Nach dem Tod der drei Bankangestellten diskutiert die anarchistische Bewegung in Athen über Militanz

Zur falschen Zeit am falschen Ort?

Wie geht es weiter nach dem 5. Mai? Die antiautoritäre Bewegung in Griechenland diskutiert über die Toten in Athen, die Militanz und die Staatsgewalt.

Am Abend nach dem Brand in der Filiale der Marfin-Bank gleicht Athen einer Geisterstadt. Nach einer der größten Demonstrationen der vergangenen Jahre erscheint das alternative Viertel Exárchia menschenleer. Nur ein massives Polizeiaufgebot ist auf den sonst so belebten Straßen präsent.
Doch in allen sozialen Zentren und besetzten Häusern des Viertels finden vollbesetzte Diskussionsveranstaltungen statt. Die antiautoritäre Bewegung in Athen steht unter Schock, nachdem am 5. Mai drei Menschen bei einem Brandanschlag auf eine Bank starben.
Die Ansichten darüber, wer die Verantwortung für die Todesopfer trägt und wie die Bewegung mit der neuen Situation umgehen soll, gehen auseinander, denn »man kann in Griechenland nicht von einer Protestbewegung sprechen, es gibt Hunderte von Gruppen und Einzelpersonen«, sagt Tassos vom Netzwerk Void.

»Die Bankangestellten befanden sich im zweiten und dritten Stockwerk. Die Bank war geschlossen und schien leer zu sein, so wie das normalerweise der Fall ist, wenn sich Banken an einer Demoroute befinden. Der Filialleiter hat seine Angestellten dazu gezwungen, an diesem Tag zur Arbeit zu erscheinen, es gab keine Sicherheitsvorkehrungen im Gebäude. Er trägt die Verantwortung für die Todesfälle. Ebenso die Regierung, die die Situation für ihre Zwecke ausschlachtet.« Einen Tag nach dem Feuer, bei der Demonstration vor dem Parlament am Donnerstag, scheinen viele Teilnehmer dieser Ansicht zu sein. Unmittelbar nach dem Brand hatte die Gewerkschaft der Bankangestellten Otoe gegenüber der Nachrichtenagentur AP diejenigen verurteilt, »die derartige Gewalttaten begehen«, gleichzeitig wurde der Tod der drei Angestellten als »traurige Konsequenz der gegen das Volk gerichteten Maßnahmen, welche die Wut der Öffentlichkeit und den Protest von hunderttausenden Menschen entfacht haben«, gewertet. Die Gewerkschaft beschuldigte außerdem Politiker, die Polizei und das Management der Bank der »moralischen Verantwortung«. Andere, wie die Kommunistische Partei, spekulierten darüber, die Brandstifter könnten agents provocateurs gewesen sein.
Verschlossenen Türen, fehlender Notausgang, kein Sicherheitspersonal. Befanden sich die drei Bankangestellten einfach tragischerweise zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder war es doch der Staat? Wie reflektiert die antiautoritäre Bewegung in der Hauptstadt die Vorgänge?
Am Donnerstagabend geht im Steki Metanaston, einem »Zentrum der Migranten«, in dem auch das Netzwerk für politische und soziale Rechte seinen Sitz hat, gerade ein Treffen zu Ende.
»Wir denken immer daran, dass solche Sachen passieren können«, meint Kiriaki, eine Mitarbeiterin des Netzwerks. »Es gibt in der Bewegung junge, aggressive Menschen, die Gewalt als eine Art Fetisch ansehen. Aber Argumentationsmuster, die ausschließlich die Schuld bei den anderen, also bei der Regierung und der Polizei sehen, sind hauptsächlich in der kommunistischen Partei verbreitet. Schließlich müssen wir als Bewegung die politische Verantwortung übernehmen und unsere Trauer öffentlich machen. Auch wenn die Täter keine Leute aus unserer Gruppe waren.« Am Vorabend war die Polizei in das Zentrum eingedrungen und hatte alles kurz und klein geschlagen, »obwohl Leute, die blindwütig Gebäude anzünden, hier gar nicht verkehren«, sagt Kiriaki. »Doch in den großen Zeitungen und im Fernsehen werden die Unterschiede zwischen den linken Gruppen nicht wahrgenommen und alle werden pauschal kriminalisiert.«

