Der Giro d’Italia startet in Amsterdam

Fast alles wird rosa

Auslandsetappen sind bei großen Rad-Rundfahrten Standard geworden. Doch wie läuft so etwas eigentlich ab? Ein Blick hinter die Kulissen des Giro d’Italia, der Anfang Mai beginnt – und zwar in Amsterdam.

Patt. Es ist unmöglich, zwischen Lodewijk Asscher und Michele Acquarone einen Sieger zu ermitteln. Der Bürgermeister von Amsterdam und der Direktor des italienischen Sportmanagement-Giganten RCS grinsen um die Wette. Perfekt spielen beide ihre Rollen: Bürgermeister Lodewijk Asscher gibt den spröden Calvinisten, spricht von harter Arbeit, an deren Ende ein gigantischer Erfolg stehen werde, von gewissenhafter Organisation und vom Stolz, dieses großartige Event ausrichten zu dürfen. Der Sportmanager und Lebemann Michele Acquarone dagegen, wegen der Aschewolke über Europa nur per Skype zugeschaltet, spekuliert schon über die Partynächte in der Grachtenmetropole, über die er selbstredend nur in Superlativen spricht: Das Herz des Fahrradfahrens sei Amsterdam, nirgends sonst auf der Welt gebe es so viele Velos, und daher sei die Ehre ganz auf Seiten des Giro-Veranstalters RCS.
Ort dieser Pathos-Offensive war das Hilton-Hotel der niederländischen Hauptstadt, das dem Anlass entsprechend herausgeputzt war. »Count­down zum Giro« hieß es, wenige Wochen bevor dessen 93. Auflage am 8. Mai mit einem Einzelzeitfahren durch Amsterdam beginnt. Die Tabletts des Hotels waren mit Titelseiten der Gazetta dello Sport überzogen, die den Giro d’Italia initiiert, das Personal trug Schürzen in Rosa, der Farbe jener italienischen Sportzeitung, rosa Blumengedecke zierten die Lobby, rosa Trinkflaschen jede erdenkliche Ecke im Veranstaltungsraum, und den geladenen Gästen wurden Törtchen in dubiosem Knallpink kredenzt. Draußen in der Stadt kreuzt die Tramlinie 3 schon seit Wochen im passenden Gewand durch die Straßen, außerdem 75 Fahrradkuriere. Keine Frage, sieben Jahre nach dem Beginn der ersten Planungen hatte der Countdown begonnen.
Eigentlich, erklärt die städtische Sportdezernentin Carolien Gehrels, liebäugelte Amsterdam schon mit dem Gedanken an den Giro-Start 2006. Doch das damalige finanzielle Konzept wies Lücken auf, und so vergab der Veranstalter den Start kurzerhand an Belgien. 2007 versuchte man es erneut. Der Stadtrat hatte einen Antrag angenommen, Großevents nach Amsterdam zu holen, das sich in der Konkurrenz des internationalen City-Marketings zunehmend unter dem Label »topstad« inszeniert. Und dann gibt es da noch den »Olympischen Plan 2028«. In diesem Jahr nämlich will Amsterdam das wichtigste Sportereignis der Welt ausrichten, und bis dahin soll möglichst jährlich bewiesen werden, dass die Stadt in dieser Kategorie bestens bestehen kann.
Behilflich bei der Bewerbung war Roberto Payer, General Manager des besagten Hilton-Hotels und Vorsitzender der italienischen Handelskammer in den Niederlanden. Im Frühjahr 2009 erhielt Amsterdam den Zuschlag. »Wir waren der einzige Konkurrent«, sagt Gehrels, »naja, fast.« Fast? Nun, es gab da noch Den Haag, aber dem Marketingtraum Amsterdam, also »klassische Rundfahrt« meets »Fahrradkapitale«, wusste die schnöde Diplomatenstadt nichts entgegenzusetzen. Und außerdem weiß die Politikerin: »Italiener lieben Amsterdam. Die Veranstalter wollten unbedingt hierhin.« Belegen kann sie ihre Aussage auch: Fünf Tage bleiben italienische Gäste im Durchschnitt in der Stadt. Ob das am Beinamen Venedig des Nordens liegt? Oder woran wohl sonst?
Der Giro nimmt sich die Statistik zum Vorbild und bleibt immerhin drei Tage: zum Auftakt das Einzelzeitfahren, dann eine Etappe von Amsterdam nach Utrecht, und zum Schluss noch eine weitere quer durchs Land bis nach Middelburg im Südwesten des Landes. In der Regel beschränkt sich ein Auslandsstart auf einen Tag. Als Zuschlag gibt es vorab bestenfalls noch einen Prolog. Anders als die Tour de France, die den Auftakt seit 1954 regelmäßig außer Landes verlegt (Pionier übrigens: Amsterdam), wurde dies beim Giro erst in den neunziger Jahren zur Gewohnheit. Den Ausschlag gibt die wirtschaftliche Seite: Italien vermarktet sich dabei international, der Gastgeber tut ebendies vor allem in Italien, und dazu erreicht die Veranstaltung von Beginn an ein breites Publikum. Wer, außer die aficionados, verfolgt schon die kaum entscheidenden Etappen am Anfang einer Rundfahrt?
