Über die Chancen für eine radikale Linke in Europa

Proletarier Europas, vereinigt euch!

Die Entstehung größerer Wirtschaftsräume ist wenigstens in einer Hinsicht erfreulich: Sie könnte ermöglichen, dass sich die Arbeiterklasse endlich als internationale Klasse versteht.

In der Debatte, die gegenwärtig in der Jungle World über die Linke und ihre Stellung zur Europäischen Union geführt wird, scheint es, als sei fast alles gesagt worden. Dass dies in wenigen Artikeln geschehen konnte, macht in bedrückender Weise deutlich, dass die EU vor allem als ein an Langweiligkeit kaum zu überbietendes Gebilde erscheint, ist sie doch kaum zu den einst von Winston Churchill anvisierten »Vereinigten Staaten von Europa« geworden. Auch wenn es mittlerweile eine EU-Außenbeauftragte gibt und das EU-Recht formal den nationalen Gesetzen übergeordnet ist, haben die europäischen Institutionen weder außenpolitisch noch in den zen­tralen fiskalischen oder juristischen Bereichen viel zu sagen. Die EU ist, was sie seit den Beschlüssen von Maastricht war: ein Binnenmarkt mit gemeinsamer Währung. Nicht viel mehr.
Eine Analyse dieses Wirtschaftsraums fördert dabei wenig zu Tage, was linke Hoffnungen nähren könnte. Alban Werner hat in seinem Beitrag (Jungle World 34/2010) wie schon vor ihm André Brie (31/2010) völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass der europäische Binnenmarkt »standort­gebundene Exportstrategien belohnt«, dass die Konkurrenz der Standorte somit nicht nur nicht aufgehoben, sondern durch die Verhinderung protektionistischer Barrieren weiter forciert wurde. Infolge dessen ist nicht nur die Lohnquote im Euro-Raum innerhalb von 20 Jahren um immerhin zehn Prozent gesunken, auch die sozialen Sicherungssysteme wurden in vielen europäischen Staaten gestutzt.
Gewinner des Wettbewerbs, wer die Kosten der zu verwertenden Arbeit am stärksten zu drücken vermag, ist vorläufig der Standort Deutschland. Mehr als die Hälfte der innereuropäischen Exporte stammen von hier. Der Euro beschert dem hiesigen Kapital eine strukturell unterbewertete Währung, um die derzeitig selbst China Deutschland beneidet (Jungle World 27/2010). Anton Landgraf (33/2010) und Rainer Trampert (30/2010) haben auf die ökonomische Dominanz Deutschlands innerhalb des Euro-Raums bereits hingewiesen. Dass dies mittelfristig auch zu einer politischen Hegemonie der Bundesrepublik in Europa führen könnte, was von Margaret Thatcher bereits 1990 unter dem Schlagwort »Greater Germany« beschworen wurde und was Merkel in den vergangenen Monaten mehrfach leise eingeforderte, ist mehr als wahrscheinlich. Auch außerhalb Deutschlands erhalten solche Forderungen Unterstützung. In der aktuellen Ausgabe der Zeit behauptet beispielsweise der ehemalige italienische Präsidentenberater und vorherige Botschafter in Deutschland, Antonio Puri Purini, lediglich die Bundesregierung sei dazu in der Lage, »Stabilität und Anstand« in Europa zu verankern. Vergegenwärtigt man sich, dass die Vorgänger der EU, die EGKS und die aus ihr hervorgegangene EG, insbesondere zur Eindämmung des deutschen Expansionsstrebens gegründet wurden, ist dies eine trübe Aussicht. Auf jeden Fall ist die EU keine »List der Geschichte« zur Erledigung Deutschlands, wie es Andreas Müller jüngst (32/2010) prognostiziert hat.

