Auf der Berlinale wird viel zurückgeblickt und recycelt

Der Müll, die Nazis und die Angst vor Hartz IV

Auf der 60. Berlinale wird zurückgeblickt und recyclet, was die Filmgeschichte hergibt.

Die Torte zum Auftakt der Berliner Filmfestspiele war lecker: Marzipan mit aufgestäubten Bären aus Puderzucker. Ganz klar: Zum 60. Jubiläum der Berlinale kann man eben auch mal Randaspekte des Kinos beleuchten. Und so wird die Kunstinstallation »Vorhang auf – The Curtain!« am Brandenburger Tor von der Macht des Kinos erzählen. Und von seiner Größe! Die koreanisch-amerikanische Designerin Christina Kim hat einen 300 Quadratmeter großen Kinovorhang aus recycleten Film- und Berlinale-Versatzstücken, DVDs und anderen »Materialien aus der Filmwelt« (Berlinale-PR) gebastelt.
»Materialien der Filmwelt« – daraus lässt sich eine Menge machen. 60 Jahre Filmfestspiele, das sind auch viele Filmtitel. Und so finden sich auf dem offiziellen Plakat 15 000 davon – alle Filme, die jemals gezeigt wurden. Das Ergebnis ist nun ein bisschen pixelig. »Film, das sind doch Bilder«, sagte ein Kritiker bei der offiziellen Vorstellung des Plakats.
Diese Strategie des Recyclings mag ein wenig gewöhnungsbedürftig sein, aber sie ist nur logisch. Denn ein solches Jubiläum bietet natürlich Gelegenheit zur Introspektion. 1951, Filmfestspiele der Freiheit, Besatzungszone, Kalter Krieg, Gary Cooper, Willy Brandt, Mauerbau – im Programm der diesjährigen Berlinale finden sich allerorten Erwähnungen historischer Ereignisse.
Nur Michael Verhoevens Anti-Vietnam-Kriegsfilm aus dem Jahr 1969, der 1970 zum Abbruch des Festivals geführt hat, hat sich nicht auftreiben lassen.
Die Berlinale ist aber weit davon entfernt, nur in der Geschichte zu wühlen. Sie ist absolut zeitgemäß. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal in einer Kunstausstellung hängen werde«, sagt ein Mann, der als Sortierer auf Rio de Janeiros größter Müllkippe, der Jardim Gramacho, arbeitet.
Der Mann beteiligt sich an einem Projekt des brasilianischen Künstlers Vic Muniz, der Menschen bei ihrer Arbeit fotografiert hat. Die Fotografien hat er riesengroß auf den Fußboden projiziert. Dort wurden sie mit Utensilien aus Gramacho ausgelegt und wiederum fotografiert, gerahmt und eingepackt. Mit den Bildern hat Muniz auf Auktionen viel Geld gemacht, das an die Gewerkschaft eben jener Müllsammler fließt. Die Regisseurin Lucy Walker hat dieses Projekt begleitet und einen überaus packenden Film gedreht: »Waste Land« heißt der Beitrag, der im Panorama läuft.
Von Müll reden die Sammler übrigens nie: Sie sprechen von »recyclebaren Stoffen«. Da sind sie in Berlin an der richtigen Adresse. Dort trieb der Film den Zuschauern die Tränen in die Augen. Gut, dass sich eine Firma aus dem Filmbusiness dieses Jahr ein besonderes Gimmick hat einfallen lassen: Taschentücher in der großen Familienbox.
Wer sich auf Projekte wie »Waste Land« kapriziert, abseits des größeren und großen Kinos, gern aus kleineren Filmländern, der findet hier viele gelungene Filme. Wie ein Nachrichtenkanal pustet das Filmfest Infos aus der Welt in die Welt hinaus.
Die Festivalsektion Panorama könnte in diesem Jahr unter dem Motto »Die Dysfunktionalität der Familie« stehen, denn überall auf der Welt kracht die Familie auseinander. In »Waste Land« gibt es keine Frau, die nicht von ihrem Mann sitzengelassen wurde. Manche sind sogar ganz froh darüber. Anderen Frauen ist der Gatte weggestorben. Die Eltern auch, in jungen Jahren schon. Und die postindustrielle Gesellschaft mit ihren Mobilitätsanforderungen knabbert stetig an der Familie, der Keimzelle der Gesellschaft, herum, die doch früher als Folterwerkzeug galt.
