Diskussion über Fußball und Nationalismus. Eine Dokumentation

Von Ghana nach Gaza

Vor der Übertragung des Fußball-WM-Spiels Ghana – Deutschland am 23. Juni hatte die Jungle World zusammen mit Yad Achat und dem Bündnis aktiver Fußballfans in Berlin zu einer Diskussion über Fußball und Nationalismus eingeladen. Auf dem Podium im Festsaal Kreuzberg rauchten und debattierten: Alex Feuerherdt (Autor und Fußball-Schiedsrichter), Deniz Yücel (Taz), David Schweiger (Phase 2) und Klaus Bittermann (Verleger und Stifter des Kevin-Prince-Boateng-Preises). Wir dokumentieren redigierte Auszüge.

Moderation: Doris Akrap
Ballack wurde von Kevin-Prince Boateng gefoult, so dass er nicht an der WM teilnehmen konnte. Danach gab es Mordaufrufe gegen Boateng. Wir haben gedacht: Oje, da kommt der deutsche Furor wieder. Deniz, wie geht es ­deiner Mutter eigentlich?
Deniz Yücel: Meiner Mutter geht es gut, danke der Nachfrage. Sie ist im Moment an der türkischen Riviera. Aber wäre sie hier, glaube ich, würde sie nicht beängstigt sein, wie sie das bei der WM 1990 war. Sie wäre aber, glaube ich, auch nicht so sehr bei der Sache wie 2006.
Kurz zur Erklärung für alle, die bei der vorigen WM noch nicht Jungle World gelesen haben. Deniz hat dort 2006 geschrieben, dass seine Mutter, die aus der Türkei kommt, völlig be­ruhigt sei angesichts der WM. Deniz erklärte damit, dass er das Fahnenschwenken, das viele Linke 2006 so erregt und bestürzt hat, nicht so schlimm fand. Klaus, weshalb hast du den Kevin-Prince-Boateng-Preis ausgelobt?
Klaus Bittermann: Den Preis habe ich zusammen mit Wiglaf Droste ausgelobt. Es gibt dafür ein T-Shirt von Del Piero, der bei der letzten Weltmeisterschaft im Halbfinale Deutschland mit einem wunderbaren, eleganten Tor den Todesstoß gegeben hat. Wir waren Boateng sehr dankbar, dass er den deutschen Werbeträger Nummer eins, Michael Ballack, den Werbeständer der Nation, aus dem Verkehr genommen hat. Für solche Taten haben wir diesen Preis ausgelobt und hoffen, dass sich jemand um ihn bewirbt.
Alex, an dem Tag, an dem klar war, dass Ballack nicht mitfahren kann gab es einen Kommentar in der Berliner Zeitung, der damit endet: »Wenn es in einem Land je einen entspannten Patriotismus gegeben hätte, dann müsste man ihm am heutigen Tag einen Nachruf widmen.« Gab es je einen entspannten Patriotismus?
Alex Feuerherdt: Nein, den gab es nie. Das war von Anfang an eine Chimäre. Es gibt die entsprechenden Statistiken, die gerade für den Zeitraum der vorigen WM in Deutschland einen enormen Anstieg an Straftaten mit ausländerfeindlichem Hintergrund nachgewiesen haben.
Yücel: Selbst wenn dem so war, ist die Situation heute oder von 2006 eine ganz andere als im furchtbaren Jahr 1990 mit Mauerfall, Einheit, Weltmeisterschaft – noch dazu verdient – und bald darauf den Pogromen von Rostock oder Hoyerswerda und den Mordanschlägen von Mölln und Solingen. All das verdichtete sich in einem berühmten Bild: diese Figur mit dem Deutschland-Trikot und der vollgepissten Jogginghose, die Hand zum Hitlergruß erhoben, vor dem Haus in Rostock stehend. Damals haben sich die Nazis, die für Deutschland gejubelt haben, als Avantgarde verstanden. Und sie haben tatsächlich dafür gesorgt, dass das in die Tat umgesetzt wurde, was damals alle wollten, nämlich die »Asylantenfluten« zu stoppen. Heute sind die Nazis eine Randerscheinung. Wenn man sich heute ihre Foren anschaut, sieht man ganz deutlich, dass die Nazis eben nicht für Deutschland sind, weil diese ganzen Kanaken nicht Deutschland repräsentieren. Ich habe fast den Eindruck, dir, Alex, gefällt, wenn Nazis Ausländer klatschen gehen, weil das dein Weltbild bestätigt. Als tot geprügelter Cacau, als Opfer, wäre er dir lieber denn als jemand, der hier seinen beruflichen Lebensweg geht und sich für Deutschland entscheidet, so wie das ein Schweinsteiger tut.
