Hass-Blogs gegen Kevin-Prince Boateng

Wir haben Knöchel

Die Wut über das Foul von Boateng an Ballack lässt Pöbel und Fußballprominenz gleichermaßen aufheulen.

Seit dem 17. Mai steht fest, dass Michael Ballack nicht an der WM in Südafrika teilnehmen kann. Die Diagnose – Bänderriss im Knöchel – kam zwei Tage, nachdem Ballack im FA-Cup-Finale von Kevin-Prince Boateng gefoult worden war und, nach einem kurzen Versuch, weiterzuspielen, ausgewechselt werden musste.
Wie immer, wenn irgendein Thema die Schlagzeilen beherrscht, dauerte es auch nach Bekanntwerden von Ballacks WM-Ausfalls nur wenige Minuten, bis bei Facebook die ersten Gruppen gegründet wurden. Üblicherweise schon auf niedrigstem Stammtischniveau, boten sie in diesem Falle Hetze ungeahnten Ausmaßes. Immerhin, Gruppen, die Boateng mit Mord drohten, wurden nach einigen Tagen gelöscht, aber andere, in denen der Pöbel rassistische Klischees und Hass verbreitete, bleiben trotz zahlreicher Beschwerden bestehen, wie »SCHEISS Kevin-Prince Boateng!!!!«. Das werde »eine Anti-Boateng-Bewegung!!« freute sich der Initiator der Facebook-Group über die mehr als 12 000 Mitglieder, die mit Beiträgen wie »Seine Familie hat wahrscheinlich Hartz IV bekommen, das undankbare Schwein« oder »Für was haben wir die Kommando Spezialkräfte. So ein Silizium-Vollmantelgeschoss kostet vielleicht 1 bis 2 Euro« glänzten.
Die Gruppe »Boateng umhauen!« brachte es dagegen bis Sonntag auf gerade mal 7 800 Mitglieder, dafür hat man dort große Pläne. Die Public-Viewing-Partys anlässlich des Länderspiels gegen Ghana am 23. Juni würde man gern zu Anti-Boateng-Demos umfunktionieren, und zu diesem Zweck wirbt man heftig für den Verkauf von T-Shirts, die neben den in Schwarz-Rot-Gold gehaltenen Umrissen der Bundesrepublik die Aufschrift »82 Millionen gegen Kevin« tragen. Denn, so ein User: »Nur Arschlochkinder oder Ossis heißen Kevin … er ist beides.«
Befeuert wurde der Volkszorn auf Kevin-Prince Boateng vor allem durch die Kommentare, keineswegs nur der Fußballprominenz. Franz Beckenbauer und andere stellten ihn als unglaublich unfairen Spieler dar, sprachen von Körperverletzung und davon, dass er gesperrt gehöre. Ballack wurde gleichzeitig zur Lichtgestalt des deutschen Fußballs erklärt, dessen Lebenstraum, ach was, dessen Leben von Boateng ruiniert worden sei. »Ein Arschloch hat ihm seinen Traum kaputt gemacht. Ein drittklassiger Fußballspieler. Immer sind es Arschlöcher, die alles zerstören«, schrieb Franz Josef Wagner beispielsweise in Bild.
Völlig außer Acht gelassen wurde dabei, was gerade einmal zweieinhalb Minuten vor dem Foul von Boateng passiert war: Nach einem kleinen Gerangel hatte Ballack Boateng während des FA-Finales eine Ohrfeige verpasst. Nicht so, dass Kevin-Prince wie in einem Bud-Spencer-Film über den halben Platz geflogen wäre, nichtsdestotrotz eine klare Tätlichkeit, für die – hätte der Schiedsrichter sie gesehen – Ballack vom Platz hätte fliegen müssen. Und auch das folgende Foul an Ballack war weit weniger dramatisch als die hysterischen Reaktionen erahnen lassen. Was bei dem in vielen Nachrichten gezeigten Ausschnitt nämlich nicht so deutlich zu sehen war, ist, dass Boateng nur einen Sekundenbruchteil zu spät kam, um den Ball zu spielen, er kam von der Seite und nicht von hinten, alles in allem ein hartes Tackling, das eher unglücklicherweise als gewollt mit der Verletzung Ballacks endete. Boateng bekam dafür die Strafe, die die Regeln vorsehen – Gelb. Zudem sah es zunächst auch für alle Beteiligten – selbst für den betroffenen Ballack – so aus, als könne er weiterspielen.
Doch zurück zur definitiven Unsportlichkeit: Ballacks Ohrfeige gegen Boateng. Man sollte dabei die Backpfeife nicht vergessen, die der Mann, der mittlerweile überall nur noch »El Capitano« genannt wird, im April 2009 von Lukas Podolski bekam. Die Geschichte eskalierte und wurde erst mit einem von der Leitung der Nationalmannschaft – also Joachim Löw und Oliver Bierhoff – initiierten klärenden Gespräch zwischen Podolski und Ballack offiziell beigelegt. Von Ballack gab es zwischen Spiel und Gespräch einiges Wütende zu hören; zur Boateng-Ohrfeige sagte er dagegen nichts.
