Kampf der Kunst. Über Gentrifizierung in Istanbul

Istanbul räumt auf

Als Europäische Kulturhauptstadt 2010 will Istanbul sich in diesem Jahr liberal und fortschrittlich geben. Doch es kam zu Ausschreitungen gegen Galerien, die auch Diskussionen über die Gentrifizierung auslösten.

Die Istanbuler Kunstszene ist überschaubar. Neben den staatlichen Museen investieren Indus­triekonzerne und Banken in Familienbesitz großzügig in Kultur. Sie unterhalten eigene Museen und Symphonieorchester. Kapital und Kunst sind in der Türkei eng verknüpft. Unabhängige Kunst­räume sind in der Stadt relativ neu. Selda Asal war eine der ersten Künstlerinnen, die schon im Jahr 1999 ihr Atelier im damals einsamen und düsteren Viertel Asmalimescit in den Kunstraum »Apartman Projesi« (Wohnungsprojekt) umwandelte und türkische sowie internationale Künstler zu gemeinsamen Projekten einlud. Das »Oda Projesi« (Raumprojekt) wurde im Jahr 2000 von den Künstlern Özge Açıkkol, Günes Savas und Seçil Yersel in Istanbul gegründet. Ein weiteres kleines Künstlerkollektiv gründete 2007 das Projekt »Hafriyat« (Schrott), das im Hafenviertel Karaköy in unmittelbarer Nähe des Istanbul Modern, des Museums für Kunst der Gegenwart, zu einem wichtigen Treffpunkt für junge, noch unbekannte Künstler und Performer wurde. Mittlerweile sind die meisten dieser Orte im Zuge der Gentrifizierung verschwunden. »Hafri­yat« ging aufgrund der Wirtschaftskrise flöten, von der auch die Sponsoren nicht verschont wurden, für »Oda Projesi« wurde der Stadtteil Galata zu teuer. »Apartman Projesi« befindet sich noch im mittlerweile beliebten Ausgehviertel Asmalimescit und ist von der Restaurantmafia bedroht worden, die anstelle der Galerie lieber eine Bar aufmachen will.

Aber es gibt neue Stadtteile, die derzeit erschlossen werden. Sehr beliebt ist Tophane, ein Viertel zwischen dem Hafenviertel Karaköy und der Ausgehmeile Beyoglu. Tophane ist noch billig, in der Nachbarschaft wohnen obdachlose Müllsammler, Roma, viele konservativ-religiöse anatolische Migranten. Ein Viertel, das zentral liegt, aber wegen der unrenovierten Altbauten noch billigen Wohnraum bietet. Das dachten sich auch einige Galeristen, die dort fünf kleine unabhängige Kunsträume eröffneten: »Non«, »Outleti«, »Elipsis«, »Artwork« und die »Galeri Apel« bilden heute den sogenannten Tophane-Walk und organisieren gemeinsame Projekte. Die Besucher können an einem Abend von Vernissage zu Vernissage laufen, bislang jedenfalls.
Am 21. September wurde der Tophane-Walk zum Schauplatz von gewalttätigen Angriffen. Eine Gruppe jugendlicher Hooligans warf am Abend der Eröffnung die Scheiben einiger Galerien ein, verprügelte die auf der Straße stehenden Besucher und versuchte, die Galerie »Outleti« zu stürmen. Die Galeristin Azra Tüzünoglu musste sich mit ihren Gästen in dem 20 Quadratmeter großen Ausstellungsraum verbarrikadieren. Die Polizei wurde sofort alarmiert, ließ sich aber reichlich Zeit. Nach einer halben Stunde verscheuchte sie die Randalierer, fünf Verletzte mussten in Krankenhäusern versorgt werden. Augenzeugen berichteten von einer organisierten Attacke von etwa 50 Männern, die mit Werkzeugen, Messern und Pfefferspray bewaffnet waren.
Nachdem die liberale Tageszeitung Radikal drei Tage lang über die Ausschreitungen auf der Titelseite berichtet hatte, fühlte sich die Polizei genötigt, einige der Täter zu verhaften. Diese begründeten ihre Tat damit, dass sie sich von den Galeriegästen gestört fühlten. Diese hätten auf der Straße Alkohol getrunken und angeblich Bewohner des Viertels mit Bierflaschen und Gläsern beworfen. Die Galeriebesucher bestreiten das.
