Streiks und Proteste in Frankreich

Eskalation für die Pension

Auf den Straßen protestieren die Schüler, in den Raffinerien streiken die Arbeiter, etliche Züge und Flüge fallen aus – Nicolas Sarkozy hat sich mit seinen Plänen zur Rentenreform die größten Massenproteste seit 2006 eingehandelt. Kann die Rentenreform zu Fall gebracht werden wie die geplante Aufhebung des Kündigungsschutzes für junge Lohnarbeiter im Jahr 2006?

Nicolas Sarkozy wartet sehnsüchtig auf den Beginn der Schul- und Hochschulferien. Denn wenn am kommenden Wochenende im Raum Paris die einwöchigen Herbstferien beginnen, so hofft Frankreichs Präsident, werden die seit der zweiten Oktoberwoche protestierenden Schüler und Studenten die Schul- und Universitätsstreiks beenden und brav zuhause bleiben. Im Elyséepalast und in den Ministerien hat man schließlich genug von Jugendlichen, die auf den Straßen singen, tanzen, Schulen verbarrikadieren, »Sarkozy, hau ab!« rufen und Slogans gegen die geplante Rentenreform skandieren: »Plackerei für die Alten, Arbeitslosigkeit für die Jungen – diese Gesellschaft, die wollen wir nicht!«
Denn die Rentenreform Sarkozys, die das Renteneinstiegsalter erhöhen soll, betrifft nicht nur ältere Lohnarbeiter, die bislang hoffen durften, dass die Mühsal der Arbeit ab dem 60. beziehungsweise 65. Lebensjahr ein Ende habe. Auch ein Transparent im Schülerblock auf der Demonstration am Samstag in Paris fragte: »Gibt es ein Leben nach der Arbeit?« Vor allem befürchten die Jüngeren aber, dass die Reform die Älteren daran hindern wird, ihre Arbeitsplätze frei zu machen und es dadurch noch schwerer wird, Arbeit zu finden, als es bisher schon ist. Zudem ist der Protest gegen die Rentenreform für viele eine Gelegenheit, ihre Frustration über die gesamte soziale Situation loszuwerden. Nicolas Sarkozy, dessen Kernwählerschaft eher aus besser situierten Älteren besteht, personifiziert in ihren Augen eine ebenso elitäre wie reaktionäre Gesellschaft.
Die jüngste Generation in Frankreich ist zugleich jene, die relativ am wenigsten von den verbreiteten rassistischen Ideen durchdrungen ist. So demonstrieren die Schülerinnen und Schüler zugleich auch gegen die Abschiebungen von Roma und die »staatliche Xenophobie«. Am Donnerstag voriger Woche erklärte der Soziologe Olivier Galland in Le Monde, 13 Prozent der unter 25jährigen sympathisierten mit den Ideen der radikalen Linken – das sind knapp doppelt so viele wie noch vor einem Jahrzehnt.
An den Sozialprotesten am Samstag beteiligten sich mehrere Tausend Oberschüler in Paris. Ein Teil lief hinter den Transparenten der Oberschülergewerkschaften UNL und FIDL und ihren Lautsprecherwagen mit laut dröhnender Musik her, ein Teil hatte eigenständige Blöcke für die jeweiligen bestreikten Schulen gebildet. Wieder andere liefen mit streikenden Lehrern oder Eltern zusammen. »Wir sind heute am Samstag Nachmittag hier«, meint die 17jährige Schülerin Elodie, »um zu zeigen, dass es uns keineswegs um den Spaß beim Unterrichtschwänzen geht: Deswegen demonstrieren wir bewusst auch jetzt, wo kein Unterricht stattfindet.« Am Dienstag nahm die Zahl der Oberschüler in den Demonstrationen nochmals zu.

Insgesamt haben nach Angaben der Polizei am Samstag in Paris 50 000 Menschen demons­triert – eine Zahl, die angesichts der beiden langen parallelen Protestzüge auf den breiten Pariser Straßen allerdings nicht besonders glaubwürdig erscheint. Die Gewerkschaften sprachen von 310 000 Teilnehmern. Dass die Angaben beider Seiten weit auseinanderklaffen und sich eher an politischen Interessen denn an halbwegs realistischen Schätzungen orientieren, hat in Frankreich Tradition. Aber selten gab es so eklatante Diskrepanzen wie bei den Protesten der vergangenen Wochen. Bei den Protesten in Marseille unterschieden sich die Teilnehmerschätzungen von Polizei und Veranstaltern um das Zehnfache. Zum ersten Mal sah sich gar die Polizeigewerkschaft UNSA Police genötigt, die Schätzungen ihrer Kollegen öffentlich als manipuliert zu bezeichnen.
Die Zahlen sind so umstritten wie politisch relevant. Denn bereits seit Ende September versucht das Innenministerium bei jedem Aktionstag von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aufs Neue, ein »spürbares Abflauen« der Proteste zu suggerieren. Doch bislang ist von einem Abflauen nichts zu merken. Am Dienstag fand bereits der sechste Aktionstag gegen die Rentenreform seit Anfang September statt, seit dem Früh­sommer gab es bereits acht große Protesttage. Realistisch geschätzt lag die Beteiligung in ganz Frankreich wohl bei rund zwei Millionen Menschen.

