Die Gelöbnis-Krawalle in Bremen 1980

Zapfenstreich am schwarzen Dienstag

Vor dreißig Jahren wurden in Bremen erstmals Bundeswehrrekruten außerhalb einer Kaserne vereidigt. Bei den Protesten gegen das Gelöbnis wurden auch einige Militärfahrzeuge angezündet. Ein Rückblick.

Im Laderaum eines LKW zu einer Demonstration zu fahren, weckt revolutionsromantische Gefühle. »Wie beim Rotfrontkämpferbund«, witzelte einer der Punks, die uns diese Mitfahrgelegenheit angeboten hatten. Anders als bei lange geplanten Großdemonstrationen gab es am 6. Mai 1980 keinen Konvoi nach Bremen. Doch das Gefährt, gesteuert von einem Mann, der keinen Iro, sondern einen für LKW-Fahrer typischen Backenbart trug, gestattete die unauffällige Anreise.
An diesem Tag fand im Bremer Weserstadion das erste Gelöbnis in der BRD außerhalb einer Kaserne seit 1945 statt, die Hauptansprache hielt ein Bundespräsident, der nicht nur in der linken Szene »Carstens SS« genannt wurde. Das war nicht ganz präzise, denn Karl Carstens war Mitglied der SA und der NSDAP gewesen. Nun vertrat er als CDU-Politiker die Ansicht, ungeachtet der »zwölf Jahre«, wie Männer seines Schlages die Nazi-Zeit gerne nannten, bedürfe es eines positiven Geschichtsbildes als einer »geistigen und seelischen Heimat«. Dazu gehörte auch die Rehabilitierung militärischer Traditionen.

Man konnte, ja musste damals zugleich »anti­deutsch« und »antiamerikanisch« sein. Die US-Regierung hatte dem iranischen Schah-Regime bis zuletzt die Treue gehalten und bereitete gerade die indirekte Kriegführung gegen die Sandinisten in Nicaragua vor. Was auch immer zur Unterstützung rechtsextremer Diktaturen unternommen wurde, befürworteten die deutschen Parteien, und durch besonderen antikommunistischen Eifer taten sich meist jene hervor, die bereits mit Hitler gegen den Bolschewismus zu Felde gezogen waren. Überdies war im Dezember des Vorjahres die »Nachrüstung«, die Stationierung nuklear bestückter Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, beschlossen worden. Damals wurde in der Linken zumeist angenommen, es handele sich um die Vorbereitung eines atomaren Erstschlags gegen die Sowjetunion. Ob diese Befürchtung berechtigt war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, doch gab es zahlreiche Äußerungen führender US-Politiker und Militärs, die bestätigten, dass über einen Angriffskrieg zumindest diskutiert wurde. Maßgeblich initiiert hatte die »Nachrüstung« Bundeskanzler Helmut Schmidt, der schon den »Deutschen Herbst« zu verantworten hatte. Dessen ebenfalls sozialdemokratischer Verteidigungsminister Hans Apel war für die Organisierung des »Großen Zapfenstreichs« verantwortlich.
Da war der Zapfen ab. Für einen jungen Menschen gab es genügend Gründe zu randalieren, zumal wenn er befürchten musste, er könne bald selbst zu jenen erbarmungswürdigen Gestalten gehören, die schwören mussten, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen«. Schließlich musste damals jeder Kriegdienstverweigerer eine »Gewissensprüfung« bestehen, und der Widerwille gegen das Dienen im Allgemeinen und insbesondere den Dienst für Deutschland zählte nicht als legitimer Verweigerungsgrund.

