Die Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze

Nie wieder Aldi

Die Bundesregierung muss bis zum Ende des Jahres die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnen, das hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe festgelegt. Derzeit wird darüber debattiert, wie die Neuregelung aussehen könnte.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat nur noch bis Ende des Jahres Zeit, eine Neuregelung der Leistungsansprüche für 6,8 Millionen Langzeitarbeitslose und Sozialgeldempfänger auf den Weg zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte im Februar die Bundesregierung dazu verpflichtet, die Leistungen für die Bezieher von ALG II und Sozialgeld neu zu definieren. Mittlerweile ist die Debatte um die Neuberechnung der Regelsätze in vollem Gange. Insbesondere der notwendige Bedarf der 1,7 Millionen Kinder, die von Transferleistungen leben, muss neu ermittelt und festgelegt werden.
In seinem bemerkenswerten Urteil hat das BVerfG ein Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums proklamiert. Dieses soziale Grundrecht umfasst die Sicherung der physischen Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Es wird aus Artikel 1 – »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – in Verbindung mit Artikel 20 des Grundgesetzes (Sozialstaatsgebot) abgeleitet. Die Achtung der Würde jedes Einzelnen »ist unverfügbar« und »muss eingelöst werden«, so das BVerfG.

Die Leistungen des Staates haben sich am jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft und den aktuellen Lebensbedingungen auszurichten. Ihre genaue Höhe wird vom BVerfG nicht definiert. Es müssen jedoch alle existenznotwendigen Aufwendungen, orientiert am tatsächlichen Bedarf, in einem transparenten Verfahren einbezogen werden. Gefordert werden ferner verlässliche Zahlen und ein schlüssiges Berechnungsverfahren.
Die derzeitige Regelleistung für alleinstehende Erwachsene von 359 Euro wurde nicht in verfassungsgemäßer Weise ermittelt, wie die Karlsruher Richter feststellten. Grundsätzlich orientieren sich die Regelsätze am sogenannten Statistikmodell. Danach werden die 20 Prozent der Einpersonenhaushalte mit dem niedrigsten Nettoeinkommen als Referenzgruppe für die Ermittlung der Regelleistung ausgewählt. Dies wird vom BVerfG auch nicht beanstandet. Allerdings wurden bei der Festlegung der Hartz-IV-Sätze willkürliche Abschläge bei wichtigen Ausgaben vorgenommen. So wurden die Stromkosten pauschal um 15 Prozent gekürzt. Andere Ausgaben, wie die Aufwendungen für Bildung, blieben völlig unberücksichtigt. Auch die Hochrechnung der Beträge anhand der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts wird als verfassungswidrig eingestuft, da sie keinen Bezug zum Existenzminimum aufweist.

Die Kritik des BVerfG betrifft in besonderem Maße das Sozialgeld für Kinder bis zum 14. Lebensjahr. Eine einfache prozentuale Ableitung von dem Regelsatz für Erwachsene genüge »nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben«. Der Abschlag von 40 Prozent gegenüber der Regelleistung für einen alleinstehenden Erwachsenen beruhe »auf einer freihändigen Setzung ohne empirische und methodische Fundierung«. Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner und andere Unterrichtsutensilien blieben völlig unberücksichtigt. »Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes … unterlassen«, so das Fazit des Gerichts.
Das Urteil des BVerfG ist eine nachträgliche Niederlage für die Planer der Agenda 2010. In einem Kernbereich der Hartz-Reformen, bei der Neudefinition des Existenzminimums in Form der gemeinsamen Regelsätze von ALG II und Sozialgeld, wurde auf der Basis von »Schätzungen ins Blaue hinein« willkürlich gegen den Anspruch auf eine menschenwürdige Existenz verstoßen. Die Debatte um ein menschenwürdiges materielles Existenzminimum ist damit eröffnet.
Auch wenn die Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamts einen Hartz-IV-Satz von monatlich 400 Euro nahe legen, folgt daraus kein Automatismus in Richtung steigender Regelsätze. Meldungen über eine anstehende Erhöhung der Sätze wurden umgehend vom Arbeitsministerium dementiert. Auch für Kinder ist anscheinend keine Aufstockung geplant. Stattdessen sollen Teilhabe- und Bildungsgutscheine ausgegeben werden, die für Sprachförderung oder Nachhilfeunterricht eingelöst werden können. Das Mittagessen in Schulen und Kindertagestätten soll in Zukunft direkt vom Amt bezahlt werden. Die im Rahmen des Sparpakets der Bundesregierung geplante Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger wird die Armut von Kindern im Sozialgeldbezug weiter verschärfen.
Politiker der Regierungsparteien warnen angesichts der Haushalts- und Finanzkrise ebenfalls vor steigenden Regelsätzen. Für den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, Michael Fuchs, darf »die Konsolidierung des Staatshaushaltes nicht durch Hartz IV gefährdet werden«. Der CSU-Sozialpolitiker Max Straubinger warnt vor Gefahren für den expandierenden Niedriglohnsektor: »Man muss das Lohnabstandsgebot beachten, gerade jetzt, wo der Arbeitsmarkt beginnt, Arbeitslose aufzunehmen.« Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion, Heinrich Kolb, droht Arbeitsministerin von der Leyen mit Kürzungen beim Ministeriumsetat: »Sollte die Neugestaltung der Hartz-IV-Sätze zu Mehraus­gaben führen, muss das Ministerium Vorschläge für Einsparungen an anderer Stelle machen.«