Bei den jüngsten Demonstrationen sollten mehrere Ketten aus Ordnern mit blauen Armbinden die Schüler vor casseurs schützen, »Randalierern« oder »Krawalldemonstranten«, wie man sie wohl in Deutschland nennen würde. Als der Begriff casseurs vor 30 Jahren im offiziellen Sprachgebrauch auftauchte, waren damit vor allem Autonome und andere Militante genannt. Aber auch Plünderer am Rande von Demonstrationen werden so bezeichnet. Vor einigen Jahren fasste man Jugendgangs unter denselben Begriff, die im März 2005 und im März 2006 in Paris auf demonstrierende Schüler losgingen und ihnen etwa ihre Handys raubten. Auch in den vergangenen zwei Wochen war plötzlich wieder von casseurs die Rede. In einzelnen Pariser Vorstädten mischte sich die subproletarische Jugend unter die demonstrierenden Oberschüler. 200 bis 250 von ihnen waren am Montag bei den Protesten in Nanterre dabei, einige Autos wurden angezündet, von Gewalt gegen Demonstranten gab es bislang nur wenige Berichte. Allein am Freitag kam es zu 242 Festnahmen, vor allem in Lyon und im Raum Paris. An diesem Tag hatten die Jugendlichen an vielen Oberschulen unabhängig von Gewerkschaften zu Protesten aufgerufen.
Seit Schüler und Studenten eigenständig protestieren, haben auch die Repressalien gegen die Jugend stark zugenommen. Ein 19jähriger Geschichtsstudent wurde am Dienstag voriger Woche in Caen bei einem Polizeieinsatz schwer verletzt: Ein Polizist hatte ihn offenbar gezielt mit einer Tränengasgranate beschossen, die nach dem Reglement der Polizei nur in die Luft abgefeuert werden darf. Der Student erlitt einen Schädelbasisbruch und eine Verletzung der Gehirnmem­bran und musste fünf Stunden lang operiert werden. Sein Vater und ein weiterer junger Mann, der bei dem Polizeieinsatz verletzt wurde, kündigten inzwischen an, Strafanzeige gegen Unbekannt zu erstatten. In der Pariser Vorstadt Mon­treuil schossen Polizisten am Donnerstag mit einem Gewehr für Flash-Balls – das sind 6,7 Zentimeter dicke Gummigeschosse – auf den 16jährigen Geoffrey, der gerade dabei war, eine Mülltonne vor seine Schule zu rollen. Er erlitt eine Netzhautablösung und droht auf einem Auge zu erblinden. Der Polizeipräfekt von Paris, Michel Gaudin, ordnete daraufhin an, den Einsatz der Gummigeschosse stärker zu kontrollieren, und Innenminister Brice Hortefeux empfahl, den Gebrauch von Gewalt »auf das Notwendige zu beschränken«.
Für »notwendig« könnte die Regierung den Einsatz derart brutaler Gewalt allerdings weiterhin halten, denn der starke Zulauf von Oberstufenschülern und auch von Studierenden hat der französischen Streikbewegung gegen die Rentenreform seit einigen Tagen neuen Schwung verschafft. Gestreikt wird sowohl im öffentlichen Dienst als auch in Teilen der Privatwirtschaft, und seit dem 12. und 13. Oktober wird in einigen Sektoren zum unbefristeten Streik aufgerufen.
Die Führungsspitzen der Gewerkschaftsverbände lehnen härtere Konfrontationsformen jedoch ab und engagieren sich nicht für unbefristete Streiks. Selbst wenn aktuellen Umfragen zufolge 54 Prozent der Franzosen einen harten und längeren Streik unterstützen würden, bevorzugen die Gewerkschaftsverbände mehr oder minder symbolische Demonstrationen, um in der öffentlichen Meinung nicht in Ungnade zu fallen. Doch vor allem bei der CGT, dem stärksten Dachverband, ist der Druck von radikaleren Teilen der Gewerkschaftsbasis mittlerweile so stark, dass die Führung beschlossen hat, den Beschäftigten selbst die Initiative zu überlassen. Bestreikt werden Energieversorgungsunternehmen und Teile der Metallindustrie, seit Anfang vergangener Woche ist der Eisenbahnverkehr beeinträchtigt, am Montag fiel rund die Hälfte aller Schnellzüge aus.
Aber nicht alle Beschäftigten solidarisieren sich im Kampf gegen die Rentenreform. In Paris und anderen Ballungszentren verkehren Metro- und Buslinien beinahe wie immer. Die dortigen Beschäftigten sind vor allem in »autonomen« Gewerkschaften organisiert, die die Interessen ihrer Berufsgruppen verfolgen und keinem Dachverband oder übergreifenden Zusammenschluss angehören. Und die Eisenbahner wie auch die Transportbediensteten der städtischen Verkehrsbetriebe haben ihre eigenen Rentenregelungen, die erst ab 2017 abgeschafft werden sollen. Allerdings wird die verabschiedete Rentenreform ihre volle Wirkung ohnehin erst ab 2018 entfalten. Wenn sie also greift, werden auch die Lohnabhängigen in den Transportbetrieben unter die allgemeinen Regeln fallen. Doch das wollen im Augenblick noch nicht alle von ihnen wahrhaben.