Sich vor diesem Hintergrund positiv auf die europäische Integration zu beziehen, erscheint fast absurd. Immerhin ist die derzeitige Verfassung der europäischen Integration nicht nur für Linke eine Enttäuschung. Auch jene, die sich vom europäischen Projekt einen eigenständigen europäischen Imperialismus erhoffen, sind frustriert. Im Frühjahr äußerte der ehemalige außenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Friedbert Pflüger, in Internationale Politik seine Unzufriedenheit. Es reiche nicht, so Pflüger, »in Lateinamerika oder Afrika Gender-Projekte (…) oder Seminare zur kommunalen Selbstverwaltung zu finanzieren«. Vielmehr müsse die EU lernen, »ihre Interessen auf den Schauplätzen der Welt zu definieren und durchzusetzen«. Trotz der Bildung gemeinsamer Institutionen innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (EVSP) und einer schnellen Eingreiftruppe der EU von 60 000 Soldaten sowie des Anspruchs, sich durch einen »liberalen und kosmopolitischen Imperialismus« von den USA abzugrenzen, ist die EU von einer koordinierten Außenpolitik mit imperialem Anspruch noch weit entfernt. Sie ist somit vorerst kaum mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum.
Dessen Bewertung fällt bei Linken meist negativ aus. Doch wird dabei meist vergessen zu fragen, ob die Standortkonkurrenz in erster Linie überhaupt Folge des europäischen Binnenmarktes ist. Zweifellos haben der »Lissabon-Prozess«, die weitgehend monetaristische Ausrichtung der Währungspolitik und das Demokratiedefizit der entscheidenden europäischen Institutionen, das es unmöglich macht, auf die EU Druck von unten auszuüben, »unweigerlich in einen Kapitalkostenwettbewerb gegeneinander« (André Brie) geführt. Es ist aber daran zu erinnern, dass die politische Durchsetzung verbesserter Verwertungsbedingungen für die Kapitalakkumulation weniger den Vorgaben der Institutionenlehre folgt als vielmehr der Konkurrenz der nationalen Kapitale untereinander und dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Während die Konkurrenz zwischen den Standorten seit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems Mitte der siebziger Jahre größer wurde, sind die reformistischen Blockaden der an den Staat gebundenen alten Arbeiterbewegung – zumeist mit deren aktiver Teilnahme – nach und nach in den Nationalstaaten geschleift worden. Es spricht nichts dafür, dass dieser Prozess sich nicht auch ohne die Konferenzen von Maastricht vollzogen hätte. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) war nicht der Ausgangspunkt, sondern nur ein Faktor unter vielen für die Zurückdrängung der letzten Reste der reformistischen »politischen Ökonomie der Arbeiter« (Paul Mattick).

Man sollte realistisch sein: Es steht nicht zu erwarten, dass dieser Enteignungsprozess in Europa und anderswo kurz- oder mittelfristig gestoppt werden könnte. Auch sozialrevolutionäre Kämpfe sind nicht in Sicht und Trotzkis Ruf nach den »Vereinigten Staaten von Europa« unter einer »Arbeiter- und Bauernregierung« als Übergangsprogramm zum Sozialismus ruft heute bestenfalls Schulterzucken hervor. Es könnte Linken daher ziemlich egal sein, ob sich die immer rabiatere Zurichtung der Gesellschaft auf die Gesetze der Akkumulation mit einer europäischen Verfassung oder ohne sie, mit der oder ohne die Erweiterung des Euro-Raums vollzieht. Längerfristig aber, darauf hat auch Eric Hobsbawm in »Das Zeitalter der Extreme« hingewiesen, verbessern sich die Kampfbedingungen in größeren wirtschaftlichen und staatlichen Verbänden. Nicht nur wird auf diese Weise die direkte Einflussnahme bestimmter Kapitalfraktionen auf den Staat und die nationale Konkurrenz verringert, sondern vor allem könnten Formierungsprozesse sozialer Bewegungen über Nationen, Wirtschaftssektoren oder andere Grenzen hinweg leichter und effektiver erfolgen.

Wer die Selbstaufhebung des Proletariats noch nicht ad acta gelegt hat, findet dazu einen Hinweis im Kommunistischen Manifest. Hier wird nicht auf ein obskures Selbstbestimmungsrecht der Nationen verwiesen, das während der Referenden zur EU-Verfassung viele marxistische Parteien in Frankreich und den Niederlanden an die Seite der »Vaterlandsverteidiger« geführt hat, die die an sich berechtigte Kritik am EU-Verfassungsentwurf unter dem nationalistischen Getöse kaum mehr vernehmen ließen.
Für Marx und Engels ist vielmehr die Aufhebung der »nationalen Einseitigkeit und Beschränktheit« unbedingte Voraussetzung jeglicher Emanzipation. Auch ohne die Teleologie des Manifests bleibt die Erkenntnis, dass die Herstellung des Weltmarktes und einer internationalen Klasse der Lohnarbeiter die Grundlage ihrer eventuellen Vereinigung darstellt. Die EU könnte – List der Geschichte – ein Schritt in diese Richtung sein.
Auch wenn die Vereinigung der Proletarier aller Länder noch an den abgesicherten Grenzen der EU enden würde und innerhalb dieses Raums derzeit zugunsten der Identifikation mit den jeweiligen Standorten aufgegeben wird, so sollte das Potential gegenseitigen Kennenlernens und Kommunizierens als Ansatzpunkt der Konstitution einer wirklich internationalen Bewegung der Lohnabhängigen nicht zugunsten eines kleinlichen Nationalreformismus aufgegeben werden. Mit der Organisation dieser Kommunikation und ihrer theoretischen Reflexion könnte die radikale Linke jenseits der »offiziellen Politik« ihren Beitrag dazu leisten.