Nun spaltet sich die türkische Öffentlichkeit. Nicht wenige vetreten die Meinung, die Randalierer von Tophane seien von der islamisch-konservativen Stadtverwaltung Beyoglu, zu der ­Tophane gehört, angestiftet worden, oder sehen die Ausschreitungen als »geduldete konspirative Aktion«. Sie begründen diesen Verdacht mit dem lahmen Verhalten der Polizei und mit den Spekulationsinteressen potentieller Anleger, die in Tophane investieren wollen. Das ist etwas unlogisch, da Kunstgalerien normalerweise den Marktwert von verkommenen Vierteln eher steigern. Überdies schützt die Polizei momentan die Galerie. Am Tag des Angriffs hatten verschiedene Galerien in Tophane eine gemeinsame Vernissage organisiert. Die Galerie »Non« zeigte die Werke der Reihe »Extra­struggle« des in Istanbul beliebten Künstlers Erden Kosova alias Memed Erdener. Dessen Arbeiten gelten als provokativ. Der Künstler spielt mit den Symbolen der türkischen Geschichte. Ein gefährliches Spiel, denn Staatsgründer Atatürk, die türkische Fahne und religiöse Symbole sind das Allerheiligste der Republik, und ihre Verspottung ist sogar strafbar.
Viele Leute in der Türkei, und vor allem die Anwohner von Tophane, finden, dass die Kunst der verwöhnten »Schickeria«, die sich in den Galerien des Viertels trifft, höchst anstößig sei und sich die Künstler nicht wundern müssten, wenn dem »Mann auf der Straße« mal die Hand ausrutscht. Nicht alle aber führen die Auschreitungen von Tophane auf die provokative Kunst zurück, die in den dortigen Galerien ausgestellt wird. Viele türkische Kolumnisten entdecken derzeit ihr Herz für die Benachteiligten dieses Viertels und behaupten, Kunst errichte Klassenschranken. Die Anwohner seien aufgebracht vom »Sittenverfall« in ihrem Stadtviertel, das traditionell von konservativen Familien bewohnt war, und beklagten seit Monaten den Wandel ihres Viertels durch den Zuzug von Bars, Restaurants und Kunstgalerien. Doch ob man die Wut der Anwohner nur mit dem Alkoholkonsum und der lärmenden Musik der Partys in der Nacht erklären kann, ist fraglich. Fakt ist, dass die Mieten hier kontinuierlich steigen und die armen Bewohner langsam verdrängt werden.
Das ist ein Trend, der nicht nur in Tophane zu beobachten ist. Viele Istanbuler sind Opfer der allgemeinen Aufräumarbeiten zur Verschönerung der Metropole im Rahmen von »Istanbul 2010«. Die Fassade ist glänzend und blumig. Unzählige Blumenrabatten geleiten den Besucher vom Flughafen bis zur Innenstadt, darunter Arrangements in Form von Maikäfern und Schmetterlingen, die nachts bunt illuminiert werden.
Als Istanbul sich als Kulturhauptstadt Europas bewarb, präsentierte sich die Stadt als »integra­tiver Schmelztiegel der Kulturen«. Die Restaurierung der Außenfassade der Hagia Sophia wurde nach 17 Jahren pünktlich in diesem Jahr fertiggestellt. Die Errichtung der Krönungskirche der ­byzantinischen Kaiser geht auf das 6. Jahrhundert zurück, die Kirche ist Teil des Weltkulturerbes. Das Topkapi-Serail, das ebenfalls zum Weltkulturerbe gehört, wurde aufwendig renoviert. Seit dem 15. Jahrhundert war es Regierungssitz der osmanischen Sultane. Im Vergleich zu den wichtigen Tourismusattraktionen und der Renovierung zentraler historischer Moscheen und Brunnen wird das historische Erbe der Minderheiten deutlich vernachlässigt. Das Militär und die islamisch-konservative Regierung sind sich selten so einig wie bei der Inszenierung osmanischer Eroberungserfolge. Die Eroberung Istanbuls vor 557 Jahren wurde auch in diesem Jahr an der historischen Stadtmauer aufwendig zelebriert. Am 29. Mai 1453 hatte Sultan Mehmed II. Konstantinopel erobert und damit das Ende des byzanti­nischen Reichs besiegelt. Das historische Ereignis wird alljährlich an den Relikten der byzantinischen Stadtmauer mit Pferden und Darstellern in historischen Kostümen inszeniert. Dieses Jahr fanden die Paraden unmittelbar in der Nähe der Baustelle von Sulukule statt.