In der Bild-Zeitung hetzte die Fußballprominenz auch nach Bekanntwerden der Ballack-Tätlichkeit unverdrossen weiter gegen Kevin-Prince Boateng. Ihm wurde Absicht unterstellt, er habe die deutsche Fußballnationalmannschaft schwächen wollen, hoffe er doch, mit Ghana Deutschland in der Vorrunde besiegen zu können. Man sieht sich persönlich getroffen, der Knöchel der Nation ist dick und wir – ja, wir, denn wir sind ja Deutschland – können nicht auflaufen. Oder liegt es einfach daran, dass man jetzt endlich den Buhmann gefunden hat, der dafür verantwortlich ist, dass die deutsche Elf vielleicht doch wieder nicht Weltmeister wird? Bisher sah es ja so aus, als gebe es mit Trainer Löw und seiner umstrittenen Entscheidung, Kevin Kuranyi nicht zu nominieren, nur einen leidlich passenden Sündenbock.
Dabei ist das Team selbst mit Ballack nie so stark gewesen, wie es hierzulande gerne gemacht wird. Die drei Torhüter – in den vergangenen Jahrzehnten eine immer stark besetzte Position – haben zusammen bisher ganze neun Länderspiele bestritten. In der Abwehr stehen mit Per Mertesacker und Phillip Lahm eigentlich nur zwei Spieler als Stammkräfte fest, der Rest fällt nach internationalen Maßstäben stark ab, und es muss noch ausgewürfelt werden, wer zusätzlich spielen darf. Der Sturm bietet dagegen mit den Qualifikationsgaranten Lukas Podolski und Miroslav Klose gleich zwei Spieler, die in der abgelaufenen Bundesligasaison so gut wie gar nicht trafen. Wie also sollte diese Mannschaft den hohen Erwartungen auch nur ansatzweise gerecht werden?
Dass man die deutsche Elf im Ausland realistischer betrachtet, führte übrigens auch dazu, dass dort das WM-Aus für Ballack und die damit verbundene Aktion Boatengs sehr viel neutraler gesehen werden. Die Sunday Times schrieb, dass man das deutsche Team nicht allein wegen Ballacks Ausfall, sondern auch aus den anderen hier genannten Gründen eigentlich abschreiben könne. Wenn es nicht Deutschland wäre, denn »die bekommen das schon hin, uns wieder alles zu versauen, obwohl das vorher niemand angenommen hatte«.
Im Übrigen können eine ganze Menge Stars nicht zur WM fahren: David Beckham ist verletzt. Frankreich muss auf Lassana Diarra verzichten. Es ist also nicht nur das deutsche Team, das den einen oder anderen Ausfall zu vermelden hat, aber eine solche Hexenjagd auf einen Verursacher der Verletzung gibt es anderswo nicht. Ganz besonders neutral sehen die Medien in den USA das Foul von Boateng. Es ist im Allgemeinen von einem late tackle oder einem strong tackle die Rede, die gelbe Karte, die Kevin-Prince dafür sah, wird als angemessen bezeichnet. Die Premiere League wird in den USA verfolgt, auch das FA-Cup-Endspiel war live im Fernsehen zu sehen. Ballack gilt dort allgemein eher als unfairer, überschätzter Spieler, der durchaus auch einmal nasty zutritt. Seine Äußerungen, Boateng anzeigen zu wollen, wurden mit der Aufforderung kommentiert, endlich erwachsen zu werden, und bringen ihm auch hin und wieder die Bezeichnung cry baby ein. Interessant aber ist vor allem, dass die Verletzung Ballacks dort nicht als Schwächung, sondern eher als Verbesserung des Teams gesehen wird – es gebe in Deutschland genügend jüngere, hungrige und bessere Spieler, die ihn ersetzen könnten und die nicht dafür bekannt seien, dirty zu spielen.
Diejenigen, die es aber wirklich wissen müssen – weil es ihnen ums Geld geht –, sind die Wettbüros. Und die sehen die Nationalmannschaft nun schwächer als vor zwei Wochen. Es gibt nun knapp zehn Prozent mehr zu gewinnen, wenn man auf Deutschland als Weltmeister setzt und die Bundesrepublik tatsächlich den Titel holt. Für Brasilien gilt das aber auch.