Über Genforschung und das Geschäft mit Genen

Die Matrix der Anpassung

Fast täglich erscheinen neue Studien über die genetische Bedingtheit von Krankheiten. Darunter finden sich auch immer wieder Ansätze, die auf sozial unerwünschte Verhaltensweisen zielen.

Es wäre doch wunderbar, wenn man nach einer durchzechten Nacht nicht zu Kopfschmerztabletten greifen müsste. Noch besser wäre es, wenn man nach dem hundertsten Vollrausch kein Alkoholiker wäre. Und am besten für die Gesellschaft wäre es, bei der Behandlung von Alkoholismus drastisch zu sparen – gerade in Zeiten der Krise. Im Mai veröffentlichten US-amerikanische Wissenschaftler im Fachblatt Alcoholism: Clinical & Experimental Research eine Studie, die davon ausgeht, dass eine genetische Disposition die Ursache von Alkoholismus sei. Mit dieser Arbeit, an der 91 Afroamerikaner teilnahmen, wollten die Forscher nachweisen, dass in dieser Bevölkerungsgruppe häufig eine Genvariante auftrete, die Alkoholismus verhindere. Die Untersuchungen ergaben, dass die Probanden zweieinhalb Stunden nach dem Alkoholkonsum eine deutlich größere Müdigkeit zeigten als die Teilnehmer der Kontrollgruppe. »Das wäre eine Erklärung dafür, dass sie weniger trinken, denn starker Alkoholkonsum würde auf sie nicht anregend oder enthemmend wirken«, sagt Denis McCarthy von der University of Missouri in Columbia im Gespräch mit Wissenschaft aktuell. Die Forscher erwägen nun die Entwicklung eines Medikaments, das die Schutzfunktion eines bestimmten Gens aktivieren und somit eine Unverträglichkeit gegenüber Alkohol auslösen soll. Selbstverständlich, so die Wissenschaftler, lägen dem Alkoholismus nicht nur genetische Komponenten zugrunde. Doch dieser Hinweis geht, wie so häufig in der Debatte, einfach unter. Die Suche nach genetischen Faktoren als Ursache nicht nur für physische, sondern auch psychische Erkrankungen hat in der Forschung Konjunktur.

Einem Team von Wissenschaftlern der Utah School of Medicine gelang es kürzlich, zwanghafte Verhaltensweisen von Mäusen durch eine Knochenmarktransplantation zu beenden. Die Tiere litten an Putzzwang und pflegten ununterbrochen ihr Fell, bis hin zu schweren Hautverletzungen und völligem Verlust der Behaarung. Nach der Knochenmarktransplantation war dieser Zwang verschwunden. Die Forschergruppe um den Nobelpreisträger Mario Capecci führt das Verhalten der Mäuse auf das Hoxb8-Gen zurück, und ihre Versuchsreihen sollen wohl nicht nur dazu dienen, Mäusen ein Leben frei von Zwängen zu ermöglichen. Capecchi mutmaßt im Journal Cell, dass in Zukunft auch beim Menschen zwanghaftes Verhalten durch solch einen Eingriff behoben werden könnte. Er warnt zwar vor den nach derzeitigem Kenntnisstand hohen Risiken, aber seine Einschätzung verdeutlicht, in welche Richtung sich die Genforschung entwickelt.
Um den Trend zur »Normalisierung« in der Genforschung zu erfassen, muss man gar nicht so weit blicken. Auch wenn es noch keine Gentherapie gibt, bei der mit einfachen Mitteln genetische Dispositionen neutralisiert werden, im Bereich der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADS) geht es bereits um die Abstellung unerwünschten Verhaltens. Dem angeblich hormonell bedingten Problem der Unaufmerksamkeit und enormen Unruhe wird vielfach mit der Vergabe von Arzneimitteln mit dem Wirkstoff Methylphenidat begegnet. Nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist der Verbrauch von Methylphenidat auf 1 735 Kilogramm im Jahr 2009 angestiegen. Ein Jahr zuvor hatte er noch bei etwa 1 600 Kilogramm gelegen. Noch drastischer fällt der Zuwachs aus, wenn man ihn mit den Zahlen von 1993 vergleicht. Damals lag der Erwerb der Apotheken bei 34 Kilogramm. Eine Erhebung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) kam zu dem Ergebnis, dass die Behandlung von Schülern mit diesem Arzneimittel vor allem nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule stark zunimmt. Der Druck, den Leistungsanforderungen standzuhalten, ist immens. Und immer mehr Eltern sehen in der medizinischen Behandlung eine Möglichkeit, die Karriereaussichten ihrer Kinder zu verbessern.

