Der Abzug der US-Truppen aus dem Irak und die Rolle des Iran

Der König kommt in der Dämmerung

Die US-Regierung hat nicht nur die Kampftruppen aus dem Irak abgezogen, sondern auch die streitenden Parteien sich selbst überlassen. Das iranische Regime versucht, diese Lücke zu füllen.

Kampftruppen werden zu »Ausbildern«, aus der irakischen Freiheit wird eine »Morgendämmerung«. Planmäßig beendet US-Präsident Barack Obama den Kampfeinsatz im Irak und bemüht sich auch sprachlich um größtmögliche Distanz zur ungeliebten Irak-Politik seines Vorgängers. 50 000 Soldaten bleiben im Irak, doch werden sie offiziell nun nicht mehr zu Brigade Combat Teams, sondern zu Advisory and Assistance Brigades zusammengefasst. Im Rahmen einer neuen Marketingstrategie heißt der Einsatz im Irak nicht mehr Operation Iraqi Freedom, sondern Operation New Dawn, ein Name, der an die Aufbruchsrhetorik von Obamas Amtsantritt vor anderthalb Jahren erinnern soll und zugleich das Ende der Befreiungspolitik bedeutet, die der Regierung George W. Bushs als Legitimation des Irak-Kriegs diente.
Wer unter den irakischen Parteien und Milizen von der »Morgendämmerung« am meisten profitieren wird, ist noch lange nicht ausgemacht. In den vergangenen anderthalb Jahren zeichnete sich die amerikanische Strategie vorwiegend dadurch aus, keine dezidierte Irak-Politik jenseits des Ziels eines raschen Truppenabzugs zu betreiben. Der quantitative Abzug der US-Streitkräfte wurde begleitet von einem qualitativen Rückzug aus der irakischen Politik.
Einer der ersten Schritte war es, jene militärische Einsatzführung abzulösen, deren als surge bekanntgewordener Strategiewechsel seit 2007 die Kontrolle über das Land zurückzugewinnen half. Das im Irak so erfolgreiche Konzept sollte auf Afghanistan übertragen werden. Im Anschluss daran wurde die Kontrolle über die wesentlichen Instrumente der amerikanischen Sicherheitsstrategie an die irakische Regierung übergeben, wie beispielsweise die Verantwortung für die unter dem Namen »Söhne Iraks« in den Sicherheitsapparat integrierten sunnitischen Milizen.
Schließlich wurde auch die politische Begleitung des Übergangs mehr oder weniger eingestellt. Ob Kurden und Araber, Sunniten und Schiiten sich über ihre politischen Interessen einigen oder nicht, ist von keinerlei Bedeutung mehr für die strategische Planung des US-Außenministeriums, wo man ohnehin glaubt, der Schlüssel zum Frieden im Nahen Osten liege in der Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern.
Entsprechend gelassen reagiert die US-Regierung auf die Tatsache, dass die irakische Regierung in letzter Zeit kaum einer ihrer Verpflichtungen nachgekommen ist. Die »Söhne Iraks« wurden nicht in den normalen Polizeiapparat übernommen, und das Reservoir an unzufriedenen Waffenträgern steigt wieder an. Weder ist die Zukunft der Stadt Kirkuk geklärt noch die Sicherheit in der seit 2003 umstrittenen Stadt Mosul wiederhergestellt. Dort hatte die US-Armee im Juni zwar den selbsternannten Emir des »Islamischen Staats Irak« gefasst und den lokalen al-Qaida-Führer getötet. Die Zahl der Anschläge und Morde ging dennoch nicht zurück.