Ohne erheblichen politischen Druck aus Parteien, Gewerkschaften, Sozialverbänden und Arbeitsloseninitiativen dürfte es kaum zu tatsächlichen Verbesserungen für die Betroffenen kommen. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, fordert eine Erhöhung des Regelsatzes für Alleinstehende auf 420 Euro. Er ist optimistisch. »Wir sind ganz sicher, dass die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Neubestimmung der Hartz-IV-Sätze sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zu einer deutlichen Erhöhung der Leistungen führen wird.« Auch für die SPD-Politikerin Elke Ferner müssen sich die Hartz-IV-Sätze stärker am tatsächlichen Bedarf orientieren. »Der einzige Weg, Hartz-IV verfassungskonform zu reformieren, ist, die Sätze in Zukunft wie die Lebenshaltungskosten unterer Einkommensbezieher steigen zu lassen.« Von der Verantwortung ihrer Partei für die Agendapolitik, für die Hartz-Reformen und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten redet sie allerdings nicht.
Unter den Betroffenen regt sich indessen langsam Protest. Ein Bündnis verschiedener Erwerbsloseninitiativen ruft für den 10. Oktober zu einer bundesweiten Demonstration in Oldenburg auf. Sie wollen lieber »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« und fordern »Mindestens 80 Euro mehr für Lebensmittel sofort«. Zu Recht beschweren sie sich darüber, gezwungen zu werden, bei Aldi oder Lidl einzukaufen, und als Rechtfertigung für den Preiskrieg der Discounter herzuhalten. Für Erwachsene sind im Regelsatz nur 3,94 Euro pro Tag für Ernährung enthalten, für ein Kind bis 14 Jahre sind es gerade mal 2,76 Euro. Davon ist eine gesunde und qualitativ hochwertige Ernährung nicht zu finanzieren. In einem reichen Land wie der Bundesrepublik ist das ein gesellschaftlicher Skandal.
Vielleicht verbinden sich die geplanten Erwerbslosenproteste ja auch mit Initiativen zur Verbesserung der Lage von Flüchtlingen und Asylbewerbern. Immerhin hat das Landessozialgericht NRW Ende Juli das Asylbewerberleistungsgesetz unter Verweis auf das aktuelle Urteil der BVerfG als verfassungswidrig qualifiziert und zur Überprüfung nach Karlsruhe verwiesen. Die Grundleistungen für Asylbewerber liegen um 30 Prozent unter den Regelsätzen für ALG II- und Sozialgeld­empfänger und wurden seit 1993 nicht mehr angepasst. Hier wird bewusst die Menschenwürde verletzt und gegen das Sozialstaatsgebot verstoßen.
Man darf gespannt sein, ob das höchste Gericht der Republik auch Flüchtlingen und Asylbewerbern ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zugesteht.