Gespräch mit Philippe Lioret über seinen neuen Film »Welcome«, eine Geschichte über das Schicksal illegalisierter Migranten in Calais

»Da bleibt ein Effekt«

Philippe Liorets neuer Film »Welcome« entfachte in Frankreich eine Kontroverse über ein Gesetz, das es verbietet, illegalisierten Migranten zu helfen. Der Film erzählt die Geschichte des jungen Kurden Bilal (Firat Ayverdi), der am Hafen von Calais mit vielen anderen illegalen Migranten versucht, nach England zu gelangen. Bilal beschließt, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Beim Training hilft ihm der Schwimmlehrer Simon (Vincent Lindon), der deshalb von der Polizei verfolgt wird. In Deutschland kommt »Welcome« am 4. Februar ins Kino.

Sie sind nicht als politischer Filmemacher bekannt. Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über illegalisierte Migranten im Hafen von in Calais zu machen?
Das ist kein politischer Film. Ich habe nur eine Geschichte gesucht.
Wie kamen Sie dann zu diesem Thema?
Ein Freund von mir hat mir von seiner Begegnung mit einer jungen Frau erzählt, die Ärger mit der Polizei hatte, weil sie einem Migranten geholfen hatte. Ich bin der Sache nachgegangen, und was ich herausfand, war Wahnsinn. Ich habe mir gesagt: Das ist unsere mexikanische Grenze. Das ist reich an Dramaturgie, über dieses Thema kann man einen großartigen Film drehen. Aber ich wollte nie einen politischen Film machen.
Also war das nur ein ästhetisches Interesse?
Ein menschliches. Ein Interesse an der Beziehung zwischen Menschen, an einer Begegnung, aber auch an einer Revolte, die mich selbst überkommt. Ich finde es ekelhaft, was die französische Regierung macht – angesichts dieser jungen Leute, die aus ihrer vom Krieg gezeichneten Heimat flüchten und die dann wieder zurückgeschickt werden. Das ist eine Schande, man schickt sie in den sicheren Tod, dabei sind manche erst 16 oder 17 Jahre alt.
Sie haben für Ihren Film selbst am Hafen von Calais recherchiert.
Ich war dort mehrere Wochen, ich wollte eine journalistische Recherche machen, bevor ich das Szenario entwerfe. Auch wenn ich eine Fiktion erzähle, wollte ich, dass all das, was in dieser Fiktion realistisch sein soll, nicht überzeichnet ist.
Sie sagen, »Welcome« sei kein politischer Film. Ab der Szene, in der Bilal auf die Idee kommt, über den Ärmelkanal zu schwimmen, und den Schwimmlehrer Simon trifft, ist Ihr Film ja auch ein ganz gewöhnliches Drama. Oder soll es doch mehr sein?
Das finden Sie gewöhnlich, ja? Ich sage immer, dass dieser Film zwei konträre Liebesgeschichten erzählt, die mit der absurden Ordnung der Welt zusammenprallen. Die absurde Ordnung der Welt ist natürlich immer präsent, also gewöhnlich. Aber ich sehe die Reaktionen des Publikums, und sie bewegen mich enorm. Ich habe große Säle gesehen mit 800 oder 900 Leuten, die Tränen in den Augen hatten. Ich bin selbst sehr bewegt von dem Erfolg dieses Films und dem Effekt, den er im Publikum auslöst.
Sogar Eric Besson, der französische Minister für Immigration und Integration, der sich mit harter Flüchtlingsbekämpfung profiliert, fand Ihren Film angeblich bewegend.
Ja, er hat gesagt, das sei ein sehr guter Film, aber alles, was darin zu sehen sei, entspreche nicht der Realität. Und das sagt er nicht, weil er sich irrt, sondern weil er lügt. Er weiß genau, dass das real ist. Er sorgt dafür, dass das real ist.
Eric Besson hat auch behauptet, das so genannte délit de solidarité, das unter Strafe stellt, Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu helfen, existiere gar nicht. In Ihrem Film sieht es dagegen so aus, als hätte die Polizei in Frankreich allergröß­tes Interesse daran, Menschen zu bestrafen, die Flüchtlingen helfen. Ist das so?
