Ein Porträt von Bukarest

Im Klappstuhl der Geschichte

Vor dem Beben, nach der Fernsehrevolution. Eine Stadt sucht ihre Zeit.

Hunde, sagt man, sind gute Seismografen, bessere jedenfalls, als manches geologische Institut sie zu bieten hat. Und so ist es tatsächlich ein Glück, dass die Bukarester caini, die Straßenhunde, sich inzwischen wieder sichtbar vermehren. Denn in der Stadt steht das Erdbeben seit einigen Jahren aus.
Bukarest und das Erdbeben, das ist so wie Neapel und der Vesuv. Beide Städte entkommen ihren fatalen Bindungen nicht. Und in beiden finden sich Gesteinsschichten, die mehr den Fatalismus als den Fortschrittsoptimismus repräsentieren, selbst wenn sie die Insignien der Moderne tragen. Was in Neapel die halsbrecherischen Wettjagden auf den Motorrollern sind, sind in Bukarest die nächtlichen Rennfahrten der Neureichen zwischen Piata Uniri und Piata Romana. Die Männer in den Ferraris und Porsches haben ihr Vermögen dank guter Kontakte gemacht. Der Illusion, man könne durch Arbeit reich werden, sitzt in Osteuropa niemand auf. Die Väter waren oft noch Schafhirten, die ein Stück Land gewinnbringend verkauft haben, andere haben Security-Firmen gegründet, weil sie Männer kannten, die erst etwas gelten, wenn sie einen Hof besitzen. Bukarest, das sieht man nachts, hat sein grundsätzlich feudales Gepräge bewahrt; man ist nur wer, wenn man etwas vorzuweisen hat, einen Hofstaat sein Eigen nennt, eine blonde, langbeinige Schönheit an der Hand hat, wenn es Menschen gibt, die vom eigenen Wohlwollen abhängig sind, Bittsteller, Domestiken, die man von der Straße geholt hat. Der Reiche mag ein Verbrecher sein, aber er ist auch ein Wohltäter. Man schimpft das Familiarismus und vergisst, dass dies der einzige Erfolg versprechende Weg ist, um aus einer wirtschaftlich prekären Lage etwas sanfter in den Westen zu gleiten.
Die Hunde, die Neureichen, das Erdbeben, der Bodensatz, dies sind die vier sozialen Elemente der Stadt. Der Bodensatz schart sich um die Big Men, aber nicht anbetend, sondern störrisch, wie er es in Zeiten des Mangels gelernt hat. Man begegnet ihm im Museum, wenn man wieder einmal der einzige Besucher ist, der durch die riesigen Säle irrlichtert, aber dabei pro Saal von zehn Augenpaaren verfolgt wird. Im Bauernmuseum, einem mit spirituellen Erläuterungen ausgestatteten Folkloristikum, das doch eines der besten Museen in Europa, ein Kulturzeugnis ohnegleichen ist, gibt es in die Ausstellungsräume eingebaute Personalküchen und -ruheräume. Da werden Eier gekocht und Pullover für die Liebsten gestrickt. Man sollte es unbedingt vermeiden, den Aufsichtsdamen eine Frage zu stellen: Der Umstand, dass sie einem Erwerbszweck nachgehen, wenn sie sich zusammensetzen und tratschen, ist für sie schon beleidigend genug und sollte von einem Außenstehenden besser ignoriert werden.