Das Beispiel der Vergabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten wie Methylphenidat bei sozial unerwünschtem Verhalten zeigt, dass es um die Anpassung an abstrakte Normen geht. Die Studien zu Alkoholismus und zwanghaftem Verhalten legen nahe, dass der Alkoholiker nicht mehr aufgrund einer Vielzahl von Faktoren zur Flasche greift und zwanghaftes Verhalten nicht durch externe, traumatische Erfahrungen entsteht. Die soziale Dimension wird ausgeblendet, und mit der Fokussierung auf den Aspekt der Gene wird die gesellschaftliche Existenz einem biotechnologischen Zugriff überantwortet. Im Idealfall schneidet man eine defekte Gensequenz einfach heraus. Solange keine Technologie dafür vorhanden ist, versucht man, durch Medikamentengabe oder anderweitige biologische Eingriffe das Unerwünschte abzustellen.
»Es ist insgesamt die Tendenz der Medizin, nicht nur den Kranken, sondern auch den Gesunden oder Gefährdeten in den Fokus zu rücken«, sagt Erika Feyerabend von der Zeitschrift Bioskop.
Am Beispiel des »Zappelphilipps« kann man beobachten, wie sehr sich dieses Denken mittlerweile etabliert hat. »Hyperaktive und tatsächlich und vermeintlich unaufmerksame Kinder treffen auf eine Umwelt, die ihr Verhalten nicht billigt, ja sogar bestraft. Sie fallen auf – und das stresst wiederum die anderen«, so der Neurobiologe Ralph Dawirs in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Und er sieht einen weiteren wichtigen Faktor für die explosionsartig gestiegenen Verschreibungszahlen von Medikamenten. »Dahinter steckt ein handfestes Interesse der Pharmaindustrie.« Der Markt mit den Genen ist ein Milliardengeschäft, das mit jeder Entdeckung und jeder Patentierung weiter floriert.
»In den USA wird nicht mehr über die genetische Ursache einer Krankheit diskutiert – diese wird vorausgesetzt –, sondern über den prozentualen Anteil«, beschreibt Erika Feyerabend im Gespräch mit der Jungle World die Situation. Es geht nicht mehr allein um Krankheiten wie Alzheimer oder Diabetes, sondern auch um psychische Erkrankungen und sozial unerwünschtes Verhalten. Die Patentierung einzelner Gensequenzen, die für bestimmte Krankheiten verantwortlich gemacht werden, bescheren den Pharmaunternehmen Milliardengewinne. Jüngstes Beispiel ist die US-amerikanische Firma Myriad Genetics, die zwei Patente auf Gene hält, die mit der Entstehung von Brust- und Eierstockkrebs in Verbindung gebracht werden. Auf die Testverfahren zum Nachweis dieser Gene besitzt das Unternehmen das Monopol. »Den Test zum Nachweis dieser Gene ließ sich Myriad Genetics jeweils mit 3 000 Dollar bezahlen. Jeder Arzt und jedes Labor mussten dabei den Test der Firma verwenden«, berichtet Susanne Schultz, Redakteurin für Medizin und Humangenetik beim Gen-ethischen Netzwerk. Was der Nachweis der angeblichen Krebsgene den Frauen bringt, bleibt offen. Denn weder folgt aus dem Vorhandensein der Gene automatisch eine Erkrankung an Krebs, noch steht irgendeine Therapie zur Verfügung, wenn der Gentest die patentierten Gene nachweist.

Das Biotechnologieunternehmen hatte sich die Gene auch in Europa patentieren lassen. Damals protestierten Ärzte, Genetiker und Greenpeace-Aktivisten und hatten damit Erfolg. Vor fünf Jahren wurden die Patente stark eingeschränkt. Ende März beschränkte auch ein US-amerikanischer Richter in New York vorerst die Aktivitäten von Myriad Genetics. Angeführt von der Bürgerrechtsbewegung American Civil Liberties Union, reichten diverse genforschungskritische Organisationen Klage gegen den US-Konzern ein, mit der Begründung, es handele sich bei den patentierten Genen um Naturprodukte, und die könne man sich nicht patentieren lassen. Bezirksrichter Robert Sweet folgte ihrer Argumentation und stellte die Patentierbarkeit von Genen oder Gensequenzen generell in Frage. Das ist ein Novum in der US-amerikanischen Rechtsgeschichte. »Es handelt sich schon um eine Art Musterprozess. Bislang hat noch keine Organisation in den USA gegen die Patentierung von Genen an sich geklagt«, sagt Susanne Schultz im Gespräch mit der Jungle World. Sie geht jedoch davon aus, dass das Urteil von einer höheren Gerichtsinstanz wieder aufgehoben werden könnte.
In den bisherigen Verfahren ging es vor allem um Patentstreitigkeiten und um die Frage, was genau patentiert werden sollte. Für Erika Feyerabend greift diese Kritik zu kurz: »Viele der genannten Argumente gegen die Genpatentierung basieren auf dem Konstrukt einer ›unberührten Natur‹. Darum geht es aber gar nicht. Es geht vielmehr um die Frage, warum isoliert man überhaupt irgendwelche Gene, und wer verdient daran?« Die Rolle des Monopols auf bestimmte Verfahren ist dabei nebensächlich. Es geht grundsätzlich um die Frage, ob menschliche Gene ein Wirtschaftsfaktor werden dürfen. Faktisch sind sie es bereits in vielen Ländern der Welt. Konzerne, die mit Gentests handeln und in der Genforschung aktiv sind, sind oftmals börsennotierte Unternehmen. So wie auch Myriad Genetics. Das Urteil des New Yorker Gerichts spiegelte sich mit einer kurzen Verzögerung dann auch in dem Aktienkurs des Unternehmens wider. Anfang Mai kam es zu einem drastischen Kurseinbruch. Die Aktie von Myriad Genetics rutschte mit einem Minus von knapp 18 Prozent in den Keller.