Welches Pflastersteinformat eine Stadverwaltung wählt oder ob sie grundsätzlich auf die Grauwacke verzichtet, so dass einem Steinwurf das mühselige Ausgraben und Zerlegen einer Gehwegplatte vorausgeht, hat erhebliche Auswirkungen bei Konfrontationen mit der Staatsmacht. In Bremen gab es sehr große Pflastersteine. Die Polizei musste sich zeitweise zurückziehen, ei­nige Demonstranten erreichten das Tor zum Stadion. Wirklich hinein in die Arena zu einer Massenschlägerei mit Polizisten, Soldaten und reaktionären Zuschauern wollte aber eigentlich sowieso niemand. In der Nähe des Stadions wurden dann einige Fahrzeuge der Bundeswehr angezündet, andere fuhren zerbeult vor, weil sie eine Brücke passiert hatten, auf der zahlreiche Demonstranten standen. Die Polizisten erwiesen sich einmal mehr als schlechte Verlierer. Beim Rückzug der Demonstranten war es bereits dunkel, die Polizisten warfen viele Pflastersteine in die Menge, in der, anders als auf Seiten der Uniformierten, nur wenige einen Helm trugen.
Der 6. Mai 1980 war ein Dienstag und somit nicht der günstigste Tag für Proteste. Die Medien gaben die Zahl der Demonstranten mit 10 000 an, viel mehr waren es wohl tatsächlich nicht. Doch hatten Polizei und Geheimdienste die Zahl der Militanten unterschätzt. »Mir hat kein Mensch gesagt, ich zünde ein Auto an, ich kippe einen Lastwagen um, ich schmeiße einen Molotowcocktail«, klagte ein Offizier des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) später vor dem Untersuchungsausschuss.
Bei Radio Bremen war man besser informiert. »Es war vorher klar, dass es da zu Krawallen kommen würde, und deshalb waren wir auch mit so vielen Reportern vor Ort«, sagte der heutige Filmproduzent Eiken Besuden der Jungle World. Die Jugendfunk-Sendung »Großer Popkarton« erinnerte dann ein wenig an die Fußballberichterstattung. Besuden sagt, er habe keine größere Sympathie mit den Randalierern gehabt, aber es gab in der Sendung kritische Bemerkungen über die Vereidigung und selbstverständlich habe man auch über die Polizeigewalt berichtet. Das genügte, um bei vielen Politikern in Bremen und in der Lokalpresse Empörung über die Berichterstattung auszulösen. Politiker forderten, dass den verantwortlichen Redakteuren gekündigt werden sollte, ein Gefallen, den Radio Bremen ihnen aber nicht tat.
Die bürgerliche Presse hat in Bremen auch die Autonomen entdeckt. Der Begriff wurde in den Medien gebräuchlich, der Spiegel widmete uns ein Titelthema und wir konnten uns fortan in größerem Ruhm sonnen. Szene-Historiker streiten bis heute darüber, ob der 6. Mai 1980 wirklich die Geburtsstunde der Autonomen war, diese bereits während des Tunix-Kongresses in Berlin zwei Jahre zuvor das Licht der Welt erblickt hatten oder eigentlich seit 1968 schon da waren. Dass wir unsere im Sommer 1980 gegründete Gruppe »Autonome Linke Meiendorf« nannten, war eher der Tatsache zu verdanken, dass wir uns zwischen Kommunismus und Anarchismus nicht recht entscheiden konnten und es ein guter Kompromiss schien, sich einfach »autonom« zu nennen. Eigentlich ist das auch eine gute Definition.
Es ist ja auch 30 Jahre später noch nicht ganz klar geworden, was »die Autonomen« ausmacht. Schon deshalb lässt sich schwerlich eine Geburtsstunde bestimmen, und Recht haben am Ende alle. Die Autonomen gingen aus jener Fraktion der »neuen Linken« hervor, die sich weder den Sozialdemokraten noch den marxistisch-leninistischen Parteien anschließen wollte. Der Tunix-Kongress war ein erster Versuch, die Lähmung nach dem »Deutschen Herbst« zu überwinden, und mit der Demonstration in Bremen begann das, was die an der italienischen Autonomia Orientierten als »neuen Kampfzyklus« und die Antiimps als »neuen Kampfabschnitt im imperialistischen Zentrum« bezeichneten. Die Szene gewann wieder an Selbstbewusstsein, bald folgte eine Welle von Hausbesetzungen.

Das Gelöbnis sollte die militärpolitische Einigkeit von SPD und CDU, aber auch ein neues deutsches Selbstbewusstsein demonstrieren. Auch viele Sozialdemokraten waren empört über die Vereidigungszeremonie. Diese Dissidenten hatte Verteidigungsminister Apel vor einer Beteiligung an den Protesten gewarnt: »Wenn es im Weserstadion zu Krawallen kommen sollte, schadet das sicherlich unserer Friedenspolitik und führt angesichts dieser zentralen Veranstaltung zu weltweitem Echo.« Die Differenzen über die »Friedenspolitik« ließen sich jedoch nicht ausräumen, die sozial­liberale Regierung musste erkennen, dass die »Nachrüstung« nicht so widerspruchslos akzeptiert werden würde, wie man gehofft hatte. In gewisser Hinsicht waren die brennenden Bundeswehrfahrzeuge ein Leuchtfeuer, das die Friedensbewegung ankündigte.
In den Aufrufen mangelte es nicht an anti­imperialistischen Plattheiten, und eine größere Distanz zu manchen Bewegungen in der »Dritten Welt« hätte auch damals nicht geschadet. Doch zumindest unter den Militanten war von jenem deutschnationalen Opfermythos, der sich später in der Friedensbewegung verbreitete, nichts zu spüren. Der Protest in Bremen war auch eine antifaschistische und antinationale Demonstration. Der Antifaschismus orientierte sich meist noch an der Dimitroff-Definition, die allein die reaktionärsten Fraktionen der Bourgeoisie für den Nationalsozialismus verantwortlich machte. Die antinationale Haltung basierte oft auf fragwürdigen NS-Vergleichen, drückte aber auch schlicht Abscheu gegen die BRD und ihr Personal aus.
»Dass es gestern abend Krieg gab«, wie der Bremer CDU-Politiker Bernd Neumann am folgenden Tag behauptete, war weit übertrieben. Doch immerhin wurde am »schwarzen Dienstag«, wie der 6. Mai 1980 von den Bremer Medien genannt wurde, deutlich, dass nicht alle der BRD treu dienen wollten.