Im Schatten der Stadtmauer lag bis Ende 2009 das Roma-Viertel Sulukule. Mehr als 1 000 Jahre lang siedelten hier Roma. Sie waren erst am byzantinischen und dann am osmanischen Hof gefragte Musiker und Handwerker. Doch direkt aus Ankara kam 2008 die Direktive zum Abriss. Gegen den Protest der Unesco wurden 3 500 Menschen zwangsumgesiedelt. Der Abriss wurde mit höheren städtebaulichen Interessen begründet. Mit dieser Maßnahme verstößt Istanbul sogar gegen die Auflagen zum Schutz von Weltkulturerbe. Sulukule ist ein bedenklicher Präzedenzfall. Denn auch an anderen Stellen der Stadt, vor allem dort, wo früher Minderheiten lebten, soll die Stadtsanierung greifen. Auf den Ruinen des Roma-Viertels sollen nun Luxuswohnungen in pseudo-osmanischem Stil gebaut werden. Lokale Kritiker sehen darin ein osmanisches Disneyland, die Aufbereitung einer architektonischen Geschichte, die so hier nie existiert hat. Mit der Bewerbung für »Istanbul 2010« wurde auch ein Aufschub bei der Unesco-Kommission erwirkt. Diese beschloss Ende Juli, dass Istanbul noch nicht von der Liste des Weltkulturerbes gestrichen wird, forderte aber konkrete Maßnahmen zur Verhinderung der Schleifung anderer Stadtviertel wie dem Tarlabasi-Boulvard in Beyoglu.
Bis zu den Pogromen gegen die griechische Minderheit in den fünfziger Jahren wohnten hier vor allem griechische und armenische Familien. Nach deren Exodus aus der Stadt siedelten sich anato­lische Migranten dort an, es folgten Roma, Transvestiten und afrikanische Flüchtlinge. Das großbürgerliche Flair verschwand, die Tarlabasi galt lange als gefährliche Hochburg von Taschendieben, Prostituierten und illegalem Glücksspiel. Seit etwa zehn Jahren kündigt sich jedoch dort die Gentrifizierung an. Investoren spekulieren mit gut erhaltenen Häusern, die teilweise bereits in teuer restaurierte Geschäftsflächen umgewandelt wurden. Die Stadtverwaltung von Beyoglu hat bereits eine genaue Planung des angestrebten Charakters des Viertels vorgelegt. Danach sieht das Viertel bald aus wie eine traurige Kopie der virtuellen Welt »Second Life«, nur dass die Avatare nicht schrill bunt, sondern klischeehaft langweilig sind. Mittelschichtsfamilien sollen dort leben, arbeiten und einkaufen. Vorgesehen ist eine komplette Auswechslung der dort anssässigen Bevölkerung, die aber von vielen Istanbulern als fester Bestandteil der Ausgehmeile Beyoglu angesehen wird.
