Abdruck aus »Paris, New York und zurück«

Das verlorene Paradies

Erinnerungen des Verlegers André Schiffrin an seine Flucht aus Frankreich, das amerikanische Exil und das Glück des Comic-Lesens

Familienalben können verräterisch sein. Jahrelang ruhen sie im Verborgenen und warten darauf, dass man sie gelangweilten Enkelkindern und anderen Verwandten zeigt. Doch wie Poes entwendeter Brief enthalten sie ungeahnte Wahrheiten über ihre arglosen Besitzer, die nur der erfahrene Detektiv zu erkennen vermag.
Viele Jahre habe ich mit Michael Lesy zusammengearbeitet, einem Fotohistoriker, der in den frühen 1970er Jahren bekannt wurde, als ich seine Dissertation unter dem Titel »Wisconsin Death Trip« publizierte. Lesy hatte einen Stoß Glasnegative aufgespürt, die ein Kleinstadtfotograf am Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen hatte, und eine brillante Mentalitätsgeschichte über die Zeit dieses vergessenen Schatzes verfasst. Das Buch wurde ein Riesenerfolg und begründete Lesys Ruf; es gelang ihm jedoch nicht, einen zweiten Bestseller zu schreiben. Eines Tages unterhielten wir uns über Familienalben, in denen er ähnlich interessantes und bislang unbeachtetes Material vermutete. Ich erwähnte mein eigenes Familienalbum und weckte damit sein Interesse.
Bald darauf untersuchte er neben mir auf dem Sofa unseres Wohnzimmers sitzend eingehend den fleckigen roten Einband, der von Zigarettenspuren übersät war, die meine Mutter mit Fotos von Charlie Chaplin als Hitler in »Der große Diktator« überklebt hatte. Das Album, das ich dutzende Male gedankenlos betrachtet hatte, war in zwei Abschnitte unterteilt.
Der erste umfasste meine ersten sechs Lebensjahre in Frankreich und gab eine anscheinend unglaublich idyllische Zeit wieder. Unsere große, sonnige Pariser Wohnung mit meinem spielzeugübersäten Zimmer; Ferienaufnahmen aus Belgien mit Aldous Huxley und seiner Familie; ein Tag am Strand von Royan mit meiner Mutter Simone, ihren Freunden und mir als kleiner Junge. Zuletzt kam eine Serie glanzvoller Bilder, die meine Mutter liebte, und die, wie man mir gesagt hatte, von einem Modefotografen gemacht worden waren. So sahen sie auch aus. Dieser erste Teil des Albums zeigte also jenes sorgenfreie Leben, an das ich mich dunkel erinnerte – Abbildungen einer glücklichen, angenehmen und finanziell abgesicherten Kindheit, einer klassischen Pariser Kindheit. Häufige Fahrten an die Strände der Normandie, Karusselle in den Tuilerien, das kleine Segelbootbecken im Jardin de Luxembourg  …  Eine Zeit, die auch meinen Eltern im Rückblick nicht weniger idyllisch vorkommen musste. Mein Vater, der seit kurzem von den finanziellen Sorgen eines eigenen Verlagshauses befreit war und nun bei Gallimard, dem größten französischen Verlag, arbeitete, wo er die von ihm begründete Klassikerreihe »La Pléiade« für – wie er meinte – den Rest des Lebens leiteten würde; meine Mutter, die mit ihrem einzigen Kind und ihrer Großfamilie beschäftigt war. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je eine traurige Begebenheit in dieser Vorkriegszeit erwähnten. Das Album schien ein genaues Spiegelbild unseres Lebens darzustellen.
Der zweite Teil des Albums bestand aus Aufnahmen, die im Herbst 1941 in New York aufgenommen worden waren. Die ersten zeigen un­sere kleine Wohnung am Riverside Drive, wo wir nach unserer Ankunft lebten. Die übrigen stammen aus unserer erstaunlich billigen Mietwohnung, die meine Eltern danach an der Park Avenue Ecke 75th Street gefunden hatten. Es war eines der wenigen niedrigen Apartmenthäuser an der Avenue und ist es bis heute noch. Wann immer ich an dem Haus vorbeigehe, sehe ich seine herausragende Feuertreppe, wie ein anachronistisches Andenken aus einer anderen Ära. Als ich die Fotos mit Michael Lesy betrachtete, bemerkte ich, wie kahl diese beiden Räume aussahen, abgesehen von dem großen Arbeitstisch, an dem meine Mutter Tag und Nacht mit ihrem Schmuck beschäftigt war. Vor diesem Hintergrund bin ich auf meinen ersten eigenen Portraits zu sehen, auf denen ich in einer Militär­uniform oder mit meinen Soldaten spielte. Offenbar hatte ich beschlossen, keinem Feind mehr unbewaffnet entgegenzutreten. Durch die Vertrautheit dieser Aufnahmen war mir bis dahin die Armseligkeit und traurige Atmosphäre der Wohnungen entgangen, ebenso wie sehr sie sich von den Bildern unseres Lebens im Vorkriegsfrankreich unterschieden. Lesy schien von allem fasziniert, doch war ich erleichtert, als er sich später entschied, keines dieser Fotos in sein Buch aufzunehmen.