Auch die Müllwerker in »Waste Land« sind viel unterwegs. Zwei Stunden fahren sie zur Arbeit und wieder zurück. Die Dinge auf der Kippe können sie genau einteilen: hier Unterklasse-, da Mittel-, dort Oberklassegerümpel. »Wir finden hier viele Bücher«, sagt der Gewerkschafter. Und lässt sich als toter Marat in einer auf der Müllkippe gefundenen Badewanne ablichten.
Die Gewerkschaftsbibliothek ist ein großes Ding. Auf der Fahrt nach Hause werden die Bücher gelesen. Und so ist auch dieser Film zum Thema Arbeit ein Roadmovie.
Stoffe aus der Gegenwart sind für deutsche Filmemacher nicht die erste Option. Durch den deutschen Film muss Hitler gehen. So wie in »Jud Süß«, dem Wettbewerbsbeitrag von Oscar Roehler. Dort geht es um die Umstände, unter denen der erfolgreichste Nazi-Propagandafilm entstanden ist. Nichts gegen Aufarbeitung der Vergangenheit, aber: Moritz Bleibtreu als Josef Goebbels? Das hat schwer was von Charakterfach. Das Nazi-Theater löst das Kasperletheater ab. Oder besser: den Dr. Faustus. Die Dramatik, die Fallhöhe! Wer spielt Eva Braun? Und wer brilliert als Blondi?
Die Jury um Werner Herzog und Renée Zellweger entscheidet, welche der 26 Wettbewerbsfilme ausgezeichnet werden. Die Filme kommen aus Argentinien, Bosnien-Herzegowina, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Japan, Norwegen, Rumänien, Russland, Schweden, den USA und dem Iran.
Nein, so ganz stimmt das mit dem deutschen Film aber auch wieder nicht. Denn auch hier gibt es ein weniger auffälliges Kino, die Festivalsektion Perspektive Deutsches Kino bietet solches: Der Film »Lebendkontrolle« von Florian Schewe setzt sich mit dem Thema Knast aus­einander. »Narben im Beton« von Juliane Engelmann, der Titel spricht Bände. Es geht um eine junge Mutter aus der abrutschenden Mittelschicht.
Selten genug, aber hier ein Thema: Drogen. Die Kölner Filmemacherin Carolin Schmitz nennt ihren Dokumentarfilm »Porträts deutscher Alkoholiker«  – starring: Anwälte, Beamte, Hausfrauen und Geschäftsführer. Sie alle eint das gemeinsame Ziel: Saufen. Mit ihrem Suchtproblem, das wird in diesem Film klar, stehen sie nicht alleine da. Die ganze Gesellschaft hat eins.
Das Forum der Berlinale – es feiert seinen 40. Geburtstag – zeigt insgesamt 34 Filme im Hauptprogramm. Sind die Familien im Panorama zerrüttet und im Deutschen Kino betrunken, so zeigt das Forum, warum dies so ist: Wir sind alle schwer verunsicherte Individuen.
In dieser Festivalsparte wird nach persön­lichen Lebensentwürfen gefragt, nach dem Alleinstellungsmerkmal: Angela Schanelec dreht ein Kammerspiel in der Abflughalle des Pariser Flughafens Orly. Bedeutet: persönliche Geschichten, Dramen, existenzielle Konflikte.
Tatjana Turanskyjs Spielfilmdebüt »Eine flexible Frau« porträtiert mit einer gewissen Komik eine Frau Anfang vierzig, die ihren Job verliert, sich aber mit der erstickenden Hartz-IV-Wirklichkeit schon mal gar nicht anfreunden mag.
Der Kracher aber ist Dominik Grafs »Im Angesicht des Verbrechens«. Der handelt von der russischen Unterwelt des Berliner Westens. Ursprünglich als Fernsehserie konzipiert, dauert der Film acht Stunden. Man könnte sagen: ein Film mit den neuesten Anforderungen an das Kino, letzte Ausfahrt vor 3-D. Der Zuschauer wird in die cineastische Traumwelt der besonderen Art entführt: die Realität. Die wird hier konsequent wiederverwertet.