Feuerherdt: Jetzt mach bitte mal einen Punkt. Es geht überhaupt nicht um Cacau, dessen gutes Recht es ist, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen. In Brasilien hätte er ohnehin keine Chance. Es geht mir um die Reaktionen darauf: Die einen – und das sind längst nicht nur Neonazis – betrachten alle deutschen Spieler mit Migrationshintergrund als potenzielle Vaterlandsverräter, vor allem, wenn sie es wagen, die Nationalhymne nicht mitzusingen. Die anderen mögen Cacau, Özil & Co., weil sie denken wie Günther Beckstein, der einmal sagte: „Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nützen, und weniger, die uns ausnützen.“ Das sind konkurrierende Formen von Nationalismus. Auf der einen Seite der alte Nationalismus à la 1990. Auf der anderen Seite der neue, modernisierte Nationalismus à la 2006. Da haben sogar Leute in Deutschland-Trikots gegen Nazis demonstriert.
Yücel: Für dich mag das ein und dasselbe sein, ob jemand in Deutschland-Trikot gegen Nazis demonstriert oder ob Nazis Ausländer klatschen. Für die Leute, in deren Namen du zu sprechen vorgibst, ist das ein erheblicher Unterschied, ob die Nazis die Volksmassen hinter sich wissen und zuschlagen dürfen oder ob sie eine Randerscheinung sind.
David Schweiger: Die klassisch linke Position, von 1933 bis heute eine Linie zu sehen, immer wieder zu betonen, der Nationalismus würde sich zwar anders darstellen, aber im Grunde genommen, wenn man tiefer guckt, sei alles das Gleiche, halte ich für falsch. Wir müssen beobachten, dass es ungefähr ab dem Jahr 2000 eine Wende gibt, dass es Versuche gibt, Nationalismus neu zu definieren, ihn von Rassismus zu entkoppeln. Das wird auf einer medialen und einer offiziellen politischen Ebene versucht und ist nicht immer erfolgreich. Und diese Veränderungen kann man relativ deutlich beim Fußball sehen. Das hat auf der einen Seite damit zu tun, dass die nationale Stimmung in Deutschland sich verändert hat, aber auch viel mit Veränderungen im Fußball selbst. Auch Beckenbauer und die ganze DFB-Riege mussten einsehen, dass Mannschaften wie Frankreich, die es geschafft haben, Spieler mit Migrationshintergrund einzubinden, 1998 stärker waren.
Eine Beobachtung, die ich gemacht habe, ist, so ganz unter Linken, gerade in einem linksliberalen, grünen Milieu: Wenn man sagt, man ist nicht für Deutschland, wird man schon schief angeguckt und gilt als Oldschool-Linker, als Außenseiter, als Vaterlandsverräter.
Bittermann: Bei der letzten WM haben die Deutschen ihre Fähnchen ja rausgeholt, weil sie endlich so normal sein wollten, so wie andere Nationen auch. Das ist eine sehr interessante Argumentation, weil jedes andere Land etwas Besonderes sein will. Nur die Deutschen wollen so sein wie alle anderen. Das andere ist, dass Fußball nach wie vor eine Angelegenheit der Unterschicht ist. Je mehr und je größer geflaggt wird, desto mehr Unterschicht. Bei mir im Graefe-Kiez, der eigentlich mehr von Alternativen bevölkert ist, gibt es eine Kneipe, die heißt »Ohne Ende«, die ist 24 Stunden geöffnet, da gibt sich die Unterschicht persönlich die Kante. Die haben zwei riesige Fahne mit Reichsadler und noch zwei kleine, also vier Fahnen für einen Fernseher. Das heißt, dass diese Mittelschichtsalternativen sich immer mehr proletarisieren, immer mehr annähern an diese Bewusstlosigkeit, die dem Ganzen zu Grunde liegt. Das ist viel interessanter als die Frage, inwieweit Nazis das Bild beherrschen.