Im Nachhinein verblüffte mich, dass mir die Geschichte, die dieses Album erzählt, nicht früher aufgefallen war, dass ich die Kargheit unseres New Yorker Lebens und den Gegensatz zu dem davor übersehen hatte. Weder ich noch meine Eltern, meine Kinder, andere Verwandte oder Freunde hatten beim unzähligen Durchblättern dieser Seiten je ein Wort darüber verloren.
Verblüfft war ich auch darüber, dass es nur sehr wenig Aufnahmen vom Leben meiner Eltern vor ihrer Heirat enthielt. Auch das war mir nie aufgefallen. Offenbar hatten beide ihr früheres Leben hinter sich gelassen, nachdem sie einander begegnet waren. Mein Vater Jacques wurde 1892 in Russland geboren, in der Erdölstadt Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans am Kaspischen Meer. Sein Vater war dorthin gegangen, um als Hafenarbeiter zu arbeiten. Er wunderte sich darüber, dass das Kaspische Meer vor Baku immer in Flammen stand; die Ölabfälle, die täglich ins Wasser gekippt wurden, schienen nicht weiter verwendet werden zu können. Er traf den jungen schwedischen Chemiker Alfred Nobel, den der Ölrausch nach Baku gelockt hatte, und lernte von ihm die Grundkenntnisse der Chemie. Mein Großvater entdeckte, dass aus den Ölrückständen petrochemische Stoffe gewonnen werden konnten, und bat nun die Ölproduzenten, diese Rückstände kaufen zu dürfen. Sie wunderten sich über seine Dummheit, stimmten aber bereitwillig zu. Dank der zuverlässigen Lieferungen billigen Rohmaterials begann das Schiffrinsche petrochemische Unternehmen bald zu florieren und lieferte Teer und andere Produkte in weite Teile Russlands. Mein Onkel Simon Schiffrin erzählte, er habe bei einer Reise in die Sowjetunion in den fünfziger Jahren im Hafen von Leningrad Fässer gefunden, die noch immer den Namen seiner Familie trugen.
Mein Vater wuchs also in einem sorgenfreien Umfeld auf. Die spärlichen Familienfotos aus dieser Zeit zeigen Menschen, die das Leben sehr reicher Leute führten. In den Sommerferien fuhren sie mit dem Zug in die Schweiz. Ihre Bediensteten füllten die Zugabteile mit Kissen und Leinendecken, wie sie für eine dreitägige Reise benötigt wurden. Die kürzeren Ferien verbrachten sie auf der Familiendatscha in Finnland, das dem Russischen Reich unterstand.
Meine älteste Tochter Anya, die sich sehr für unsere Familiengeschichte interessiert, überredete mich im Jahr 2003 zu einer Reise nach Baku. Wir fanden die ehemaligen Herrenhäuser Nobels und Rockefellers, die aus der Zeit des Goldrausches Ende des neunzehnten Jahrhunderts stammen. Auch entdeckten wir das frühere Familienhaus der Schiffrins im Stadtzentrum. Es umschloss einen großzügigen Innenhof, und man konnte noch immer die hohen, sonnendurchfluteten Räume einsehen, zu denen einst auch ein Ballsaal und andere Gesellschaftsräume gezählt hatten. Das schöne Gebäude, das Anya und ich inspizierten, hatte sich in eine sehr geschäftige Abtreibungsklinik verwandelt.
Die Familie zog später nach St. Petersburg, und vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschloss mein Vater, in Genf Jura zu studieren und auch, wie ich vermute, der Einberufung in die zaristische Armee zu entkommen. Diese Jahre in der Schweiz scheinen sehr glücklich gewesen zu sein. Er hatte Geld, er hatte Freunde, darunter den Schweizer Psychologen Jean Piaget, und vermutlich auch zahlreiche Frauen. Er sah gut aus, war ein begabter Eisläufer und führte offensichtlich ein sorgloses Studentenleben. Ich weiß allerdings etwas mehr über diese Zeit und manche dieser Erinnerungen verblüffen mich. Etwa eine Bibel, die mein Vater von dem indischen Philosophen Rabindranath Tagore bekam; sie trägt eine lange geistvolle Widmung Tagores aus dem Jahre 1918. Die beiden mussten gute Freunde gewesen sein. Wie es dazu kam, weiß ich allerdings nicht.
