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Unser aktuelles Projekt ist die neue Pünktlichkeit. Blau leuchtende, grimmige Emoticons sehen uns an, sobald wir einen Blick auf den Produktionsplan werfen. Früher machte uns noch ein freundlich diskretes »Komm über« darauf aufmerksam, dass Zeitungsseiten ohne Texte einfach nur Papier sind. Dass wir mit der Überwindung unserer Trägheit ausgerechnet dann beginnen, wenn in und außerhalb der Redaktionsräume Hitzerekorde gebrochen werden, ist kein Zufall. Widrige Umstände sind genau das, was den Mitarbeiter der Jungle beflügelt. Schon bei der Bundespräsidentenwahl zeigte sich, wie ernsthaft wir an unserer Disziplin arbeiten. »Die liegen jetzt schon so weit zurück, dass sie den Zeitplan auf keinen Fall einhalten können«, konstatierte ein Kollege, der stattdessen auch mühelos eine brillante Zwischenbilanz voller historischer Verweise hätte liefern können. »Von denen hätte morgens sicher auch keiner damit gerechnet, dass er bis spät abends arbeiten muss«, bemerkte unser Experte für physiognomische Analysen, der sonst aus einem Zucken der Mundwinkel präzise Vorhersagen über die weitere Laufbahn eines Politikers trifft. Diese Sätze verfehlten ihre Wirkung nicht, ungewohnt beschwingt-dynamisch eilten alle Redaktionsmitglieder an ihre Schreibtische zurück. Als hätte er geahnt, dass auch die neue Pünktlichkeit ihr Recht auf Pausen einfordert, kam am Freitag ein Redakteur im orangenen Trikot zur Sitzung. Viele unserer geschätzten Autoren hatten an diesem Tag wirklich Pech. Kranke Kinder betreuen, erkrankte Kollegen vertreten, da halten auch wir nicht stur an unserem neuen Projekt fest, sondern vereinbaren eine neue Deadline. Beschleunigungswillige Redakteure in der Warteschleife können zur Kontemplation ja auch Fußball gucken oder eine Blatt­reform beschließen. Wir sind mittlerweile so schnell, dass wir beides schaffen. Natürlich glauben wir weiterhin, dass für kluge Gedanken Zeit unabdingbar ist. Manchmal erreichen uns Leserbriefe, die das Einstiegskapitel für eine Dissertation sein könnten. Das mögen wir, und während wir auf die wohlüberlegten Anregungen unserer Leser warten, gucken wir, was die Netzcommunity gerade diskutiert. Denn das Schnelle und Assoziative passt eigentlich auch ziemlich gut zur Debattenkultur der Jungle. Unsere neue Rubrik, die ausgiebig durchdachte und lässig hingeworfene Kommentare vereint, hört übrigens auf den Namen »Die Reaktion«.