Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos, ein Jahr nach der Schließung des Internierungslagers Pagani

Gestrandet auf Lesbos

Vor einem Jahr wurde das Internierungslager Pagani auf der griechischen Insel Lesbos nach einer Revolte der Insassen geschlossen. Internationale Medien kritisierten damals die repressive Asylpolitik Griechenlands. Die Situation hat sich dort nicht verbessert. Der Staat ist pleite, und die Zustände in den Internierungslagern für Flüchtlinge sind weiterhin katastrophal.

Arif Meidan hat Geschenke in der Hand. Einen Teller mit Feigen, vom Baum im Garten. Sie sind noch grün, man kann sie aber schon essen. Und eine Tüte mit einem großen pinken Karton, in den ein Spielzeugauto eingepackt ist. Nun steht Arif im Flur der Villa Azadi, in Turnschuhen, einem weißen T-Shirt und einer cremefarbenen Hose, die knapp über das Knie reicht, und will los. Er möchte sich bei jemandem bedanken, dafür sind die Geschenke gedacht.
Die Villa Azadi ist eine ehemalige psychiatrische Anstalt, und so sieht sie auch aus. Sie steht mitten auf einem hohen Gebirgskamm auf der griechischen Insel Lesbos und ist heute eines der wenigen Heime, in denen der griechische Staat minderjährige unbegleitete Flüchtlinge unterbringt, die zu Tausenden über seine Grenzen kommen, um in Europa ein neues Leben anzufangen.
Arif und seine Frau Jeelah sind nicht minderjährig. Sie sind 27 und 22 Jahre alt, und dass sie in der Villa Azadi wohnen, ist eine Ausnahme. Wer vom Eingang der einstigen Klinik über die Obstbäume im Garten und den Pinienwald hinunter in das Tal blickt, kann das Meer erahnen, das nur zehn Kilometer entfernt ist. Noch einmal so weit entfernt liegt schon die türkische Küste. Nirgendwo sonst ist das Schengen-Gebiet so leicht mit einem Boot zu erreichen. Und trotzdem bezahlen jedes Jahr Hunderte den Versuch, die Meerenge ohne Papiere zu überqueren, mit dem Leben. Um ein Haar wäre dies auch Arif, Jeelah und ihrer 18 Monate alten Tochter Marilah passiert. Ihren Schiffbruch überlebten Mutter und Tochter nur, weil ein griechischer Fischer ins Wasser sprang und sie rettete.

Es ist Anfang September, fast elf Monate später, und heute sind sie mit dem Fischer verabredet, die Geschenke sind für ihn und seine Tochter. Doch der Aufbruch verzögert sich. Das Heim ist kein Gefängnis, es ist offen, und in Griechenland ist das schon eine ganze Menge wert, denn normalerweise werden Papierlose hier erst einmal in völlig überfüllte, geschlossene Auffanglager gesperrt. Die »Administrativhaft«, wie der Staat sie nennt, ist offiziell dazu gedacht, Migrantinnen und Migranten zu registrieren. In Wahrheit ist sie eine Schikane, die ersonnen wurde, um Griechenland für Flüchtlinge möglichst unattraktiv zu machen.
Die Villa Azadi ist also offen, wenn da nicht der Wärter wäre, dem es nicht passt, dass die Familie abgeholt wird. Er kommt aus seiner Loge gelaufen. Was, wenn etwas passiert? Es ist Sonntag, seine Vorgesetzten sind nicht da, die Flüchtlinge einfach gehen zu lassen, kommt für ihn nicht in Frage. Er ruft den Heimarzt an, für ihn scheint es eine Art Notfall zu sein.
Arif stellt die Geschenke ab, seine Frau geht mit dem Baby zurück ins Haus. Einfach zu gehen, das trauen sie sich nicht. Der Platz in der Villa Azadi ist für Leute wie sie sehr viel wert. Sie haben ein Zimmer, es gibt Essen, aber »das ist schlecht und der Koch schreit uns an«, erzählt Arif. Doch ohne Papiere und ohne Geld können sie Griechenland nicht verlassen. Tausende Flüchtlinge wie sie leben in Athen, Patras oder Thessaloniki auf der Straße, vom Staat sich selbst überlassen, von der Polizei schikaniert, immer auf der meist erfolglosen Suche nach Gelegenheitsjobs. Sich gegen die Autorität des Hausmeisters aufzulehnen, hieße, den Platz in dem Wohnheim womöglich zu gefährden.
Nach einigen Minuten gibt der Wärter auf. Er hat niemanden erreicht. »Ich kann jetzt nichts dagegen tun, aber ich übernehme überhaupt keine Verantwortung«, sagt der Mann, den auch niemand darum gebeten hatte. Die Meidans betrachten den Satz als Erlaubnis. Sie nehmen das Baby, die Feigen und das Spielzeugauto und steigen in den Wagen, mit dem sie abgeholt werden.