Nach dem Krieg änderte sich die Lage meines Vaters. Die russische Revolutionsregierung verstaatlichte den Familienbesitz, wodurch er nahezu völlig mittellos wurde. Das einzige Geld, das der Familie blieb, stammte ironischerweise aus Beteiligungen an Alfred Nobels Dynamit-Unternehmen, die sie im Tausch gegen Aktien des nun verstaatlichten Schiffrin-Erdölunternehmens erhalten hatte. (Der arme Nobel war schlechter weggekommen, doch schien er trotzdem überlebt zu haben.) Mein Vater ging von Genf nach Monte Carlo und versuchte sein Glück im Kasino. Wie eine Figur aus einem Roman Dostojewskis (den er später übersetzen sollte) setzte er einen großen Teil seines bescheidenen Kapitals auf eine einzige Zahl beim Roulette und gewann unglaublicherweise. Statt glücklich nach Hause zu gehen, setzte er sein Geld erneut auf dieselbe Zahl – ein waghalsiger Zug, zu dem ich niemals imstande gewesen wäre. Doch allen geringen Chancen zum Trotz kam die Zahl noch einmal und mein Vater stand mit einer ansehnlichen Summe da, von der er einige Jahre zehren konnte.
Er beschloss, von Genf nach Florenz zu gehen, und nahm eine Stelle als Sekretär bei Bernard Berenson an. Dort blieb er einige Jahre, und als Folge dieser Zusammenarbeit verlegte mein Vater später Berensons »Italian Painters of the Renaissance«. In Florenz stellte ihn Peggy Guggenheim als Russischlehrer ein. Als sich herausstellte, dass er zu mehr nicht bereit war, feuerte sie ihn. (In ihren Memoiren beschreibt sie dies ohne Groll, später enthüllt sie allerdings einen weniger sympathischen Charakterzug, wenn sie ihre Freude über den günstigen Erwerb zahlreicher Bilder jüdischer Künstler beschreibt, die in der Kriegszeit verzweifelt versuchten, aus Hitlers Europa zu fliehen.)
Nachdem mein Vater Guggenheims Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, verliebte er sich in die russische Pianistin Yura Guller. Er war ihr in einem Kammermusikensemble begegnet, in dem er Cello spielte, und heiratete sie wenig später. Guller hatte 1909 den Hauptpreis des Pariser Konservatoriums gewonnen, vor ihr lag eine vielversprechende Zukunft. In den ersten gemeinsamen Jahren bezauberte sie André Gide, den Freund meines Vaters, mit ihrer meisterhaften Chopin-Interpretation und lehrte ihn, seine Kompositionen zu verstehen und zu spielen. Gide war ihr nach Aussage seiner Biographen unendlich dankbar dafür.
Auch mein Vater war musikalisch so begabt, dass er eine Karriere als Cellist ins Auge fassen konnte, doch Guller war begreiflicherweise von ihren eigenen Möglichkeiten besessen, und ein professioneller Musiker in der Familie war mehr als genug: Nach einigen Jahren beschlossen sie, die Scheidung einzureichen. Ich sollte Guller viele Jahre später dank eines äußerst merkwürdigen Zufalls kennenlernen. Ich verbrachte den Sommer mit meiner Familie in Dartington in Südengland, wo meine Frau aufgewachsen war. Dartington war berühmt für seine Sommermusikschule, und unter den Gastmusikern fand sich auch Gullers Name. Ich ging nach der Vorstellung zu ihr und stellte mich vor. Ich glaube, sie war darüber amüsiert, keineswegs aber tief bewegt; was uns verband, war zu peripher und heikel. Alles, was ich von ihr besitze, ist eine CD mit Chopin-Aufnahmen, auf deren Cover das Foto einer auffälligen, dunkelhaarigen Frau abgebildet ist.
Zu Beginn der zwanziger Jahre zog mein Vater von Italien nach Paris, wo er beschloss, sich im Verlagswesen zu versuchen. Zunächst machte er eine Art Lehre bei dem Kunstverleger Henri Piazza. Schon nach kurzer Zeit fühlte er sich jedoch stark genug, eigene Wege zu gehen, und gründete 1922 einen neuen Verlag, den er »Editions de la Pléiade« nannte. Der Name stammt nicht, wie oft angenommen, aus der Mythologie oder der französischen Literaturgeschichte, sondern von einer Gruppe klassischer russischer Dichter. Da er über keine Autoren verfügte, begann er mit einer Reihe russischer Titel, die er selbst und Freunde von ihm ins Französische übersetzten. Ganz zu Beginn der »Editions de la Pléiade« begegnete mein Vater André Gide, den er bei der Übersetzung seines allerersten Buches – Puschkins »Pique Dame« – um Hilfe bat. Die Bücher waren großzügig illustriert, manche von russischen Künstlern, die in Paris lebten, und sie zeichneten sich durch eine hinreißende Typografie aus, auf die mein Vater immer großen Wert gelegt hatte. (In den fünfziger Jahren besuchte ich auf der Biennale von Venedig den sowjetischen Pavillon, wo diese Bücher ausgestellt waren – erstaunlicherweise als Beispiele für die russische Kunst der Nachkriegs­ära.)