Während die Museumsdamen die an Ort und Stelle Überlebenden der epoca d’aur darstellen, wie der rumänische Filmemacher Cristian Murgiu die sozialistische Ära nannte, datieren die Wachmänner der Security-Dienste zum einen weiter zurück, zum anderen weisen sie voraus in die Zukunft. Wie gesagt, verkörpern sie das feudale, historisch präziser: das sultanistische Prinzip. Wo sie am verzichtbarsten sind, wirken sie am hochmütigsten. In der U-Bahn, deren Taktfrequenz höher ist als in jeder anderen europäischen Großstadt, passen sie auf, dass Schulkinder die Haltegriffe nicht als Turnstangen missbrauchen, und in den Schulen, vornehmlich den privaten, lehren sie die Kinder Mores und verhindern angebliche Entführungen. Sie bewachen Banken, aber auch Restaurants, neuerdings sogar Kirchen. Viele Wachmänner sind übergewichtig, leiden unter Haarschwund und haben schlechte Zähne: Ihnen verleiht die Uniform Ansehen. Sie gehören zu jemandem. Den Job bekommen sie über Beziehungen, der Zivilgesellschaft nehmen sie den öffentlichen Raum weg. Als die Security-Manie ausbrach, geschah dies, weil die Bukarester Polizei die Kleinkriminalität angeblich nicht in den Griff bekam. Statt offiziell unparteiische Diener der Bürger hat man nun privatisierte Domestiken. Sie schützen Privatstraßen und verbreiten Gerüchte von Gefahren, denen man keinen Glauben schenken sollte.
Im Gegensatz zu Neapel ist die Bukarester Kriminalitätsstatistik nämlich vernachlässigenswert. Selbst die Kleingaunerei, die immer einen pittoresken Anstrich besaß, ist nahezu ausgestorben. Und die Bukarester Taxifahrer in ihren orangenen Dacias sind gnadenlos ehrlich. Doch bleibt das diffuse Gefühl, die Stadt sei ein Vexierbild, das andeutungslos ins Gegenteil kippen könnte. Ein italienischer Geschäftsmann bemerkt, die Security-Männer seien vielleicht verkappte Schutzgeldkassierer, die, was sie im Auftrag des »tiefen Staats« plündern, dreist zu verteidigen vorgeben.
Das sind Vermutungen. Rauchzeichen wie über dem Vesuv gibt es nicht. Die Bukarester selbst vergleichen ihre Stadt lieber mit Rom, mit einem Stolz, den Mussolinis Geschenk einer überdimensionierten Wölfin einst befeuert hatte. Die trotzigen Daker waren der Stachel im Slawenreich, auch unter dem späten Gheorghe Dej und unter Ceaucescu war das nicht anders. Genosse Dej war der Mann der Säuberungen und zugleich ein neronischer Connaisseur. Er verantwortete das bestialische Pitesti-Experiment, bei dem Gefangene ihresgleichen quälen und sich damit »umerziehen« mussten. Ceau­cescu dagegen dürstete es weniger nach Schrecken als nach Huldigung. Sein unübersehbarer Fußabdruck im Gedächtnis der Stadt wie des Erdkreises – urbi et orbi: vom Mond aus, sagte er, sehe man’s auch – ist der Parlamentspalast, ursprünglich casa poporului (Haus des Volkes). Eine junge Architektin, die offenbar dem Größenwahn umso mehr schmeicheln musste, je weniger sie auf nepotistische Hilfe rechnen konnte, gewann mit ihrem Zuckerbäckerentwurf den Wettbewerb. Er erwies sich als regelrechtes Pharaonengrab, das seit 1984 in alle fünf Richtungen wächst und Unsummen verschlingt, die nicht einmal durch die Vermietung an Autokonzerne eingespielt werden. Denen nämlich dienen die unbeheizbar riesigen Räume für das Schaulaufen ihrer Modelle in Werbefilmen. In einem Seitenflügel hat man nun das ebenfalls für die Exponate zu große Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst untergebracht. Der Palast ist so gigantisch, dass die Wächter auf der einen Seite noch nie von der Existenz des Museums auf der anderen Seite gehört haben.