Sie sind Hazara, persischsprachige schiitische Muslime. Ihre Minderheit stellt in Afghanistan zehn Prozent der Bevölkerung. Einst wurden sie von den Paschtunen versklavt, später gab es Kämpfe zwischen ihnen und den sunnitischen Taliban, mit vielen Toten auf beiden Seiten. Weit über 100 000 Hazara flüchteten seit den achtziger Jahren in den benachbarten Iran, doch auch dort war es nicht besser. »Es gibt da keinen Respekt vor uns«, sagt Arif, »es gab immer Probleme, man wusste am Morgen nie, was bis zum Abend passieren würde.« Er lebte in einer Hazara-Siedlung in Teheran, arbeitete dort als Automechaniker. »Jedes Mal, wenn in der Gegend etwas geklaut wurde, haben die Iraner gedacht, wir waren das. Sie kamen mit Messern und Stöcken, die Polizei hat uns immer wieder verhaftet.«
Als er 17 war, flüchtete er aus Kabul nach Teheran. Kurz darauf heiratete er Jeelah, die in Bandar Abbas lebte, im Süden des Iran. Die ersten Jahre lebte das Paar getrennt, Arif hatte noch nicht genug Geld. »Ich habe die Schule beendet«, sagt Jeelah, »aber auf die Universität durfte ich als Flüchtling im Iran nicht.« Auf dem Kopf trägt sie ein weißes Tuch, ihre Augen wirken dadurch besonders dunkel. Später, wenn am Abend alle zusammensitzen, werden die Meidans Bier trinken und gegrillte Schweinerippen essen. Arif war seit neun Jahren freitags nicht in der Moschee, während der Gebetszeit hat er heimlich in einer Autowerkstatt weiter gearbeitet. »Ich musste eben Geld sparen«, sagt er. In einem Gottesstaat wollten die Meidans nicht leben. 2008 entschieden sie sich, nach Europa zu gehen.
Sie fragten herum bei anderen Afghanen, die es vor ihnen versucht hatten. »Wenn ihr Asyl beantragt, lassen die euch rein, ihr könnt studieren. Dort ist es gut, da gibt es Menschenrechte«, hätten die gesagt und ihnen auch verraten, von wem man sich bei der Flucht helfen lassen könne. Im Sommer 2009 machten sie sich mit ihrem Baby auf dem Weg, nach Istanbul, in der Tasche die gesamten Ersparnisse der vergangenen Jahre, dazu geliehenes Geld. 6 000 Dollar sollte die Passage nach Griechenland kosten. Eigentlich wollten sie nach Nordeuropa, aber das war 4 000 Dollar teurer, und sie hatten nur noch 3 000. Also buchten sie erst einmal die Fahrt nach Griechenland.
Die Schlepper brachten sie nach Ayvalik, einen Ort an der türkischen Westküste. Von hier kann man Lesbos sehen, aber die Meidans hatten keine Ahnung, sie hatten keine Karte, und so warteten sie. »35 Leute, alles Afghanen, waren dort in unserer Wohnung«, erzählt Arif. »Nie hat uns jemand gesagt, wann oder wie es weitergeht.« Irgendwann kam die Polizei, jemand hatte ihr einen Tipp gegeben. Sie verhaftete die Afghanen. Zu jener Zeit konnte die Türkei noch niemanden nach Afghanistan abschieben, über 1 000 Papierlose verließen die Region jedoch jeden Monat in Richtung Lesbos – und waren somit kein Problem mehr für den türkischen Staat. Nach acht Tagen kamen die Meidans wieder frei, und auch die Schlepper waren noch da. Jetzt konnte es losgehen.
»Unsere Freunde holen euch ab, wenn ihr drüben seid«, hätten die Schlepper gesagt. Es war sechs Uhr morgens und noch dunkel, als sie mit 16 anderen Afghanen an dem steinigen Strand das Schlauchboot bestiegen, in dem ein Türke sie hinüberfuhr. Zu jener Zeit kreuzte die rumänische Küstenwache in dem Gebiet, im Rahmen der Poseidon-Mission der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Gemeinsam mit der griechischen Küstenwache machte sie Jagd auf Boote wie jenes, in dem die Meidans saßen. Die Straße von Gibraltar, die Route zu den Kanaren und die Passage von Libyen nach Italien, all diese Wege waren zuvor von der EU immer weiter abgeschottet worden. So wuchs die Zahl der Flüchtlinge, die versuchten, vom türkischen Festland aus auf die griechischen Inseln zu gelangen, immer weiter an. Nicht nur Afghanen, Pakistanis, Iraner und Iraker kamen nun, sondern auch Somalier, Eritreer, Menschen aus dem Tschad, gar aus Nigeria und Kamerun. 12 000 schafften es 2009 allein nach Lesbos.
Ihre Spuren liegen bis heute alle paar Meter an den Stränden der Insel: Schwimmwesten, zerfetzte Schlauchboote, Kleidung. Griechenland war die letzte offene Flanke der Festung Europa. Seit 2003 verpflichtete das Dublin-II-Abkommen das kleine Land, alle Flüchtlinge, die über Griechenland in die EU kommen, alleine aufzunehmen, ihr Asylverfahren abzuwickeln und sie gegebenenfalls alleine wieder abzuschieben. Doch Griechenland war damals schon pleite. Es gab kein Asylsystem, keine Sachbearbeiter, keine Anwälte. Es gab keine Aufnahmeeinrichtungen und kein Geld, um den Flüchtlingen Sozialleistungen zu zahlen. Und vor allem weigerte sich die den Griechen in alter Feindschaft verbundene Türkei, die Papierlosen wieder zurückzunehmen. Griechenland war mit den Flüchtlingen allein.