Nach dem Erfolg seiner Luxuseditionen hatte mein Vater die Idee, eine in Leder gebundene Buchreihe auf Dünndruckpapier zu drucken, die vornehmlich die französischen Klassiker umfassen sollte. Die Reihe wurde unter dem Namen »Bibliothèque de la Pléiade« bekannt und hat bis heute Vorbildfunktion im französischen Verlagswesen. Die Idee war, in jedem Band die Hauptwerke eines großen Autors in einem sorgfältig bearbeiteten, kommentierten Text zu versammeln, gleichzeitig mussten die Bücher relativ preiswert sein – die Proust-Ausgabe in der Pléiade würde billiger sein als alle Bände zusammen in der normalen Ausgabe – und gleichzeitig handlicher. Gide sprach häufig davon, dass er sie in der Tasche seines Jacketts trage. Angefangen mit einem Baudelaire-Band, verlegte mein Vater nach und nach alle Hauptwerke der französischen Literatur. Später weitete er die Reihe auf Übersetzungen aus; heute umfasst die Pléiade nahezu die gesamte klassische Welt­literatur (allerdings sind die neuen Ausgaben deutlich wissenschaftlicher und teurer, als von meinem Vater ursprünglich geplant).
Die Pléiade war von Anfang an ein solch enormer Erfolg, dass Jacques’ bescheidenes Kapital, das er mit Hilfe von Geldgebern – vorwiegend Angehörige und Freunde – zusammengetragen hatte, aufgebraucht war und er nicht mehr die erforderlichen Mittel besaß, schnell genug eine ausreichende Menge Bücher zu drucken. Er stand noch immer in freundschaftlicher Beziehung zu Peggy Guggenheim. Sie lieh ihm auch Geld, und um einen Teil seiner Schulden zurückzuzahlen, überließ er ihr sechshundert Exem­plare der »Pique Dame«, die sie vergeblich Pariser Buchhandlungen zum Verkauf anbot. Glücklicherweise wurde das Buch später ein großer Erfolg, mein Vater nahm die Bücher zurück und verkaufte sie weiter.
Trotz dieser Winkelzüge brauchte mein Vater schließlich weiteres Kapital und wandte sich an einige größere Pariser Verlage. 1933 schließlich begab er sich dank der Vermittlung Gides, der schon lange engen Kontakt zu Gallimard unterhielt, unter das Dach dieses vielleicht angesehensten Pariser Verlagshauses. Er blieb dort bis zur deutschen Okkupation im Jahre 1940, als der deutsche »Botschafter« Otto Abetz die Order zur Übernahme französischer Schlüsselinstitutionen, wozu auch Gallimard gehörte, erließ. Das Unternehmen wurde arisiert. Am 20. Oktober 1940, kaum vier Monate nach der deutschen Besetzung von Paris, wurde mein Vater in einem zweizeiligen Brief vom Eigentümer Gaston Gallimard entlassen. Jacques war einer von zwei Juden im Verlag, und ihr Ausscheiden hatte zur Folge, dass französische Faschisten eine immer bedeutendere Rolle bei der Leitung Gallimards spielten. Dies führte auch zu den in unserem Familienalbum aufgezeichneten Veränderungen.

***

Das Leben meiner Mutter war bei weitem nicht so ereignisreich verlaufen. Ihr Vater, Oscar Heymann, war auf Anweisung seines Vaters als mittelloser Straßenhändler von Straßburg nach Paris gegangen, um Geld für die Aussteuer seiner Schwestern zu verdienen. Er baute allmählich ein florierendes Unternehmen für Spitzen und Galanteriewaren auf, was ihm ermöglichte, in dem angesehenen Vorort von Neuilly eine geräumige, luxuriöse Wohnung zu kaufen, die auch ein Billardzimmer besaß, ein Beweis seines gesellschaftlichen Erfolges. Dort wuchsen meine Mutter, die 1906 geboren wurde, ihre beiden Schwestern und der jüngere Bruder auf. Wie die meisten französischen Mädchen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg besuchte meine Mutter keine Hochschule, obwohl sicherlich auch sie von der intellektuellen Aufbruchstimmung dieser Zeit gepackt wurde – von ihren Anekdoten erinnere ich mich besonders gerne an das Schlangestehen vor dem lokalen Buchhändler, immer, wenn ein neuer Band von Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« erschien.
