Protest an der Basis der französischen Gewerkschaften

Zögerliche Gegenmacht

Die französischen Gewerkschaften konnten am 1. Mai nicht viele Menschen auf die Straße bringen. Immer mehr französische Arbeitnehmer sind mit einer Verhandlungspolitik unzufrieden, mit der man nicht mehr in die sozialen Konflikte in­tervenieren kann. An der Basis der Gewerkschaften radikalisiert sich der Protest.

Die französischen Gewerkschaften wüssten, wie es anders ginge, wenn sie denn wollten. Ihre letzte großangelegte Offensive liegt allerdings 15 Jahre zurück. 1995 verhinderten die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst einen Angriff auf die Rentenregelungen der Eisenbahner, indem sie vier Wochen lang keinen einzigen Zug verkehren, keinen Bus fahren und keinen Brief austragen ließen. Der Streik war ausgesprochen populär und wurde bis zum Schluss von über 60 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Denn viele wussten, dass es auch ihren »sozialen Errungenschaften«, einer nach der anderen, an den Kragen gehen sollte.
Nichts dergleichen ist derzeit zu beobachten. Die zentrale Auseinandersetzung, die sich im Moment abzeichnet, betrifft die drohende Rentenreform, deren genauer Inhalt erst im Juni bekanntgegeben wird. Voraussichtlich wird die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse auf mindestens 42,5 angehoben. Vor einem guten Jahrzehnt waren es noch 37,5, inzwischen sind es 40 Jahre.

Aber die Gewerkschaften zeigen sich ausgesprochen zögerlich. Zunächst konnten sie am 23. März gegen die drohende Reform rund 600 000 Menschen auf die Straßen bringen. Das war für französische Verhältnisse kein großer Erfolg, aber ein beachtliches erstes Kräftemessen. Eine Woche später beschlossen die versammelten Gewerkschaftsführungen, am 1. Mai, im Rahmen der an diesem Tag ohnehin üblichen Aufmärsche, erneut zu protestieren.
Die Maidemonstrationen dürften Präsident Nicolas Sarkozy kaum beeindruckt haben, zumal die Beteiligung gering war. Je nachdem, ob man den Angaben des Innenministeriums oder der Gewerkschaftsführungen glauben mag, kamen zwischen 200 000 und 350 000 Menschen zu den Demonstrationen, deutlich weniger als in Deutschland, wo der DGB rund 484 000 Menschen zählte.
In Paris waren es rund 30 000, doppelt so viele, wie üblicherweise in der französischen Hauptstadt zu einer Demonstration am 1. Mai kommen, wenn gerade nichts auf dem Spiel steht. Im vorigen Jahr hatten die Gewerkschaftsverbände ihre Kampagne gegen die Krisenpolitik Nicolas Sarkozys ebenfalls mit den Maidemonstrationen zusammengelegt. Damals gingen jedoch knapp eine Million Menschen auf die Straßen, was schon einen Rückgang darstellte, denn im Januar und März 2009 waren es schon mal zwei Millionen gewesen.
In dieser Woche wollen nun die Gewerkschaftsverbände über ihre nächsten Schritte beraten. Zumindest verbal läuft sich die CGT warm. Der mitgliederstärkste Gewerkschaftsverband in Frankreich, der früher parteikommunistisch beeinflusst war und heute eine sozialdemokratische Führung hat, warnte die Regierung am Sonntag, sie solle die mäßige Beteiligung am 1. Mai keinesfalls als »Entwarnung« werten. Die CGT werde dafür sorgen, dass die Lohnabhängigen wachsam blieben und keine gravierenden Einschnitte hinnehmen müssten. Aber de facto lassen alle größeren Gewerkschaftsapparate die Mobilisierung derzeit ins Leere laufen.
Dies ist auch eine Konsequenz der Tatsache, dass die Regierung in den vergangenen Jahren intelligent genug war, die CGT, die früher ein »rotes Tuch« in den Augen der französischen Konservativen war, einzubinden. Die seit 2008 laufende Reform der »Tariffähigkeit« begünstigt die größten Dachverbände, also die CGT und die CFDT. Und sie dürfte dafür sorgen, dass kleinere Verbände, »gelbe« und christliche Gewerkschaften in absehbarer Zeit verschwinden oder fusionieren müssen. Im Gegenzug geht die CGT überwiegend zu einer Gewerkschaftspolitik über, die sich vor allem am Verhandlungstisch abspielt und nicht, wie früher, zuallererst ihre »soziale Gegenmacht« auf der Straße zeigen möchte, bevor sie sich auf Verhandlungen einlässt. Die deutschen Gewerkschaften, die früher nur für die deutlich rechts von der CGT stehende CFDT-Spitze das Modell bildeten, erscheinen inzwischen auch der ehemaligen »roten« Konkurrenz als Vorbild.

