Die Rolle der CDU bei der Hamburger Schulreform

Ein Freiherr macht Schule

Ein Scheitern der Hamburger Schulreform durch das bevorstehende Referendum würde weitrechende Auswirkungen nicht nur auf die Regierung Hamburgs, sondern auch bundesweit auf die Machtverhältnisse innerhalb der CDU haben.

In Hamburg stoßen die Pläne des schwarz-grünen Senats, die vierjährige Grundschulzeit durch eine sechsjährige Primarschule zu ersetzen, auf großen Widerstand aus dem Bürgertum. Die Gegner der Reform fürchten um den Erhalt des traditionellen Gymnasiums, wenn die Kinder nicht mehr wie bisher nach der vierten Klasse auf weiterführende Schulen verteilt werden. Stattdessen sollen die Kinder jetzt nach der sechsten Klasse den Weg zur möglichen Hochschulreife entweder in insgesamt zwölf Schuljahren auf einem Gymnasium oder in 13 auf einer zur »Stadtteilschule« ausgebauten Gesamtschule beschreiten. Ein zentraler Streitpunkt ist zudem die Frage, ob Kinder aufgrund des Willens der Eltern und unabhängig von ihren schulischen Leistungen in Richtung Abitur geschickt werden können. Die geplante Reform sieht vor, dass diese Entscheidung künftig dem Lehrpersonal obliegt. Die Einschränkung des sogenannten Elternwahlrechts empört die Reformgegner besonders, sie sehen darin ein Einfallstor staatlicher Gängelei.
Die Wellen schlugen in Hamburg deshalb in den vergangenen Monaten hoch, dabei ist ein solcher Streit alles andere als neu. Debatten um das Schulsystem als, wie es der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler nennt, »institutionalisiertes Förderungssystem für den sozialen Aufstieg und die gerechtere Verteilung von Lebenschancen« ziehen sich wie ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen von Konservativen und ihren Gegnern. Stets geht es dabei um das richtige Verhältnis von Spezialisierung und Chancengleichheit – und natürlich um die Frage, welchen gesellschaftlichen Schichten der Zugang zum Studium ermöglicht werden soll.

Schon im Kaiserreich bildeten sich verschiedene Wege zur Hochschulreife heraus. Während das Realgymnasium und die Oberrealschule den steigenden Bedarf an Naturwissenschaftlern decken sollten, blieb das Gymnasium der Altphilologie verpflichtet. Diese sollte vor allem die Ministerialbürokratie mit Nachwuchs versorgen und so die erwünschte Selbstrekrutierung der gesellschaftlichen Eliten gewährleisten. Doch hielt das Ideal schon damals der Realität nicht stand. Wie Sozialhistoriker notierten, führte die rechtliche Angleichung der verschiedenen weiterführenden Schulen zu einem starken Zulauf bei den »modernen« Oberschulen, was vor allem den technischen Universitäten und damit der Wirtschaft zugute kam. Die säuberliche Selektion von Lernenden war zwar schon immer ein Wunsch der Eliten zur Wahrung von Privilegien, scheiterte aber an der gesellschaftlichen Dynamik.
Neu ist in Hamburg, dass mit der CDU nun eine konservative Partei selbst als reformwillig auftritt. Gegen die geplante Schulreform des schwarz-grünen Senats hat sich daher eine äußerst aktive außerparlamentarische Opposition formiert. Der Volksentscheid am 18. Juli gegen die Einführung der sechsjährigen Primarschule, die nichts anderes ist als eine Angleichung an den europäischen Standard, geht auf die Bürgerinitiative »Wir wollen lernen« zurück, die sich die Verhinderung der Reform zur Aufgabe gemacht hat. Sowohl die schwarz-grüne Koalition, der Hamburger Senat als auch die Parlamentsopposition aus SPD und Linkspartei unterstützen die geplante Reform. Allein die FDP stellt sich gegen das Vorhaben, doch die Liberalen fristen in Hamburg seit 1978 fast ununterbrochen das Schattendasein einer radikalen Minderheit und sind auch in der aktuellen Bürgerschaft nicht vertreten. Trotz dieses ungewöhnlichen Frontverlaufs gilt das Ergebnis der Abstimmung keineswegs als sicher. Der Bürgerinitiative ist es gelungen, sich zur Stimme der Hamburger Mittelschicht zu machen, das Senatsvorhaben hat somit mächtige Gegner.
Walter Scheurl, der Kopf der finanzstarken und medienwirksamen Bürgerinitiative, ist Partner in der renommierten Kanzlei »Graf von Westphalen«. Er repräsentiert das gut situierte Milieu der Hamburger Elbvororte. Die GEW hielt ihm die Nähe zur Hamburger Sektion des Tönissteiner Kreises vor, einem äußerst arbeitgeberfreundlichen »Gesprächskreis« aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Tatsächlich ist man hervorragend vernetzt. Scheuerl und seine Mitstreiter erfreuen sich beim traditionell konservativen Hamburger Abendblatt großer Beliebtheit. In diesen Kreisen ist man auch durchaus in der Lage, glaubwürdig damit zu drohen, die eigenen Kinder zur Ausbildung zukünftig auf Privatschulen zu schicken. Bislang stand auch der Hamburger Bürgermeister Ole von Beust niemals im Verdacht, in Hamburg politisch gegen die Interessen der Handelskammer zu handeln. Doch droht er sich jetzt, wegen seiner ausgewiesenen kulturellen Liberalität, an der Schulreform zu überheben.