Mein Großvater mütterlicherseits war jedoch sehr streng und von der alten Schule. Wenn er meine Mutter beim Verlassen der Wohnung mit auch nur einem Hauch von Make-up erwischte, befeuchtete er sein Taschentuch und entfernte alle anstößigen Spuren. Meine Mutter jedoch wollte ihr Elternhaus verlassen, und nachdem sie über Freunde von einer freien Stelle als Sekretärin in einem neuen Verlag erfahren hatte, stieg sie die Treppe bis zum sechsten Stock des Hauses, das die aus einem Raum bestehende »Editions de la Pléiade« beherbergte, und bewarb sich um den Posten. Später erinnerte sie sich, dass auf jedem Treppenabsatz geschrieben stand, die Büros lägen gleich darüber. Mein Vater war sofort von ihrer Schönheit überwältigt und, gerade erst von seiner ersten Frau Yura geschieden, stellte sie sofort ein, obgleich sie gestand, dass sie noch nie gearbeitet habe und auch nicht Maschine schreiben könne. Bald darauf, 1929, heirateten meine Eltern, und die ersten – allen Erzählungen zufolge glücklichen – Jahre begannen.
Wie für Millionen andere Menschen sollte der Krieg auch ihre Welt auf drastische Weise auf den Kopf stellen. 1939 wurde mein Vater in die französische Armee eingezogen, obwohl er schon fast fünfzig war und an einem Emphysem litt. Seine schwache Gesundheit verbesserte sich nicht gerade, als er gezwungen wurde, in einer spartanischen Baracke außerhalb von Paris zu leben. Mein Leben schien davon unbeeinflusst geblieben zu sein. Meine Eltern vermochten vieles von dem, was geschah, vor mir zu verbergen, und was sie nicht verbergen konnten, oft in ein Spiel zu verwandeln. Um mich von seinem Weggehen und dem Bruch in unserem Leben abzulenken, ließ mir mein Vater ein Kindermodell seiner Uniform anfertigen, geschmückt mit zahlreichen Medaillen. Stolz berichtete ich da­rüber in meinen Briefen an Gide, der zu diesem Zeitpunkt einer der engsten Freunde meines Vaters war. Später, als mein Vater während der ersten deutschen Luftangriffe wieder nach Paris zurückgekehrt war, durfte ich ihn als »Luftschutzwartassistenten« vertreten. Ich erinnere mich, dass ich bei den Bombardements wie bei einem aufregenden Abenteuer in unseren Keller flitzte und die wirkliche Gefahr gar nicht erfasste. Meine Eltern zogen sogar die Feier meines fünften Geburtstags um einen Tag auf den 13. Juni vor – der Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris.
Bis heute bin ich verblüfft darüber, wie es ihnen gelungen ist, ihre Ängste und Sorgen so vollständig vor mir zu verbergen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meine Empfindungen verleugnete, da die Briefe meines Vaters regelmäßig davon berichten, dass ich in all diesen schwierigen Jahren im Hintergrund glücklich und zufrieden spielte, sogar in der Zeit, die für meine Eltern die erschütterndste Erfahrung gewesen sein musste: die Flucht vor den Nazis.
Mein Vater ahnte zweifellos, was passiert wäre, wenn wir in Frankreich geblieben wären. Er wusste von den KZs und musste von den systematischen Ermordungen, die bereits in Ost­europa durchgeführt wurden, gehört haben. Über anderthalb Millionen Juden waren von der deutschen Armee sofort getötet worden, noch bevor die Vernichtungslager errichtet worden waren. Mein Vater war sich auch des wachsenden französischen Antisemitismus und Fremdenhasses bewusst, der zunächst von der rechten Presse und später von der Vichy-Regierung selbst geschürt wurde. Wir waren typische assimilierte Juden, die jede Religion ablehnten und weder jüdische Riten noch Bräuche ausübten. In Russland galten Rabbiner in den Augen zahlreicher jüdischer Intellektueller als Verbreiter von Aberglauben und Irrationalität. Natürlich waren sich meine Eltern ihrer Wurzeln bewusst, doch wie unzählige andere wurden sie erst unter Hitler zu Juden.
Kurz nachdem die Deutschen an meinem Geburtstag in Paris eingezogen waren, beschlagnahmten sie unsere Wohnung, und wir mussten Paris verlassen. Unsere Begegnungen mit deutschen Soldaten verliefen selbst in der Normandie, wo wir zunächst Unterschlupf fanden, für mich recht angenehm. Ich erinnere mich an die freundlichen jungen Soldaten, die in diesen frühen Monaten die strengen Anweisungen hatten, sich unter die lokale Bevölkerung zu mischen. Höfliches Benehmen, sogar Flirten mit meiner Mutter, bedeutete keine große Anstrengung. Lächeln und schöne Worte gab es am Anfang zur Genüge.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich beunruhigt gewesen wäre, bevor wir Vorbereitungen trafen, den von den Deutschen besetzten Norden zu verlassen und in den fälschlicherweise »Freie Zone« genannte Süden zu gehen, der offiziell unter der Kontrolle der kollaborierenden Vichy-Regierung stand. Wir besaßen gefälschte Papiere, und ich musste mir meinen neuen Namen einprägen. Ich erinnere mich, wie ich im dunklen Toiletten­häuschen am Grenzposten saß, ihn mir unablässig selbst aufsagte, doch am Ende wurde ich nie danach gefragt.