300 000 Gäste erwartet Amsterdam zum großen Girofest. 25 Millionen Euro sollen sie nach drei Tagen zurücklassen, rechnet die Sportdezernentin Gehrels vor. Dem gegenüber stehen Ausgaben von 5,5 Millionen Euro und die Gebühr, die jeder Etappenort an den Veranstalter überweist. Der Start kostet in diesem Jahr 750 000 Euro. Anfang April erfuhren die drei niederländischen Gastgeber zudem, dass der Staat seine Gesamtzuschüsse von zwei Millionen auf 750 000 Euro kürzt. Auch Gehrels war zuerst »enttäuscht«. Zwei Wochen später tut sie den Betrag lachend ab: Der italienische Straßenmarkt, das Musikfestival, all die gastrokulinarischen Arrangements in der Hauptstadt lassen das verschmerzen. Anders sieht dies in Utrecht und vor allem im kleinen Middelburg aus. »Exorbitant viel« nannte das dortige Sportdezernat den Verlust von 400 000 Euro, der die Stadt nun zu Budgeteinschnitten zwinge.
Am anderen Ende des Geldstroms sitzt Harold Knebel, seines Zeichens Direktor des Rabobank- Rennstalls. Der Finanzversicherer ist der größte Sponsor im niederländischen Sport. Einfluss auf die Auswahl der Giro-Gastgeber hat die Rabobank zwar nicht, wie Knebel lachend dementiert. Dass aber das Finish der zweite Etappe in Utrecht direkt vor dem neuen Firmensitz der Rabobank liegt, sei seinem Arbeitgeber schon sehr wichtig. Doch lieber als übers Geschäft spricht Knebel vom Enthusiasmus der Radsportfans in Italien und den Niederlanden, die überall an der Strecke den Fahrern Essen und Getränke reichen. Schließlich startete im vergangenen Spätsommer auch das spanische Radrennen »Vuelta a España« in der Provinz Drenthe. Dazu nun der Giro – und im Juli beginnt dann die Tour de France in Rotterdam. Da fragt sich auch Knebel, ob es nicht »vielleicht ein bisschen zu viel« sei.
Herman van Vliet macht sich eher Gedanken über einen Mangel. »16 Kilometer Absperrgitter« brauchte der Direktor des »Projektbureau Giro d’Italia«, einer stadtinternen Arbeitsgruppe, in der neben den 30 regulären Beamten zehn Mitarbeiter ein Jahr lang ausschließlich mit der Planung beschäftigt sind. Die Frage der Gitter löste sich vergleichsweise schnell – Lastwagen importieren die fehlenden Teile aus Belgien. Schwieriger dagegen war es, eine geeignete Route auszuarbeiten: »Es gibt hier eher kleine Gassen, keine breiten Straßen wie in Rotterdam. Diese Stadt ist nicht gebaut für ein Radrennen mit 50 km/h. Also müssen wir sie brauchbar machen für etwas, für das sie nicht geeignet ist.« Dass gerade das Einzelzeitfahren durchs Zentrum als Visitenkarte der Stadt fungiert, indem es der Welt »ein bisschen was von Amsterdam zeigen« soll, bringt van der Vliet daher in ein Dilemma. Zu allem Überfluss ist am Tag darauf Muttertag: »300 000 kommen zum Giro, 700 000 wollen noch ein Geschenk kaufen, und bevor du es weißt, hast du einen Prozess am Hals.«
Mit kniffligen Konstellationen kennt sich auch Reineke Boot aus. Ihre Sportmarketingagentur wurde von der Stadtverwaltung engagiert, um die Infrastruktur während der Giro-Tage anzupassen. Mit einer klaren Mission: »Das Spannungsfeld zwischen Bewegungsfreiheit der Bewohner und der Sicherheit des Rennens ist möglichst klein zu halten.« Was das im Einzelnen bedeutet? Wege umleiten, Wohnviertel abschließen und die Gleise der allgegenwärtigen Trams sichern. Diese werden mit flexiblem PVC-Schaum gefüllt, der hinterher leicht zu entfernen ist. Darüber werden 30 Zentimeter breite Asphaltstreifen gelegt, 600 Meter insgesamt für 15 Übergänge. Obwohl die Route des Zeitfahrens den ganzen Tag abgesperrt sein wird, sollen Anlieger nicht in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Dafür sorgen fünf zusätzliche Brücken über den Kanälen. Reedereien beteiligen sich mit Sonderbooten am Transport. »Wir sind stolz«, so Reineke Boot, »eine ortstypische Lösung für dieses Problem gefunden zu haben.«
Allerdings stoßen solche vermeintlich »echt Amsterdamer« Initiativen nicht immer auf Begeisterung. Dies erfuhr im Februar Groen-Links-Stadtrat Marco de Goede, als er sich auf eigenmächtige Weise mit dem Protokoll befasste und sich Gedanken über die Ehrung der Etappensieger mit dem Rosa Trikot machte. »Eine Etappen-Miss ist hoffnungslos altmodisch und sexistisch. In einer Stadt, die als Gay Capital bekannt ist, wäre es schön, das von zwei attraktiven Männern erledigen zu lassen«, spekulierte de Goede. »Oder von einer Drag Queen.«
Dieser Vorschlag jedoch zog prompt eine harsche Reaktion aus Italien nach sich: »Wir bestimmen selbst, welche Frauen auf dem Podium stehen«, donnerte es von der Rennleitung zurück. »Auch in Amsterdam wird dem Gewinner nun von zwei Frauen gratuliert, die von der Giro-Organisation gewählt wurden.« Womit erwiesen ist, dass auch im Jahr 2010 dem Citymarketing noch Grenzen gesetzt sind. Zumindest, was die Interpretation der Farbe Rosa betrifft.