Denn der Volksentscheid birgt das Potential, die politische Landschaft in Hamburg nachhaltig zu erschüttern. Schon das Timing ist ungünstig: Seit dem Debakel um die Wahl des Bundespräsidenten weht dem Merkel-Flügel in der CDU der Wind ins Gesicht. Ein Scheitern könnte zum Sturz Ole von Beusts führen, der ein für einen Christdemokraten ungewöhnliches Profil aufweist. Da er immerhin die erste schwarz-grüne Koalition führt, könnte deren Scheitern große Auswirkungen auf bundespolitischer Ebene haben.
Der Erfolg der Schulreform ist aber auch für die Hamburger Grünen eine Frage des politischen Überlebens. Sie ist im Koalitionsvertrag vereinbart und dient als Beweis, dass die Regierungsbeteiligung sich nicht in der Demütigungen des kleineren Koalitionspartners erschöpft. Wohl deshalb hat die Hamburger CDU das Bildungsressort den Grünen nahezu kampflos zur Selbstverwirklichung überlassen, als Gegenleistung gaben diese dafür ihren Widerstand gegen das Kohlekraftwerk Moorburg und die ökologisch schädliche Ausbaggerung der Elbe auf. Allerdings ist von den mit der Schulreform verbundenen Deklassierungsängsten der Mittelschicht auch das grüne Kernmilieu betroffen. So könnte diese Frage zu einer ernsthaften Belastung der sonst recht konstanten grünen Popularität werden.
Schon seit längerem halten sich im Stadtstaat Gerüchte über eine Amtsmüdigkeit Ole von Beusts. Sein Lebensziel, sich in der Geschichte der Stadt unsterblich zu machen, hat der Freiherr, der als Machiavellist mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill an die Macht gelangte und schließlich zu den Grünen als Koalitionspartner wechselte, längst erreicht. Das Entwicklungsprojekt der »wachsenden Stadt« soll aus der Großstadt Hamburg eine international bedeutende »Metropolregion« machen. Die damit verbundenen Bauvorhaben sind nicht einfach nur ehrgeizig, sie haben gigantomanische Dimensionen. Die als »Sprung über die Elbe« gefeierte »Hafencity« mit der Elbphilharmonie als Krönung soll für Hamburg werden, was La Défense und das Centre Pompidou für Paris sind: avantgardistisches Geschäftsviertel und Kulturzentrum auf Weltniveau. Allerdings droht das Unterfangen mittlerweile zu Beusts Sargnagel zu werden, vor allem die exorbitante Kostensteigerung der Elbphilharmonie verwandelte das Prestigeprojekt in einen endlosen Bau­skandal. Ein weiterer Dauerskandal betraf Gewinn­einbrüche und undurchsichtige Geldgeschäfte der HSH-Nordbank, die 2003 aus der Fusion der Hamburger und Schleswig-Holsteinischen Landesbanken entstanden war.
Im Frühjahr dieses Jahres trat schließlich der Hamburger Finanzsenator und CDU-Landeschef Michael Freytag zurück, damit verlor Beust seinen designierten Kronprinzen. Ende Mai musste der Bürgermeister eine Rekordverschuldung des Stadtstaats einräumen und kündigte schmerzhafte Sparmaßnahmen an. Ein Scheitern der Schulreform schlüge zusätzlich negativ zu Buche, da die notwendigen Umbauarbeiten an den Schulen bereits begonnen haben.

Angesichts dieser Bilanz wäre die viel beschworene Amtsmüdigkeit also kein Wunder. Spätestens bei der Frage einer erneuten Kandidatur 2012 könnte Beust abwinken. Spannend bleibt aber, ob Innensenator Christoph Ahlhaus die reguläre Erbfolge anstrebt oder als Königsmörder intrigiert. Denn im Fall des Scheiterns der Schulreform dürften sich jene Teile der Hamburger CDU ermutigt fühlen, denen der liberale Kurs ohnehin zuwider war. Zusammen mit der derzeitigen Schwäche der Reform-CDU auf Bundesebene böten sich hier Möglichkeiten, unter Merkel verlorenes Terrain auf dem rechten Flügel wieder gutzumachen. Von Walter Scheuerl wird man dabei sicher auch noch hören.