Im Süden angelangt, bezogen wir in St. Tropez eine Wohnung, die meine Eltern für die Winter­ferien im Turm des Chateau Suffren gemietet hatten. Mein Vater und meine Mutter bemühten sich auch weiterhin, mich abzulenken, und so kam es zu einem zweiten Ereignis, das mir, wie ich mich erinnere, wirklich Angst einjagte: Wir besuchten das Kino, um den neusten Disney-Film, »Dumbo«, zu sehen – offenbar liefen in Vichy-Frankreich noch immer amerikanische Filme. Die Geschichte, in der es wie in den meisten Disney-Filmen um Kinder geht, die von ihren Eltern getrennt werden, versetzte mir einen regelrechten Schock. Meine Eltern machten in der Zwischenzeit bessere Erfahrungen mit der amerikanischen Populärkultur. Der Roman »Vom Winde verweht« war gerade in französischer Übersetzung erschienen, und er dürfte die beste Fluchtlektüre gewesen sein, in beiden Bedeutungen des Wortes. Hatte mein Vater eine Seite gelesen, so riss er sie heraus und reichte sie meiner Mutter weiter.

***

Die Abreise aus Frankreich hätte nicht demütigender verlaufen können, obwohl wir alle sehr erleichtert waren, endlich aufzubrechen. Zwar erzählte mir meine Mutter erst viel später davon, doch sie war zutiefst betroffen von den »schmutzige Juden«-Rufen, die uns die Hafenarbeiter entgegenschleuderten, als unser Schiff Marseille verließ. Ein solcher Verrat von unseren Landsleuten schien unvorstellbar und war zutiefst verletzend. Diese Rufe mussten für die deutschen Flüchtlinge mindestens genauso schmerzvoll gewesen sein. Sie stellten die Mehrheit der Mitreisenden, ich erinnere mich an die Körbe von Pässen mit dem Hakenkreuzstempel, die dar­auf warteten, kontrolliert zu werden.
Das Schiff, das uns in die Vereinigten Staaten bringen sollte, legte jedoch in Casablanca an und setzte seine Fahrt nicht wie geplant über den Atlantik fort. Wieder einmal waren wir gestrandet, und diesmal sah es aus, als gäbe es keinen Ausweg, da die Vichy-Regierung immer noch (wie jeder weiß, der den Film »Casablanca« gesehen hat) Casablanca kontrollierte. Die Vichy-Regierung behauptete, es gäbe zu wenige Hotelzimmer, und verfrachtete deshalb alle Emigranten in ein Internierungslager in der Wüste Marokkos. Wieder musste mein Vater um Fahrkarten für ein anderes Schiff kämpfen, gerade als unser Geld zu Neige ging, und wieder musste er die Hilfe jeder nur möglichen Verbindung annehmen. Und wieder einmal setzte sich Gide für uns ein, nicht nur mit finanziellem Beistand, sondern indem er uns die Wohnung eines Freundes in der Stadt anbot. Dies erlaubte uns, die Zeit – die sich über Monate erstreckte – in relativem Komfort, wenngleich auch in entsetzlicher Angst zu verbringen, und schließlich gelang es meinem Vater, für uns eine Passage auf einem Schiff zu bekommen, das uns zuerst nach Lissabon und von dort nach Amerika brachte.
Das einzig Schreckliche, das mir während der endlos erscheinenden Fahrt nach Amerika widerfuhr, war, dass mir meine Donald Duck-Figur herunterfiel, mitten in eine Pfütze von Erbrochenem; sie ekelte mich so sehr, dass ich sie über Bord warf. Ich bemerkte nichts von den schrecklichen Umständen, mit denen mein Vater und die anderen Menschen zu kämpfen hatten. Nachdem die Fahrkarten zu enormen Preisen verkauft waren, hatten die Schiffseigentümer so viele Menschen wie nur möglich in den stickigen Laderaum gestopft, die dort auf Schlafkojen gestapelt lagen und auf beklemmende Weise dem ähnelten, was wir später auf den Fotos aus den Konzentrationslagern zu sehen bekamen. Ständig gab es Streit in dieser armseligen Umgebung, denn die Menschen suchten Raum zum Atmen und zum Leben. Als ich Victor Bromberts Memoiren »Trains of Thought« las, stellte ich fest, dass solche Erfahrungen keineswegs außergewöhnlich waren. Seine Beschreibung der Überfahrt hätte genau so auch die meine sein können (obgleich er beobachtete, dass die aggressivsten und schwierigsten Passagiere diejenigen gewesen seien, die in deutschen Konzentrationslagern interniert und fest entschlossen gewesen waren, sich vor ihren Mitreisenden zu schützen). Im Grunde hatte jede Überfahrt den gleichen Verlauf. Man hatte den Flüchtlingen die Einzigartigkeit ihres Leides geraubt. Jeder hatte die gleiche Erfahrung gemacht, und, in Amerika angekommen, sprach man daher nicht darüber. Schließlich waren wir einfach nur glücklich, dass wir entkommen waren.