Frontex und die griechische Küstenwache reagierten mit großer Brutalität. Immer wieder berichteten Flüchtlinge internationalen Organisationen und Journalisten dieselben haarsträubenden Geschichten: Ihre Boote seien zum Kentern gebracht worden, man habe sie in türkische Gewässer zurückgedrängt, ihnen Geld, Handys und Paddel weggenommen oder gar die Boote plattgestochen.
Man versuchte alles, um zu verhindern, dass sie Griechenland erreichen oder die Energie behielten, es noch einmal zu versuchen. Dabei ist selbst das bloße Zurückschleppen in türkische Gewässer, »refoulement« genannt, schon ein Verstoß gegen internationales Recht: Griechenland ist verpflichtet, vor einer Abschiebung jedes Asylgesuch zu prüfen.
Von all dem wussten die Meidans nichts. Doch sie hatten Glück. Ihr Boot wurde nicht entdeckt. Dafür liefen sie auf einen Felsen, der ihr Boot aufschlitzte. »Es war dunkel, der Kapitän hatte keine Erfahrung«, sagt Arif. »Das Meer war unruhig, Jeelah konnte nur das Baby festhalten, sie konnte kaum schwimmen und hielt es über ihren Kopf, immer wieder ging sie unter.« Am Anfang versuchte Arif noch, seine Tasche mit dem Geld festzuhalten. Um sich herum sahen die Meidans, wie von den 19 Passagieren einer nach dem anderen den Kampf gegen die Fluten verlor.
Yalda, acht Jahre; Neda, zehn Jahre; Mehdi, vier Jahre; Sonia, sechs Jahre; Abdulfasi, drei Jahre; Zomaya, Zakia, Tsima – sie alle waren tot, als irgendwann das Fischerboot kam und die verbliebenen Schiffbrüchigen rettete. Ihre Namen stehen heute auf einer schwarzen Metalltafel, deutsche Aktivisten des No-Border-Netzwerks, das sich »Welcome to Europe« nennt, haben die Tafel angefertigt und mitgebracht, um sie an einem kleinen Leuchtturm anzubringen, von dem aus man auf die Stelle sehen kann, wo das Boot der Meidans auf Grund lief.

Vor einem Jahr waren sie schon einmal auf der Insel (Jungle World 37/09) und haben dort ein Camp organisiert, fast 600 Aktivisten aus ganz Europa waren damals gekommen. Am Anfang gelang es ihnen, eine kleine Videokamera in das Internierungslager Pagani zu schmuggeln, in dem damals 800 Flüchtlinge unter unvorstellbaren Bedingungen eingesperrt waren. Die dabei entstandenen Bilder gingen um die Welt, das ZDF und selbst der Sender CNN veröffentlichten das Video. Die Uno schaltete sich ein, die EU-Kommission eröffnete ein Vertragsverletzungsverfahren, und nach der Wahl im Oktober nannte der neue griechische Innenminister das Lager »schlimmer als Dantes Inferno«, was seine Polizei aber nicht daran hinderte, auch den aus dem Wasser gefischten Arif Meidan dort einzusperren und von seiner ins Krankenhaus gebrachten Frau und seiner Tochter zu trennen, ohne ihn über deren Gesundheitszustand aufzuklären. Es waren einige der deutschen Aktivisten, die seine Familie im Krankenhaus suchten, Fotos machten und Arif am Zaun des Lagers von ihnen berichteten.