Am selben Abend im Nosotros, einem weiteren sozialen Zentrum in Exárchia, diskutieren rund 100 Menschen über die Situation. Ein junger Mann erzählt, er sei am 5. Mai direkt vor der Bank gewesen. Die Bankangestellten hätten den Demonstranten vom Balkon aus zugerufen, kein Feuer zu legen. Aber die Situation sei chaotisch, nicht zu kontrollieren gewesen. Eine Person habe den Molotowcocktail trotzdem geworfen, dann hätten Menschen versucht, das Feuer zu löschen. »Wahrscheinlich waren es junge Leute, die sich selbst Anarchisten nennen. Aber richtige Anarchisten würden so etwas niemals machen.«
Auch Tassos teilt dieser Ansicht. »Anarchisten haben bestimmte Standards, wie zum Beispiel, keine kleinen Läden zerstören oder Respekt vor Menschenleben. Trotzdem, wenn tausende von Menschen zusammenkommen, ist die Situation schwer zu kontrollieren. Die Toten waren das Resultat einer unkontrollierbaren Situation auf der Demonstration.«
Eine junge Frau, die an dem Treffen der Anarchisten in der Athener Universität teilnimmt, unterstützt diese Einschätzung: »Wenn so etwas dann doch einmal passiert, dann übernehmen die Anarchisten die Verantwortung. Als im Dezember 2008 während der Proteste ein Kiosk eines pakistanischen Besitzers niedergebrannt wurde, sammelten die Anarchisten 10 000 Euro für den Mann.« In der Universität haben sich rund 400 Aktivisten aus anarchistischen Gruppen und aus den besetzten Häusern versammelt, um die Vorfälle zu diskutieren. Das Gebäude ist umstellt von Polizisten. Sie dürfen in Griechenland zwar das Universitätsgelände nicht betreten, sorgen aber mit ihrer Absperrung dafür, dass keine weiteren Menschen zu dem Treffen hinzukommen.
Die Diskussion beginnt mit Versuchen, die genauen Tatvorgänge zu rekonstruieren, doch schnell dreht sich die Debatte um die politischen Ursachen für die Eskalation der Gewalt auf Demonstrationen und um die Aktionsformen der Bewegung. »Es würde mich nicht überraschen, wenn es ein agent provocateur war. Aber davon können wir jetzt erstmal nicht ausgehen, und es ist sinnlos, darüber zu diskutieren«, sagt ein junger Mann. »Wir müssen darüber sprechen, welche Kultur diese Leute in die Protestbewegung bringen. Die meisten jungen Leute, die diese blinde Gewalt ausüben, wurden im Dezember 2008 politisch sozialisiert. Sie sind an Gewalt gewöhnt, und bei den meisten stehen keine politischen Werte dahinter. Sie wissen nicht, wann Gewalt angemessen ist und wann nicht. Sie kommen auch nicht zu unseren Treffen, und die meisten von uns, wenn auch nicht alle, zählen sie nicht zur anarchistischen Strömung dazu, auch wenn die Medien das behaupten.« Und er fügt hinzu: »Die meisten Anarchisten sind nicht gegen Gewalt und ja, Anarchisten werfen Molotows. Aber den meisten ist wichtig, dass diese Gewalt zielgerichtet ist und einen politischen Hintergrund hat. Die Anarchisten sind diejenigen, die diese jungen Menschen stoppen, die einfach sinnlos Gewalt anwenden.« Andere sehen hingegen eine politische Verantwortung der Anarchisten gerade darin, dass sie in diesen Situationen nicht genug gegen die Gewalttäter unternehmen.

Am Freitag erschien auf der Webseite occupiedlondon.org eine Erklärung aus dem anarchistischen Milieu zu den Todesfällen in Athen. »Der Punkt ist, welche Verantwortung wir alle tragen. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich«, heißt es darin. Und weiter: »Es ist an der Zeit, offen über Gewalt zu sprechen und eine spezielle Kultur der Gewalt zu hinterfragen, die sich in den letzten Jahren in Griechenland etabliert hat. Unserer Bewegung ist nicht wegen der manchmal drastischen Wahl ihrer Mittel gewachsen, sondern wegen unseres politischen Ausdrucks.« Obwohl die griechischen Anarchisten keine geschlossene Bewegung bilden, scheint die Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage derzeit auch in diesem Milieu von zentraler Bedeutung zu sein.
Im Verhältnis zur Gewalt sehen viele Teilnehmer an der Diskussion auch ein großer Unterschied zwischen der Bewegung in Griechenland und anderen westeuropäischen Protestbewegungen. Es herrsche in Griechenland eine weit verbreitete Akzeptanz von Gewalt als Mittel sozialer und politischer Kämpfe. »Ich würde gerne in einer gewaltfreien Gesellschaft leben. Aber unter den jetzigen Bedingungen scheint man seinem Einsatz an einer besseren Gesellschaft nur Nachdruck verleihen zu können, wenn man zu solchen Mitteln greift«, meint eine junge Frau, die bemängelt, die Berichterstattung in den nationalen und internationalen Medien konzentriere sich hauptsächlich auf die Gewalt der Anarchisten. Vor allem im Fernsehen würden sie seit Mittwoch als blutrünstige Mörder dargestellt, während die Erwähnung der von der Staatsmacht ausgehenden Gewalt ausbleibe.
Das ist auch die Angst von vielen organisierte Gruppen und Einzelpersonen. Die Medien kons­truierten Monster, und der Regierung habe der Vorfall gut gepasst, um die Bewegung zu kriminalisieren, so der Tenor.
»Es ist doch narzisstisch, wenn man meint, alles kontrollieren zu können«, sagt ein Aktivist und Soziologe an der Athener Universität am Freitag im Parko, in Exárchia. Die Protestbewegung hat hier im Frühjahr 2009 einen Parkplatz besetzt und in einen Park umgewandelt, in dem sich viele Anhänger der linken Bewegung treffen. »Bei jedem Protest gibt es leider Idioten. Wenn es ein agent provocateur war, kann ich die Beweggründe wenigstens verstehen, er bekommt Geld dafür. Was ich nicht verstehen kann, ist diese Dummheit einiger weniger Demonstrationsteilnehmer, denn diese Vorkommnisse zerstören die Bewegung.« Tassos sieht es ähnlich: »Das, was passiert ist, wird nicht zur Folge haben, dass die Bewegung gewaltfrei wird«, prophezeit er, »aber es wird eine Phase der Selbstkritik beginnen. Und die Brandstifter werden sich nie mehr in ein anarchistisches Zentrum wagen.«