Auch Mihai hat noch nicht davon gehört. Er kann einen nicht lange anschauen, weil er Schnupfen hat und ihm ununterbrochen die Augen tränen. Trotzdem wirkt er würdevoll unter seiner schweren Astrachanmütze, die er noch im Frühling trägt, als traue er der Sonne nicht. Geboren wurde er in Piatra Neamt, einer Stadt im alten Herzogtum Moldau, und wie die Moldauer allgemein als sehr religiös gelten, so kann man sich ihn vorstellen. Mihai war Lehrer und lehrte die exotische Kombination Latein und Russisch, er hat eine Frau, mit der er in einem einstöckigen Wohnhaus mit Brancoveanu-Loggia in einer kleinen Straße lebte, in der es außerdem viele Holzhäuser gab, und die ungefähr am Westflügel des heutigen Palastes vorbeiführte. Als der Staat das Terrain für seine Repräsentationsbauten erwählte, bot man einigen Bewohnern zwar die bequemeren Neubauwohnungen an, riss die meisten aber entschädigungslos aus ihrem Umfeld. Weil sie nicht wussten, wohin mit ihnen, ließen viele ihre Hunde frei. »Auch wir haben das getan, unser einziger Protest«, wie sich im Nachhinein sagen lässt. Mihai erzählt, wie mit den Jahren die Wunde über sein inmitten von Bukarest zurückgelassenes Dorf zu eitern anfing, wie er es zunächst nicht wahrhaben wollte und erst begriff, als seine Frau, mit der er inzwischen in einem Block an der Gara Nord wohnte, nicht mehr aus dem Bett hochkam. Für die Depression einer Frau macht man in Rumänien aber bis heute vor allem den Schwanz eines Mannes verantwortlich. Und deshalb traf Mihai schließlich das Gefühl der Schande, wenngleich jener: gewichen zu sein. Es verfolgt ihn heute noch, da er jeden Tag sein Tischlein aufbaut, einen Klappsessel aus einem VEB der DDR daneben, auf dem er umständlich mit knotigen Händen religiöse Literatur ausbreitet. Mihai sitzt im Schatten eines Autoparkplatzes, 200 Meter vom Besuchereingang für den Palast entfernt, durch den jede Bukarester Firmendependance ihre ausländischen Mitarbeiter einmal schleust. Mihai sehen die wenigsten. Spricht man mit ihm, der neben seiner Muttersprache auch Französisch und Deutsch beherrscht – ein Deutsch übrigens, das so nasal klingt, als habe er sich das Wienerisch alter Schallplattenlesungen zum Vorbild genommen –, dann versäumt er nicht, seinen Dank der Vorsehung gegenüber auszudrücken, die die Abdankung des präpotenten Herrscherpaares frühzeitig verfügte, um einen weiteren Krieg in Südosteuropa zu vereiteln: »Ceaucescu hat sich einen Palast hinstellen lassen wie ein Sultan. Dafür ist unser Land doch viel zu klein!« Der Lehrling absolutistischer Herrschaftstechnik ließ die »Straße der Einheit« erweitern, sie sollte die Champs Elysée überragen. Doch schließlich war es nicht einmal Ceau­cescu vergönnt, von seinem Balkon aus dem Volk zu zu winken, er tat es zum letzten Mal von der Parteizentrale, bevor ihn ein Hubschrauber vor der aufgebrachten Menge rettete. Dafür übernahm dies Michael Jackson, der wohl unter dem Einfluss diverser Schlafmittel »Hello Budapest« in den Nachthimmel von Bukarest rief. Schon wieder jemand, der die Lage verkannte …
Die Revolution vom Dezember 1989 sei eine Fernsehrevolution gewesen, heißt es. Das meinen nicht nur die von ihr Enttäuschten, sondern vielfach auch ihre Bewunderer. Die einen halten sie für ein Kunststück der Apparatschiks aus der zweiten Reihe, die sich die Unterstützung des Volkes sichern wollten. Die anderen verehren sie geradezu als Medienereignis: als eine Inszenierung, die Wirklichkeit wurde und den Lauf der Geschichte änderte, in die sie hätte eingebettet sein sollen. Wer genauer hinschaut, sieht die Lücken: Der Dichter Marin Dinescu probte sein Freiheitslied, während die Kamera aus Versehen mitlief; die neue Elite konspirierte vor dem Auftritt, übte ihre Streitigkeiten. Die weniger rechtsstaatlichen Prinzipien als der Dramaturgie stalinistischer Schauprozesse gehorchende Verurteilung und Hinrichtung des Diktatorenpaars erfolgte in Farbbildern. Jahrelang hatte man die beiden nur in Schwarz-Weiß bestaunen dürfen, mit ihrem Tod vollzog sich der Einbruch des Realen. Das epiphanische Ereignis löschte zugleich die Not aus, sich mit der Vergangenheit auseinander setzen zu müssen. Die medientechnische Behauptung spielte darum zwei Gruppen in die Hände: den Kadern der zweiten Reihe und der rumänisch-orthodoxen Kirche.