Mittlerweile ist Pagani geschlossen, aber nur, weil die Eingesperrten wochenlang trotz gewalttätiger Polizeiübergriffe revoltierten und aus Verzweiflung mehrfach Brände in ihren Zellen legten. Hinzu kommt, dass nur noch etwa 150 Flüchtlinge pro Monat nach Lesbos kommen. Die Türkei hat ihre Kontrollen in dem Seegebiet verschärft und sich bereiterklärt, für den Anfang 1 000 Flüchtlinge pro Jahr zurückzunehmen, wohl als Verhandlungsmasse für ihre Forderung nach Visa-Freiheit für Türken in der EU. Auch die Strafen für Schlepper wurden drastisch angehoben. Griechische Taxifahrer fragen ausländisch aussehende Menschen nun nach ihren Papieren, bevor sie losfahren. Der Türke, der das Boot der Meidans steuerte, soll für 60 Jahre ins Gefängnis, in den vergangenen Monaten gab es bereits ähnliche Urteile. Doch es kommen nicht weniger Flüchtlinge nach Griechenland. 18 000 waren es von Januar bis Juli dieses Jahres, fast alle versuchen es nun über die Landgrenze am Fluss Evros.
»Dort ist die Hölle los«, sagt Karl Kopp von Pro Asyl. In den Internierungslagern seien die Zustände »eine absolute humanitäre Katastrophe«, die Menschen müssten vor Überfüllung in zwei Schichten schlafen. Aktivisten des Netzwerks »Welcome to Europe« entdeckten Anfang August ein Massengrab, in dem die griechische Polizei einen Teil der Flüchtlinge verscharrt hatte, die immer wieder im Evros ertrinken.
Am Montag voriger Woche stoppte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zum zwölften Mal eine Abschiebung nach Griechenland. Dort gebe es keinen Schutz für Flüchtlinge, deswegen könne von dem Dublin-II-Abkommen kein Gebrauch gemacht werden, begründeten die Richter die Entscheidung. »Dass das Land es nicht schafft, ein Asylsystem aufzubauen, macht Dublin II kaputt«, meint Kopp. Der Druck auf Griechenland, zumindest auf dem Papier europäische Asylstandards zu schaffen, sei deshalb enorm.
Ende August stellte das griechische Innenministerium der EU-Kommission sein Konzept für ein neues Asylsystem vor. Fünf Komitees sollen die 46 000 anhängigen und alle neuen Asylanträge bearbeiten. Der Polizei wurde die Zuständigkeit entzogen, das UNHCR soll sich an den Komitees beteiligen. »Angesichts des Geldmangels ist es aber unwahrscheinlich, dass sich die Situation der Flüchtlinge in Griechenland verbessert. Die neue Regierung hat seit Oktober 2009 mehrfach Absichtserklärungen abgegeben, tatsächlich ist alles aber noch schlechter geworden«, sagt Bernd Kasparek von »Welcome to Europe«. Das Asylsystem in Griechenland liege derzeit komplett brach. »Die neuen Pläne sollen lediglich der EU und den Gerichten signalisieren, dass sich etwas bewegt.«
Am Leuchtturm werden die letzten Schrauben der Gedenktafel festgezogen. »Wir sind hier, um den Toten ein wenig Würde zu geben«, sagt einer der Aktivisten und liest in einer Ansprache die Namen der Ertrunkenen vor. »Hier zu erinnern, bedeutet auch, die Geschichten der Unzähligen zu bewahren, die ihr Leben durch die ungeheure Arroganz der Festung Europa verloren haben.«
Die Meidans stehen zwischen all den antirassistischen Aktivisten, Jeelah hat ihr Baby auf dem Arm, beide haben Tränen in den Augen. Sie haben dem Fischer gedankt und ihm die Feigen und das Spielzeugauto gegeben. Wie es nun weitergeht, wissen sie nicht. Einfach in ein anderes Land gehen können sie nicht. Wegen des Dubliner Abkommens darf die Familie nur in Griechenland um Asyl nachsuchen. Das hat sie bisher nicht getan. »Wir haben Leute gefragt, die seit sechs Jahren darauf warten. Keiner hat es gekriegt.« Jeden Morgen um fünf Uhr geht Arif nun in das nahe gelegene Dorf und hofft, dass irgendein Grieche ihn als Landarbeiter anheuert. So will er Geld sparen, um endlich aus Griechenland wegzukommen. Meistens kommt niemand, der letzte Job auf einer Olivenplantage ist vier Monate her. Auf das Geld – 20 Euro pro Tag sollte er bekommnen – wartet er heute noch. Den Rest des Tages verbringt er in der Villa Azadi. »Ich pflücke Obst und lerne Englisch. Irgendwann geht es weiter. Und dann kann ich das gut gebrauchen«, sagt er.