»Das wäre so, als wenn sie alle Prostituierten aus St. Pauli in Hamburg oder St. Germain in Paris aussiedeln wollten«, bemerkt Korhan Gümüs, Stadtplaner von »Istanbul 2010«. Er steckt zurzeit in einer Krise, die Stadtverwaltung holte den engagierten Architekten als einen ihrer heftigsten Kritiker ins Boot. Gümüs leitet eine NGO, die sich für die Erhaltung einer lebenswerten Umgebung einsetzt, auch für die Roma von Sulukule. Er erarbeitete mit seinem Team Pläne für dieses und viele andere von Sanierungsplänen betroffenen Viertel. Realisiert wurden sie jedoch nicht. »Unsere Vision war, die Politik, die Wirtschaft und die Ini­tiativen der Zivilgesellschaft zusammenzubringen«, sagt der Stadtplaner betrübt. »Aber so etwas ist in der Türkei alles andere als einfach. Die Lokalpolitik wird vor allem immer wieder von der Regierungspolitik beeinflusst.«

Die Restaurierung des Mausoleums der Bankiersfamilie de Camondo ist ein weiteres nicht realisiertes Projekt von Gümüs. Es steht auf dem jüdischen Friedhof von Hasköy. Die Ruhestätte gleicht einer Müllhalde. In unmittelbarer Nähe befindet sich der Fuhrpark der städtischen Müllabfuhr. Ein überladener Mülllaster donnert vorbei, Dosen, Dreck und faules Gemüse fallen auf die Grabstelle. Im Mausoleum sitzt ein Obdachloser mit einer Flasche Rotwein. Stolz führt er Besucher zu einer zerbrochenen Grabplatte. Es ist die einzige von sechs, die übrig geblieben ist. Den Namen von Abraham de Camondo kann man mühselig entziffern. Eine politisch motivierte Vernachlässigung von Kulturerbe sei das, meinen Kritiker wie Nora Seni, Direktorin des Französischen Institutes für Anatolische Forschungen. »Im Jahr 2010 sollte das Mausoleum restauriert werden, aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass das geschieht«, erzählt sie. »Die Agentur 2010 hat viel über dieses Projekt gesprochen, um zu bezeugen, wie multikulturell die Stadtverwaltung in Istanbul und die Regierung sind. Es sollte ein Zeugnis dafür sein, wie Istanbul seine verschiedenen Identitäten behandelt. In der Praxis ist nichts passiert.«
Der jüdische Bankier Abraham Salomo de Camondo spielte im 19. Jahrhundert bei der Entwicklung einer modernen Infrastruktur in Istanbul eine bedeutende Rolle. Als einer der Geldgeber und Berater des osmanischen Hofes finanzierte er den Ausbau des Schienenverkehrs und die Einrichtung eines Fährverkehrs auf dem Bosporus. Die Vorfahren von Camondo waren als sephardische Juden vor der spanischen Inquisition erst nach Venedig und dann nach Istanbul geflohen. Im 19. Jahrhundert entstand das moderne Bankwesen. Salomon de Camondo schuf in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts die Basis für eine expandierende Bankenkette. Im Jahr 1869 zog die Familie nach Paris. Das Pariser Stadtpalais ist heute ein Museum. Das Ende der Familie war tragisch. Beatrice, Ururenkelin des Firmengründers, ihr 21 Jahre alter Sohn Bertrand und ihr Mann Léon Reinach wurden als letzte Nachfahren der Camondos in Auschwitz ermordet. »Als wir die Restaurierungspläne für das Mausoleum der Öffentlichkeit präsentierten, schrieb eine konserva­tive Tageszeitung: ›2010 präsentiert einen der Blutsauger des Volkes als Philanthropen‹«, erzählt Korhan Gümüs, »einfach nur, weil Camondo ein Bankier war. Das ist eine grauenvolle Doppelmoral. Das Projekt wurde einfach gestoppt und ist derzeit ein Indikator dafür, dass wir ein großes Problem mit unserer Geschichte haben.«
Izel Rozental, Karikaturist bei der jüdischen Wochenzeitung Salom, seufzt lakonisch: »Kulturpolitik wird leider immer wieder von der Tagespolitik beeinflusst. Die türkisch-israelischen Beziehungen sind schlecht, die Medien polemisieren entsprechend, und gute Projektentwürfe verschwinden in der Schublade.«
Eine öffentliche Debatte über die Defizite von »Istanbul 2010« wird bislang noch nicht geführt. Das Jazzfestival, das Tanzfestival, das Tulpenfestival, Gunther von Hagens’ Leichenschau »Körperwelten« und vieles, vieles mehr trägt das Label »2010«. Doch ebenso wie die Blumenmaikäfer hat das wenig mit dem ursprünglichen Konzept zu tun.