***

Am liebsten las ich Comics, und sie waren mir unbewusst ein Wegweiser zu dem, was Amerika wirklich war. Neben meinen Kinderbüchern von klein auf hatte ich Abonnements für Looney Tunes und die Disney Comics. Mein jährlicher Dollar lieferte mir jeden Monat reichlich Unterhaltung in meinen Briefkasten. Je älter ich wurde, desto avancierter wurden die Erzähler, die ich las, ich schätzte Joe Palooka, den etwas beschränkten Boxer und strammen Verfechter unserer Kriegsziele. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass andere Jugendliche von der politischen Botschaft nicht ebenso fasziniert gewesen sein mochten (obwohl ich mir sicher bin, dass ich mit vielen Altersgenossen das Unverständnis darüber teilte, dass Superman sich nicht stärker für die Kriegsbelange einsetzte). Nach unserem Sieg wurde ich ein großer Fan von Li’l Abners Shmoos, jenen jovialen Gestalten, die uns den Frieden und Wohlstand bringen sollten, den wir uns zu Recht von der Nachkriegszeit erwarteten. Die Kinderbücher, die ich las, hatten mehr kulturellen Anspruch – eine Reihe von Biografien berühmter Komponisten und die europäischen Klassiker –, die Comics lieferten mir aber eine Einführung in die amerikanische Alltagskultur, eine Welt, der ich weder zu Hause noch in der Schule begegnete und in die ich mich glücklich versenkte.
Ich war so darauf versessen, die neuesten Comics zu bekommen, dass ich jeden Samstagabend zur 86th Street Ecke Lexington Avenue hinaufging und mir alle Sonntagszeitungen kaufte, die eine Comic-Beilage besaßen. Außer der Times, die meine Eltern jeden Tag bekamen, gab es damals vier weitere. Ich nahm meinen Vorrat an Comics ins Addie Vallins, eine klassische Eisdiele, und gönnte mir eine altmodische amerikanische Schlemmerei: einen Kaffee-Eisbecher mit Schlagsahne, Mandeln und einer Kirsche oben drauf. (Jahre später, als ich mit dem großen amerikanischen Volkskundler Richard Dorsen arbeitete und ihn fragte, wohin wir mittags essengehen sollten, erkundigte er sich verlegen, ob es wohl noch einen Ort in New York gäbe, wo man einen Eisbecher kriegen würde. Er lehrte in Indiana und bedauerte, dass es im Landesinneren keine Eisdielen mehr gäbe. Glücklicherweise hatte sich noch eine in Midtown gehalten, zu der ich ihn führte.) Nach meinem Besuch bei Vallins ging ich mit einem Stoß Zeitungen nach Hause. Allmählich begann ich mich auch für den Politikteil zu interessieren und wurde so zu dem passionierten Zeitungs­leser, der ich bis heute geblieben bin.
Damals war die 86th Street das Zentrum Yorkvilles, des deutschen Viertels, und trotz des Krieges besuchte ich diese Gegend gern und probierte sogar mein Schuldeutsch aus. Heute ist Yorkville genauso überfüllt von Turnschuh- und Telefonläden wie jedes Einkaufszentrum am Stadtrand, doch damals gab es noch unzählige deutsche Gaststätten, Cafés und andere deutsche Geschäfte. New York war in den 1940er Jahren in vieler Hinsicht noch eine europäische Stadt. Die Upper East Side kopierte auf unheimliche Weise die Geografie der alten österreich-ungarischen Monarchie: Die Deutschen lebten in Yorkville ab der 85th Street, die Österreicher und die Ungarn drängten sich in den hohen siebziger Nummern, die Tschechen etwas südlicher in den niedrigeren siebziger Nummern, und die Polen und Ukrainer hatten sich viel weiter südlich an der Lower East Side niedergelassen. Meine Mutter und ich konnten uns daher den köst­lichen ungarischen Kuchen in Mrs. Herbsts Bäckerei ein paar Straßen von unserer Wohnung entfernt gönnen oder deutsche Mehlspeisen wie etwa in der Kleinen Konditorei in der 86th Street.
Die Süßigkeiten der Heimat lösen in jedem Immigranten Heimweh aus, selbst wer nicht so sehr auf Süßes versessen ist, wie ich, wird wehmütig. Bei unserer Ankunft in New York entdeckten meine Eltern zu ihrer Freude die hervorragende österreichische Confiserie Altmann&Kühne in der 5th Avenue unweit des Rockefeller Centers. Ich erinnere mich an diese europäischen Köstlichkeiten als einige der wenigen Leckereien, die New York während des Krieges bieten konnte. Vor nicht allzu langer Zeit bemerkte ich auf einem Spaziergang in Wien mit Erstaunen, dass Altmann&Kühne wieder an den Ort ihrer Gründung zurückgekehrt war. Als ich den Verkäuferinnen erzählte, ich hätte ihre New Yorker Filiale gekannt, wussten sie nicht, wovon ich sprach.