Dass sich nicht Lohnabhängige aller Branchen an den Streiks beteiligen, liegt aber auch daran, dass die Beschäftigten bei den Streikbewegungen der jüngeren Zeit Niederlagen einstecken mussten. Im April waren beispielsweise Eisenbahner gegen das Kaputtreformieren des Gütertransports in den Streik getreten, doch das Kräfteverhältnis war ungünstig. Der Streik dauerte knapp zwei Wochen und brachte den abhängig Beschäftigten entsprechende Lohnverluste ein, denn in Frankreich gibt es keine Streikkassen, aus denen Lohnausfälle erstattet werden könnten. Nach 14 Tagen ließ die Streikbeteiligung nach, die Aktionen brachten keinerlei Zugeständnisse oder Verhandlungserfolge. Solche Niederlagen wirken nach. Vor allem die Beschäftigten der petrochemischen ­Industrie sorgen dafür, dass es für die Regierung dennoch ungemütlich werden könnte: Alle zwölf in Frankreich liegenden Raffinerien werden seit dem Wochenende bestreikt. In zehn von ihnen wurde die Produktion gedrosselt, in zweien kam sie völlig zum Stillstand. Die Abschaltung einer Raffinerie dauert eine Woche, ebenso lange benötigt eine solche Anlage, um wieder hochzufahren.
Noch ist unklar, wie stark die Streiks in den Raffinerien die französische Ökonomie beeinträchtigen. Am Wochenende hatten bereits 200 Tankstellen keinerlei Benzin mehr, am Dienstag waren es schon 2 500 von den insgesamt 12 500 Tankstellen in Frankreich. Doch die Regierung behauptete, die »strategischen Reserven« erlaubten es, über Wochen hinaus eine Benzinkrise zu vermeiden. Nur glaubt ihr dies kaum jemand mehr, allem Anschein nach bluffte die Regierung, um Panik- und Hamsterkäufe durch die Verbraucher zu verhindern. Die Nachfrage nach Benzin war Ende vergangener Woche bereits um 50 Prozent gestiegen. Am Montag wurde ein Krisenstab zur Benzinkrise im französischen Innenministerium eingerichtet. In zwei ostfranzösischen Départements wurde ein teilweises Fahrverbot erlassen.

