute interessieren sich für die House-Musik und die Probleme der Alten, die noch die goldenen Jahre der Spex erleben durften, einfach nicht. Veranstaltungen wie »Life is Live« markieren überdeutlich einen Generation Gap zwischen denen, die noch andere Zeiten kennen gelernt haben, die Prä-Digitalisierung, und denen, die nie etwas anderes im Sinn hatten, als gute neue Musik von Freunden über Facebook und ähnliche Web-2.0-Applikationen empfohlen zu bekommen.
Als ein fast noch gravierenderer Missstand wurde deutlich, dass dieser neue Popdiskurs, dieser Diskurs, der so gut wie nie etwas von Aufbruch in sich trägt, sondern fast immer melancholisch bis deprimiert geführt wird, wie selbstverständlich Frauen ausschließt. Organisiert wird »Life is Live« ausschließlich von Männern, auf das Podium geholt wurden zwei Frauen und acht Männer. Frauen wie Lady Gaga oder Beth Ditto mögen heute die interessanteren Popstar-Modelle sein als ihre männlichen Kollegen, über Pop reden tun weiterhin die Männer.
Wie bringen sich Frauen mit ein in den Popdiskurs, das war früher ein großes Thema. Die Schlacht scheint geschlagen. Kaum Frauen schrei­ben in Zeitungen über Popmusik, in der Spex sieht die Quote ebenfalls äußerst traurig aus, und jetzt wird in Berlinern Theatern und mit freundlicher Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds öffentlich und live wieder über Popmusik geredet, und die Frauen dürfen zuhören.
Die Form, in der neuerdings in der Spex Platten wortwörtlich »besprochen« werden, verdeutlicht diesen Backlash. Statt klassischen Rezensionen gibt es dort nun abgedruckte Zwiegespräche verschiedener Autoren, um eine bestimmte Platte mehrstimmiger einzuordnen. Das Ergebnis ist der Einzug des grauenvollen Jungs-Talks in das Musikmagazin, ein Plattensammlungssortierer tritt gegen den anderen an. Mal schauen, was im Internet so läuft.