Ja, aber das ist nicht das Interesse der Polizei, das ist ihre Pflicht, die Regierung verlangt die Kriminalisierung von Menschen, die anderen Menschen helfen. Dieses Gesetz existiert, es gibt eine Menge von Urteilen. Es ist irre, Eric Besson war vorher bei dem Parti Socialiste, jetzt ist er bei den Rechten, er hat einfach die Seite gewechselt, um auf der Seite der Macht zu stehen, er will eben nicht die U-Bahn nehmen, sondern lieber einen Chauffeur haben. Er ist auch »Minister für nationale Identität« – dass muss man sich einmal vorstellen, dass Frankreich jetzt einen »Minister für nationale Identität« hat! Und warum? Damit die Regierung die Stimmen der Rechtsextremen einsammelt. Sarkozy hat neulich verkündet, der Front National existiere nicht mehr. Gut, all deren Wähler wählen jetzt die UMP Sarkozys, weil die dieselbe Politik macht. Auch deshalb sage ich in Interviews immer wieder, die Geschichte von »Wel­come« könnte auch 1943 spielen, mit einem Mann, der einen Juden im Keller versteckt, und der Polizei, die ins Haus kommt, um nach versteckten Juden zu suchen.
Dieser Vergleich hat schon viel Empörung hervorgerufen. Halten Sie ihn wirklich für gerechtfertigt?
Der Vergleich ist legitim: Da kommen morgens Po­lizisten zu Ihnen nach Hause, um nachzusehen, ob Sie nicht einen illegalen Migranten beherbergen, und wenn sie einen beherbergen, wird er abgeschoben. Das kann ein Todesurteil sein. Und derjenige, der den illegalen Migranten beherbergt hat, wird in Handschellen abgeführt, verhört, vor Gericht gestellt und verurteilt. Das ist doch das Gleiche wie damals!
Jetzt, da sogar Eric Besson gerührt ist: Glauben Sie, dass das etwas an der Politik ändert?
Dafür habe ich diesen Film nicht gemacht, aber vielleicht zeigt er jetzt die Macht des Kinos. »Welcome« hat 1 300 000 Zuschauer in Frankreich angezogen und wurde sogar im französischen Par­lament gezeigt – als Argument dafür, dass das Gesetz, das die Hilfe für Menschen mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus verbietet, so geändert wird, dass es nur noch die »Hilfe für Menschen mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus zum Ziele des Profits« unter Strafe stellt, also die Schleuser trifft und nicht normale Bürger. Aber ich glaube, dass das noch nicht alles war. Das Europäische Parlament hat »Welcome« zum Film des Europäischen Parlaments 2010 gewählt. Das ist eine Niederlage für die Politik von Sarkozy und Besson.
Aber warum brauchte es Ihren Film, um auf dieses Gesetz und das Schicksal von Migranten aufmerksam zu machen? Dass Migranten an europäischen Grenzen sterben, ist ja jedermann bekannt.
Ja, das wissen alle, das denke ich auch. Wenn man Zeitung liest, fernsieht, erfährt man es, es wird ja darüber berichtet. Aber eine Dokumentation richtet sich an den Intellekt. Wir sehen das und sagen uns: Das ist ekelhaft. Und dann gehen wir zur nächsten Sache über. Die Information steckt quasi zwischen dem Gaza-Streifen, Obama, was auch immer. Wir vermischen alles, das ist die Fluktuation der Information, die uns nicht die Zeit lässt, über etwas nachzudenken. Diese rohen Informationen hinterlassen vielleicht auch ein Ge­fühl, aber sofort kommen neue Informationen, die es überlagern. Eine neunzigminütige Fiktion in der Dunkelheit des Kinosaals kann dagegen eine Geschichte erzählen. Wenn Sie die Geschichte zu Herzen rührt …
… dann rührt Sie die Geschichte vielleicht zu Herzen, dann haben Sie einen schönen Film gesehen, ein bisschen geweint und gehen geläutert und entspannt nach Hause. Oder nicht?
Ja, aber ich denke, dass das anders ist, wenn man von einem Film berührt ist und sich zugleich vergewissert, dass er auch etwas Reales wiedergibt. Ich habe sehr darauf geachtet, dass der Film nichts Überzeichnetes hat. Von dem Moment an, in dem die Zuschauer von einer menschlichen Beziehung bewegt sind, die in einem realen Kontext angesiedelt ist, bleibt etwas hängen. Ich habe die Zuschauer gesehen, sie gehen aus dem Kino, überqueren die Straße, aber da bleibt etwas, da bleibt ein Effekt.