In Deutschland wird der Protest gegen die französische Rentenreform gern belächelt, heißt es doch, die Franzosen protestierten gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 62 Jahre. Und die Deutschen nahmen es bekanntlich fast ohne Widerstand hin, als die Koalition aus CDU und SPD das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhte. Dass die Rentenreform in Frankreich allerdings weniger harmlos ist, als es scheinen könnte, wird schnell deuttlich, wenn man neben der Erhöhung des Renteneinstiegsalters auch die ebenfalls geplante Erhöhung der geforderten Rentenbeitragsdauer in den Blick nimmt.
Die geforderte Beitragsdauer für die Lohnabhängigen wurde bereits 1993 und 2003 schrittweise angehoben und liegt seither bei 40 Beitragsjahren – bis 1972 waren es noch 30, danach lange Zeit 37,5 Beitragsjahre. Wer die geforderten 40 Beitragsjahre beisammen hat oder aber Abzüge von derzeit sechs Prozent pro fehlendem Beitragsjahr hinnimmt, konnte bislang frühestens mit 60 Jahren in den Ruhestand. Wer für die 40 Jahre Arbeit länger braucht als bis zum 60. Lebensjahr und dennoch eine Rente ohne Abzüge will oder zum Überleben braucht, musste schon bisher maximal bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Im Jahr 2018 soll die Beitragsdauer auf 41,5 Jahre steigen. Außerdem sollen beide Altersgrenzen angehoben werden: auf 62 für die Untergrenze, die Obergrenze für eine Rente ohne Strafabzüge auf 67 Jahre. Gleichzeitig erlaubt ein bereits im Herbst 2008 verabschiedetes Gesetz es mittlerweile, »freiwillig« bis zum Alter von 70 Jahren weiterzuarbeiten – etwa für den Fall, dass die Rente zum Leben nicht ausreicht.
Für jene, die keine lückenlose Erwerbsbiografie von 40 beziehungsweise zukünftig 41,5 Jahren Lohnarbeit vorweisen können, bedeuten die Reformen, dass das Leben nach der Arbeit erst mit 67 Jahren beginnt. Das betrifft vor allem Frauen, denen meist die Kindererziehung aufgebürdet wird. Und während bislang Kindererziehungszeiten wenigstens mit einem oder zwei Jahren auf die Beitragsdauer angerechnet wurden, wurde diese Regel bei den jüngsten Reformen kurzerhand abgeschafft – davon ausgenommen sind allein Mütter, die vor 1959 geboren wurden und mindenstens drei Kinder haben.

Allerdings nehmen »gebrochene Erwerbsbiografien« auch bei den männlichen Lohnabhängigen jüngerer Generationen zu: wegen längerer Schul- und Studienzeiten, Schwierigkeiten beim Berufseinstieg und der Jobsuche, häufigeren Arbeitsplatzwechseln als in früheren Zeiten. Entsprechend wird es für eine wachsende Anzahl von Lohnabhängigen beiderlei Geschlechts schwierig werden, die erforderliche Beitragsdauer für eine Rente vor dem 67. Lebensjahr zusammenzubekommen. De facto erhöht sich das Renteneintrittsalter für immer mehr Französinnen und Franzosen damit nicht auf 62, sondern auf 67 Jahre.
Besonders benachteiligt wird auch, wer schon sehr jung zu arbeiten anfing. Denn nach den jetzigen Planungen müssen Menchen, die seit dem 18. Lebensjahr berufstätig sind, ganze 44 Jahre lang arbeiten, bis sie das Mindesteintrittsalter von 62 Jahren erreichen. Auf eine diesbezügliche Kritik antwortete Premierminister François Fillon im Fernsehen, das sei nicht ungerecht. Und zwar, »weil Arbeit per se nicht ungerecht ist«.
Viele Franzosen dürften der Aussage des Premierministers allerdings nicht zustimmen, Umfragen zufolge unterstützten 71 Prozent der Franzosen den Aktionstag am Dienstag. Betrachtet man allerdings die Streikbeteiligung in den verschiedenen Wirtschaftsbranchen, fällt auf, dass derzeit vor allem in den Häfen und Raffinerien gestreikt wird, auch die LKW-Fahrer beteiligen sich an Streiks und Blockaden. In anderen Bereichen dagegen fällt die Beteiligung geringer aus. Das liegt unter anderem auch an den in den vergangenen Jahren gesunkenen Reallöhnen: Wegen der fehlenden Streikkassen können es sich in Frankreich viele Leute heute kaum noch erlauben, mehrere Tage am Stück zu streiken. Auch wer eine prekäre Beschäftigung hat und ohne weiteres gekündigt werden kann, kann sich kaum an Streiks beteiligen. Auch deshalb favorisiert die breite Protestbewegung in ihrer Mehrheit Massendemonstrationen und nicht den Streik als Druckmittel.

Bislang besteht noch Hoffnung, dass die Proteste eine Abstimmung im Senat beeinflussen könnten. Das Votum des Oberhauses des Parlaments über die Reform, die schon vor einem Monat von der Nationalversammlung angenommen wurde. wurde mehrfach verschoben, zuletzt auf diesen Donnerstag. Am selben Tag treten die acht Gewerkschaftsverbände wieder zu Beratungen zusammen. Die moderatesten unter ihnen – CFDT, UNSA und die christliche Gewerkschaft – plädieren dafür, den Protest zu beenden, »wenn die Demokratie einmal entschieden hat«, und hoffen auf einen politischen Wechsel im Wahljahr 2012. Andere Kräfte in der Protestbewegung sehen dies ganz anders. Ihre Aktionsformen dürften sich radikalisieren.