Bereits bevor der Abzug der letzten auch so genannten Kampfeinheit verkündet wurde, war die Zahl der durch Anschläge getöteten Zivilisten erstmals wieder deutlich gestiegen. Dies ist einerseits einem Strategiewechsel der verbliebenen al-Qaida-Zellen geschuldet, die sich auf größere, öffentlichkeitswirksame Attentate konzentrieren. Weniger Anschläge fordern daher immer mehr Opfer.
Andererseits haben die schiitischen Milizen und andere Freischärler das Prinzip al-Qaida längst für sich entdeckt und sind, was Mord und Terror anbetrifft, deutlich effektiver geworden, als sie es in den wilden Jahren nach 2003 waren. Aus diesen Milizen rekrutierte, vom Iran ausgerüstete sogenannte Special Groups sind mittlerweile für einen Großteil der Anschläge und politischen Morde im Lande verantwortlich und verkaufen den Abzug der Amerikaner als ihren ureigenen Sieg. Wurden im Januar dieses Jahres im Tagesdurchschnitt etwa sechs Menschen bei bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschlägen getötet, so waren es im Juli bereits wieder 15. Damit ist die Zahl der Opfer im Irak wieder höher als in Afghanistan.
Gelernt hat die neue US-Regierung von ihren glücklosen Vorgängern allerdings, dass die einzig gute Nachricht aus dem Irak die ist, dass es nichts zu melden gibt. Entsprechend eilig hat es Obama, sich aus der Verantwortung für das Land zu verabschieden. Mit nobler Geste will er den Irak in einen neuen Morgen entlassen und symbolisch die Verantwortung für die kommenden Probleme an die irakische Regierung übertragen, nur findet sich in Bagdad derzeit niemand, dem er die Schlüssel weiterreichen könnte.
Auch ein halbes Jahr nach den irakischen Parlamentswahlen, bei der die Liste Iyad Allawis, des ehemaligen Premierministers der Interimsregierung, so knapp gewonnen hatte, dass sie alleine keine Regierung bilden konnte, hat sich noch immer keine Koalitionsregierung gebildet. Der Wahlsieger Allawi, der über die Unterstützung der sunnitischen Fraktionen verfügt, und der abgewählte schiitische Premierminister Nouri al-Maliki blockieren sich erfolgreich gegenseitig.
Nutznießer dieser Situation ist ausgerechnet der Klerikal-Hooligan Muqtada al-Sadr, der zwar mit anderen schiitischen Parteien den Block der Irakischen Nationalen Allianz bildet, aber den aus der Da’wa-Partei stammenden Premierminister Nouri al-Maliki strikt ablehnt. Ein gewisses Gespür für den richtigen politischen Moment kann man Sadr nicht absprechen. Nur eine Woche nach der amerikanischen Abzugserklärung traf er ausgerechnet in der syrischen Hauptstadt Damaskus mit seinem einstigen Feind Iyad Allawi zusammen, um über eine mögliche Koalition zu beraten. Das US-Magazin Foreign Policy bezeichnete den Milizenführer aus den schiitischen Vororten Bagdads daraufhin bereits als den neuen »König des Irak«. Daran stimmt zumindest, dass künftig jede Regierung auf die Duldung Muqtada al-Sadrs angewiesen sein wird.
Nachdem die US-Regierung zunächst den säkularen Schiiten Allawi unterstützt hatte, dessen Liste überwiegend sunnitische Politiker angehören, erklärte sie zuletzt eine Regierung unter dessen Konkurrenten Maliki zum Favoriten. Damit eine solche Koalition zustande kommt, müsste neben Sadr aber wenigstens noch die schiitische Partei Supreme Islamic Iraqi Council (SIIC) zustimmen, die einst – damals hieß sie noch Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq – von den USA gegen Saddam Hussein unterstützt wurde, aber auch gute Verbindungen zum iranischen Regime unterhält. Über den SIIC wurde indes bereits im Juni bekannt, dass er über die syrische Regierung Gespräche mit exilierten Ba’athis­ten aufgenommen hat, die sich nach einer Rückkehr in die irakische Politik sehnen. Unter ihnen sind ranghohe Beamte der Regierung Saddam Husseins, die nach 2003 den »irakischen Widerstand« unterstützten. Schlechter könnte das Ergebnis der Irak-Politik Obamas kaum sein.

Längst hat der Iran die USA als wichtigste ausländische Macht im Irak abgelöst. Das iranische Regime versucht, die Verhandlungen über eine Regierungsbildung im eigenen Interesse zu steuern. Bevor Allawi und Sadr nach Damaskus gingen, waren alle entscheidenden Gespräche zwischen den irakischen Parteien in Teheran oder Qom, dem Zentrum des iranischen Klerus, geführt worden.
Dabei zeigt sich allerdings einmal mehr die Konzeptlosigkeit, die in den vergangenen Jahren die gesamte Irak-Politik der iranischen Regierung geprägt hat. Seit 2003 fördert der Iran nicht nur die an den irakischen Regierungen beteiligten schiitischen und kurdischen Parteien. Das Regime ist auch maßgeblich für den Aufstieg Muqtada al-Sadrs und für die Militarisierung der schiitischen Milizen verantwortlich, hat den Bürgerkrieg angestachelt, Hizbollah-Kämpfer ins Land gebracht und zwischenzeitlich selbst jene sunnitischen Banden unterstützt, gegen die später schiitische Milizen kämpften. Während man also einerseits versuchte, eine stabile pro-iranische Regierung in Bagdad zu etablieren, förderte man zugleich den Terror der Milizen und unterminierte die Handlungsfähigkeit der Regierung.
Wie wenig diese Politik funktioniert, demons­triert immer wieder aufs Neue Muqtada al-Sadr, der prominenteste irakische Politiker, der materielle Unterstützung aus dem Iran erhielt. Die Bewegung al-Sadrs, die gegen den als Konkurrenz gefürchteten irakisch-schiitischen Klerus aufgebaut wurde, lebte von Beginn an von der ständigen Mobilisierung der Straße. Inhaltlich war praktisch alles möglich, was nur ausreichend schiitisch, antiamerikanisch und gegen das Establishment gerichtet war. Nicht nur im täglichen Terror gegen die Zivilbevölkerung, sondern auch in ihren Organisationsformen wurden Teile der Sadr-Bewegung al-Qaida immer ähnlicher. Sie entzogen sich sukzessive der Steuerung durch den Iran.

Bewaffnete Horden wie die Mahdi-Armee Muqtada al-Sadrs eignen sich hervorragend dazu, Tugendterror auszuüben, Menschen einzuschüchtern und den Aufbau einer funktionsfähigen zivilen Verwaltung und Regierung zu verhindern. Ein Staat aber ist mit ihnen nicht zu machen, und sie lassen sich nicht wirkungsvoll kontrollieren. Sadr selbst ist zu erfolgreich als schiitischer Milizenführer, um sich vom Iran als subalterner Befehlsempfänger behandeln zu lassen.
So finden sich am Ende der Iran und die USA als Partner in der Misere wieder. Mit einem Unterschied: Während der Iran nicht besser kann, mangelt es den USA derzeit vor allem am Willen, etwas zu tun. Glaubt man den jüngsten Umfragen, so wünscht sich eine Mehrheit der Iraker auch im sunnitischen Zentrum des Landes mittlerweile, dass die Amerikaner bleiben. Auf eine Regierung werden die Iraker möglicherweise noch länger warten müssen. Das wiederum könnte sich als die gute Seite der jüngsten Entwicklung erweisen. Nach sechs Monaten ergebnisloser Koalitionsverhandlungen haben die Iraker gelernt, dass es auch ohne Regierung geht.