Ihr Film geht tragisch aus. Erzählt Ihr Film auch eine Geschichte des Scheiterns individueller Hilfe?
Klar, die Migranten werden dann wieder am Hafen landen, und wenn es einige mit der Hilfe anderer schaffen, werden die nächsten kommen und wieder in dieser Situation sein. Aber vor zehn Jahren waren in Calais nur Kosovaren. Und dann kam kein einziger Kosovare mehr. Weil Kosovo heute ein Land ist. Die Leute sind alle wieder zurück. Die Afghanen, die jetzt in Calais landen, werden auch wieder zurückgehen, wenn die Taliban verschwunden sind. Es gibt eine einfache menschliche Regel: Hilf deinem Nächsten! Die, die das nicht tun, und die, die jene verurteilen, die es tun, für die habe ich nur Verachtung übrig.
Glauben Sie, dass Ihr Film Menschen motiviert, illegalisierten Migranten zu helfen? Wie gesagt: Die Hilfeleistung in Ihrer Geschichte geht extrem unglücklich aus.
Ja, aber dieser Film will niemandem irgendetwas auftragen, er erzählt einfach eine Geschichte, die eine Tatsache offenlegt, die vielleicht beim Zu­schauer ein kleines bisschen Bewusstsein erzeugt. Das ist alles. Danach, wenn man aus dem Kino kommt und wieder seinem Alltag nachgeht, kann sich das entwickeln. Nehmen Sie zum Beispiel dieses Gesetz »Hilfe für Personen mit irregulärem Aufenthaltsstatus« – es ist in der Na­tio­nal­versammlung nicht durchgekommen, sie ist sehr rechts und folgt Sarkozy, aber es wird dort ein zweites Mal eingebracht werden, und wenn es nicht durchkommt, wird es ein drittes Mal eingebracht werden, bis zu dem Tag, an dem es angenommen werden wird.
Man könnte aber auch denken, dass sich Ihr Pub­likum zwar gerne einen Film über ein Flüchtlingsschicksal ansieht und davon auch auf einer moralischen Ebene gerührt ist, es aber zugleich ganz entgegengesetzte Interessen hat. Es liegt ja nicht unbedingt im Interesse dieser europäischen Mittelschichten, Migranten auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrenten mit gleichen Rechten zuzulassen. Und viele pro­fitieren von den »Sans Papiers«, die sich als billige Arbeitskräfte ausbeuten lassen müssen.
Das ist eine sehr pessimistische Auffassung. Das hieße ja, dass man gar nichts machen sollte. Nein, ich denke, das Kino kann etwas bewirken. Obwohl ich schreckliche Angst vor einem Kino ha­be, das mich zum Nachdenken bringen will. Da denke ich mir immer: Für wen hält der Typ sich? Was denkt sich der Filmemacher da eigentlich? Ich will keinen Lehrer, der mich belehrt, nichts has­se ich mehr als das. Aber ich hasse auch platte Filme, aus denen ich herausgehe, als wäre nichts passiert. Ich möchte betroffen sein von einem Film. Wenn der Film ein großes Publikum bewegt, habe ich meinen Job getan. Ich will nicht den Lehrer spielen.
Gab es auch Menschen, die Ihrem Film vorwarfen, nicht engagiert genug zu sein?
Natürlich gibt es Leute, die sagen: »Was soll diese Liebesgeschichte in Ihrem Film? Man hätte eine pure, harte Dokumentation machen müssen.« Aber niemand hätte sich das angesehen, ich hätte nichts daran verdient, und auch sonst wäre niemandem damit geholfen. Der Film funktioniert wegen der Kraft der Fiktion und der Kraft der Identifikation. Wenn unter der Ankündigung von »Welcome« stünde: »politischer Film« oder ähnliches, würde ich nicht hingehen. Als Zuschauer will ich sofort in den Film eintauchen, Teil der Geschichte sein, mich mit der einen oder anderen Figur identifizieren, lachen, Angst haben, weinen, mit den Leuten auf der Leinwand revoltieren. Das ist es, was das Kino uns geben kann.