Auf seinem Klappstuhl erwartet Mihai Wunder, von denen er in den Hagiografien der Weltgeschichte gelesen hat. Er erwartet zum Beispiel, dass er eines Nachmittags nach einem Nickerchen statt des Palastes im Rücken seine Altstadtstraßen wiederfindet.
Die Inbrunst seines Glaubens und die parodistische Szenerie der Klappstuhlsitzung: Den geheimen Kern von Mihais Überzeugung wird niemand je zu Gesicht bekommen. Wehmut und Ironie, balkanische Zeitlosigkeit, Revolutionseifer und Fatalismus – warum drängt es hier zum »und«, wo jeder vernünftige Geist ein »gegen« setzen müsste? Eine Hochschullehrerin, die lange in Deutschland gelebt hat, sagt, die rumänische Identität bestehe in der Auslöschung ebenjener Identität. Sie meint damit die enorme Anpassungsfähigkeit der Menschen und des Landes, das zweimal einen Krieg auf der falschen Seite angefangen und auf der Siegerseite beendet hat. »Wenn ein Rumäne fünf Jahre irgendwo arbeitet, wird nichts mehr daran erinnern, dass er ein Rumäne ist.«
Eine Stadt sucht ihre Zeit, ihre Seele, ihre Zukunft. Rings um den Parlamentspalast schwillt der Abraum – als zweites totes Gebäude harrt hier der gleichfalls gigantische Fernsehpalast. Mihai empfiehlt: »Geh auf den Belu-Friedhof, dort schlägt unser Herz.« Gewiss denkt er an die National-Ikonen, an Mihai Eminescu oder Nichita Stanescu, an die Sektion der toten Poeten und Denker. Und vielleicht auch an den kleinen Abschnitt mit den makellos weißen Gräbern, den Friedhof der Revolutionshelden vom Dezember 1989, denen der neue Staat den Schatten der aufrechtesten Birken des Landes spendiert. Jedes Grab trägt seine Dienstmarke: eine Schleife in den Landesfarben. Die Bäume wachsen statt der gefällten Jugend weiter. Bald machen sie den Himmel über den Gräbern dicht. Das ist distanzlos, ja pathetischer Overkill. Aber es gehört zu einem Land, bei dem die Zeichen und das Bezeichnete stets sehr weit von einander entfernt waren und ihr Zusammenhang offenkundig eine Frage der Macht wurde. Man sehnte und sehnt sich nach diesem Zusammenhang, und diese ewige Sehnsucht erlaubt das provisorische Leben, die nächtlichen Ausschweifungen, die Autojagden auf den Straßen, die sprachlose Lust. Die Hunde, die stummen Seismografen, die frei wie die heiligen Kühe Indiens über die Gräber ziehen, wittern diese Spannung. Ihre Sprachlosigkeit greift das große Schweigen ab, dem diese Stadt entgegengeht.
Kürzlich machte der Bukarester Ratspräfekt den Vorschlag, die rund 70 000 Tiere einzufangen und einzuschläfern. Sie würden dem Ruf der Stadt schaden.