***

Nach dem Tod meines Vaters entdeckte ich bestürzt, dass sich unter den wenigen Habseligkeiten, die er aus Europa hatte mitnehmen können, seine eleganten Abendanzüge befanden. Als sie Frankreich verließen, hatten meine Eltern offensichtlich gedacht, sie würden ihr Leben wie vor dem Krieg weiterführen können, sich für Abendessen bei Freunden oder für Konzerte zurechtmachen. Obwohl er gelegentlich seine alte Garderobe trug, war dies eher ein Symbol für eine verlorene Welt als eine Hilfe in der neuen.
Nach dem Ende des Krieges kamen viele französische Besucher nach New York. Ich besitze noch immer eine Aufnahme meiner Eltern bei einem Essen mit Jean-Paul Sartre anlässlich seines heute berühmten Besuchs, als sie einander zum ersten Mal begegneten. Die amerika­nischen und französischen Zeitungen berichteten ausführlich darüber; Sartre gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die das Außenministerium eingeladen hatte, um mehr über die Bündnispartner und die französischen Einwanderer zu erfahren. Obwohl Sartre der Meinung war, dass diejenigen, denen die Flucht aus Frankreich gelungen war, niemals würden begreifen können, wie das Leben während der Besatzungszeit ausgesehen hatte, schien er doch willens, einen Abend mit ihnen zu verbringen und als Amateurreporter durchs Land zu reisen. Noch als er seinen berühmten Essay »Betrachtungen zur Judenfrage« schrieb, kam ihm nicht in den Sinn, dass manche Leute wie meine Eltern vor einer sehr realen Gefahr geflohen waren, vielmehr schien er offensichtlich die Meinung vieler Zurückgebliebener zu teilen, dass sie Furchtbares erlitten, die Geflüchteten hingegen ein leichtes Leben gehabt hatten.
Einige andere wiederum standen den Emigranten weniger kritisch gegenüber und wollten unbedingt etwas von der Stadt sehen; Besichtigungstouren wurde zur Routine: Samstagabend Jazz in Harlem, danach, am Sonntagmorgen, ein Spaziergang durch die verlassenen Schluchten der Wall Street. Es gefiel meinen Eltern, die Besucher durch die Stadt zu begleiten und dabei ihre Verbindungen zum Pariser Leben aufzufrischen, gleichzeitig verstärkte sich dadurch ihre Frustration, da ihnen klar war, dass sie wegen der schwachen Gesundheit meines Vaters nicht – wie sie ursprünglich vorhatten – gleich nach dem Ende des Krieges würden zurückkehren können. Sie hatten nicht vorgehabt, den Rest ihres Lebens in den USA zu verbringen. Der Krieg war eine schmerzvolle Parenthese, kein unumkehrbarer Schritt in ein neues Land gewesen. Nahezu alle französischen Emigranten freuten sich darauf, so bald wie möglich heimzukehren. Claude Lévi-Strauss schreibt in seinen Memoiren »Near and Far« über die unterschied­lichen Standpunkte seiner Kollegen in der Exil-Universität, die sie an der New Yorker New School gegründet hatten: »Diejenigen, die sich als vollständig französisch verstanden, hatten nur ein Ziel, nach Frankreich heimzukehren und ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Andere, die vor kurzem eingebürgert worden waren, waren sich über ihr Schicksal im Unklaren.« Zahlreiche andere Emigranten befürchteten, sie würden nicht mehr in ihre alten Positionen zurückkehren können. Zu ihnen zählte mein Vater. Nachdem einmal die Schablone der Pléiade geschaffen worden war, war es für Gallimard relativ einfach, die Reihe ohne ihn weiterzuführen. Gallimard musste zwar den Vertrag erneuern, der meinen Vater am Gewinn beteiligte, um die Kriegsjahre wettzumachen, aber er fühlte sich nicht dazu verpflichtet, ihm seine alte Stelle zurückzugeben. Sartre äußerte sich weitaus brutaler, als er vom OSS anlässlich seines Besuches im Jahre 1945 danach gefragt wurde: »Kein einziger Emigrant verabsäumte zu fragen  …  mit der größten Besorgnis, ob man bei seiner Rückkehr auf ihn herabsehen würde. Es ist viel schlimmer, man hat sie vergessen.«

André Schiffrin wurde 1935 als Sohn russischer Juden in Paris geboren. Sein Vater hat die »Editions de la Pléiade« bei Gallimard begründet. Vor den Nationalsozialisten flüchtete er mit seiner Familie in die USA. Dort arbeitete er als Verleger von Pantheon Books und gründete den Verlag The New Press.

Gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: André Schiffrin: Paris, New York und zurück. Politische Lehrjahre eines Verlegers. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Marenzeller. Matthes&Seitz Verlag, Berlin 2010. 256 Seiten, 22,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.