Doch an der Basis radikalisieren sich die Proteste auf lokaler Ebene immer mehr, wie die Protestaktionen in vielen französischen Betrieben zeigen. Die Pariser Abendzeitung Le Monde stellte am 16. April anhand eines längeren Berichts fest: »Der soziale Unmut in Frankreich wächst unmerklich, aber sicher an.« Um diese Einschätzung zu untermauern, wurden nicht nur aktuelle Abwehrkämpfe gegen drohende Massenentlassungen angeführt, sondern auch eine ganze Reihe betrieb­licher Lohnkämpfe, die sich gegenwärtig zuspitzen. Angesichts der Krise seien im vergangenen Jahr kaum oder gar keine Lohnerhöhungen gewährt worden. Aber, so zitiert das Blatt einen örtlichen CFDT-Gewerkschafter, »die Lohnabhängigen radikalisieren sich schneller als früher (…). Sie können schreiende Ungerechtigkeiten, wie eine Streichung der Lohnzuschläge für Produktionsarbeiter, nicht länger akzeptieren, während gleichzeitig die Dividenden der Aktionäre erhöht werden.« Neu sei unterdessen, dass neben Großunternehmen wie Ikea, die im Winter wochenlang bestreikt worden waren, auch kleinere Betriebe von solchen Arbeitskonflikten erfasst würden. Bei den Pariser Sparkassen wurden vor 14 Tagen zwei Direktionsmitglieder von 300 bis 400 Beschäftigten, die Lohnerhöhungen um fünf Prozent forderten und sich gegen einen für übernächstes Jahr drohenden Stellenabbau wehrten, eine Nacht lang festgesetzt.
Aber vor allem dort, wo massive Entlassungen unter dem Vorwand der »Krise« drohen, auch wenn die Umstrukturierungsmaßnahmen meist seit Jahren geplant sind, wie bei den Zulieferern im Automobilsektor, spitzen sich die Konflikte mitunter zu. So drohten Mitte April in einigen Unternehmen, die vor der Schließung ihrer Produktionsstätten stehen, die Lohabhängigen mit explosiven Konsequenzen.
Der Automobilzulieferer Sodimatex in Crépy, etwa 50 Kilometer nördlich von Paris, hatte zuvor 55 Millionen Euro Subventionen im Namen der Arbeitsplätze eingestrichen. Nun will er jedoch seine Produktion von Fußmatten für Autos in billigere Länder wie Spanien und Portugal verlagern.
Die gut 90 Lohnabhängigen installierten daraufhin 5 000 Liter Flüssiggas auf dem Dach und drohten damit, das Werk in die Luft zu jagen. Sie erhielten nach zweiwöchigen zähen Verhandlungen, was sie forderten: Sie wollten 21 000 Euro Abfindungszahlungen pro Kopf, 22 000 wurden es am Ende. Umstritten ist jedoch noch, welche zuvor von der Firma ausgezahlten Summen darauf angerechnet werden sollen und welche nicht.