Feuerherdt: Nazis sind in gewisser Weise für dieses sich als neu begreifende Deutschland sogar schädlich. Denn ein Kennzeichen dieses neues Nationalismus ist es, stolz auf die deutsche »Vergangenheitsbewältigung« zu sein. Das Symbol dafür ist das Holocaust-Mahnmal – das größte Mahnmal der Welt, das es ohne den größten Massenmord der Geschichte gar nicht gäbe. Dem WM-Nationalismus vorausgegangen ist übrigens das, was ich als Lena-Nationalismus bezeichnen würde …
Bittermann: … ich nenne den auch Kindergeburts­tags-Nationalismus …
Feuerherdt: Ja, und die »Kinder« haben sich bei Facebook ausgetobt und sich darüber aufgeregt, dass Israel es doch tatsächlich gewagt hat, dieser Schülerin den verdienten Beifall vorzuenthalten und ihr null Punkte zu geben. Es äußerte sich massivster, widerwärtigster Antisemitismus. Man könnte vielleicht sagen, dass dieser neue »unbeschwerte« Nationalismus in gewisser Weise produktiver ist als der alte, denn dieses ganze Schluss­strichziehen machte immer ein wenig verdächtig im Ausland. Der neue Nationalismus sieht so aus, dass man demonstrativ über die toten Juden trauert, am 9. November, am 27. Januar, und über die lebenden herzieht, sobald sie sich auf die Seite Israels stellen. Durch die »Vergangenheitsbewältigung« wähnt man sich moralisch im Recht, mit dem jüdischen Staat mal so richtig Tacheles zu reden. Im Namen des Friedens gegen Israel zu sein war vielleicht in den Neunzigern noch etwas Neues, mittlerweile ist es im Mainstream angekommen. Man sagt: »Wir sind inzwischen die friedliche Nation geworden.« Doch dieser neue Nationalismus ist jederzeit bereit, den alten abzurufen. Nur ein Beispiel: Die Schlagzeile nach dem Serbien-Spiel auf Spiegel Online lautete: »Nur ein Sieg bringt die Erlösung«. Das ist wagneresk. Das ist genau die Anleihe an diesen alten Nationalismus, der deutlich macht: Sieg oder Untergang. Diese Form der Identitätsfindung ist das, was den neuen Nationalismus auszeichnet, zusammen mit der alten Feindschaftserklärung gegen die USA, gegen Israel.
Yücel: Ich habe mich schon gefragt, Alex, wann du den Schritt von Ghana nach Gaza machen würdest. Diese Sehnsucht nach Opfern finde ich sehr befremdlich. Wenn es nicht genug tote Schwarze oder Türken in Deutschland gibt, müssen eben andere vermeintliche Opfer her, mit denen man sich solidarisch fühlen kann. Klaus, ich glaube, was die Unterschicht angeht, hast du völlig Recht. Ich bin 2006 durch verschiedene Viertel Berlins gefahren und dabei war es offensichtlich, dass die Grenze nicht zwischen Kreuzberg und Marzahn verläuft, sondern zwischen Kreuzberg und Marzahn auf der einen und dem Grunewald auf der anderen Seite. Ich bezweifle, dass diese Fahnenschwenkerei irgendetwas Politisches ist. Das sind Modeaccessoires. Es ist keine Formierung zum Pogrom.
Schweiger: Ich denke nicht, dass man sagen kann, der Fußball-Nationalismus hat mit den anderen Nationalismen nichts zu tun und ist nur ein Accessoire. Ich finde den Schritt von Ghana nach Gaza völlig richtig. Denn der Fußball-Nationalismus ist Teil eines gesamten nationalen Projekts, und dieses ist die Befreiung Deutschlands von der Vergangenheit. Es geht darum, auch bei der Fußballweltmeisterschaft, besonders im Jahr 2006, nach Außen zu zeigen und nach Innen klar zu machen, dass der deutsche Nationalismus ein aufgeklärter, fortschrittlicher sei, und dass »wir« jetzt endlich wieder in der Lage sind, frei zu sagen, was »wir« denken und auch handeln können, wie »wir Deutschen« es wollen. Das heißt, dass Deutschland sich endlich in der Lage fühlt, als Sachwalter im Nahen Osten zu agieren und dabei auch gegen Israel vorzugehen, natürlich nicht militärisch. Aber in der Argumentation.
Yücel: Wir sind uns ja alle einig, dass Deutschland nicht mehr das Deutschland von 1990 ist. Wolfgang Pohrt hat mal geschrieben: Noch unverfrorener als Auschwitz zu verharmlosen, sei es, daraus nationales Selbstbewusstsein zu schöpfen. Als moralische Polemik kann ich dem heute noch etwas abgewinnen. Ich frage mich nur, was es für die Praxis heißt. Wäre es uns denn lieber, wenn Deutschland weiter verdrängen würde, wenn das Deutschsein weiter völkisch definiert werden würde? Anders als 2006 halte ich selbst diesmal nicht so mit der deutschen Mannschaft, aber das hat nur ästhetische Gründe. Denn ob man bei der WM für Deutschland ist, ist keine politische Frage, und es schließen sich keine politischen Implikationen an, am wenigsten zu Israel. Mit Gaza für Ghana zu argumentieren, ist völlig abwegig.
Feuerherdt: Weil du damit argumentierst, dass früher alles noch schlimmer war. Und ich sage, dass man diesem neuen Nationalismus nicht auf den Leim gehen darf. Denn die Feinde sind letztlich die alten geblieben, nur wirft man ihnen jetzt vor, sich zu benehmen wie früher die Nazis. So läutern sich die Deutschen selbst.