Berichtet über die Proteste im Wendland

Ein bisschen Ausnahmezustand

Die Castor-Geländespiele im Wendland sind ein altes Ritual, aber die diesjährigen Proteste gegen den Atommüll-Transport hatten dennoch ein paar Innovationen zu bieten.

Leicht außer Atem ist Jürgen Sperl vom Radiosender NDR 1, und etwas verwirrt. Bisher hat ihm die Pressearbeit der Kampagne »Castor-Schottern« sehr gut gefallen, sie sei »ausgesprochen professionell«, lobt er. Denn erstmals in der Geschichte der wendländischen Anti-Atom-Bewegung dürfen bei den Aktionen der Autonomen 20 Pressevertreter, unter ihnen sogar fünf Fernsehteams, als embedded journalists teilnehmen. Doch jetzt hat Sperl kurzzeitig den Anschluss verloren; gerade hat er noch im Morgengrauen mit einer Gruppe von etwa 800 zumeist vermummten Aktivisten einen gefrorenen Acker an der Siedlung Govelin nordwestlich von Dannenberg überquert, doch die Aktivisten sind schneller, im Laufschritt eilen sie zum Waldrand.
Ausgerüstet sind sie mit Taucherbrillen, Polstern aus Schaumstoff oder Strohbeuteln, manche haben sich nach dem Vorbild der italienischen Tute Bianche weiße Overalls übergezogen, die meisten sehen aber eher aus, als hätten sie vor dem Aufbruch ins Wendland den Outdoor-Discounter Globetrotter leer gekauft. Der Pulk dringt in den Wald am Ende des Ackers ein, eine zahlenmäßig weit unterlegenen Polizeieinheit hält deutlichen Sicherheitsabstand. Irgendwo im Wald liegen die Schienen, auf denen der Castor-Transport zum Verladekran in Dannenberg fahren soll. Die offenbar meist aus der autonomen Szene stammenden Aktivisten, viele von ihnen mit schwarzen Northface-Jacken uniformiert, wollen den Schotter unter den Gleisen abgraben und sie damit für den Castor unpassierbar machen. »Schottern« nennen sie das, das Wort hat es mittlerweile vom Szenejargon die Tagesschau geschafft.
Während sich ein lange Kolonne von Aktivisten zügig durch den Wald schlängelt, erklären Hannah Spiegel und Tadzio Müller vom Presseteam der Kampagne »Castor schottern« den eingebetteten Journalisten die taktische Raffinesse der geplanten Aktion. Die schätzungsweise 5 000 Aktivisten, die sich in den frühen Morgenstunden hier eingefunden haben, haben sich in drei sogenannten Armen organisiert. Die Arme haben unterschiedliche, bis zum letzten Augenblick geheim gehaltene Ausgangspunkte, von denen sie zu unterschiedlichen Schienenabschnitten im Wald drängen sollen. An den Schienen angekommen, sollen sich die einzelnen Arme wiederum in sogenannte Finger auffächern. Die sollen an der Polizei vorbei »ausschwärmen«, die entlang der Schienen Position bezogen hat.

Auch in den Fingern herrscht klare Aufgabenteilung. Die Aktivisten mit den Helmen, Polstern und Schutzbrillen bilden den »Schutz«, der wiederum in eine vordere und eine hintere Phalanx eingeteilt ist. Der »Schutz 1« soll erst einmal die Polizei daran hindern, die Gruppe der »Schotterer«, sozusagen die leichte Infanterie der Autonomen, davon abzuhalten, den Schotter unter den Gleisen abzugraben. Dabei spielt auch die von der US-Armee abgekupferte Idee eine Rolle, Journalisten direkt in die eigene Strategie einzubinden. »Sie bekommen damit einen effektiven Schutz und wir unsere Bilder«, sagt Jörg Hieronymus von Novo TV lakonisch. Geht der Plan der Kampagne auf, sollen die Reporter dabei auch dokumentieren, dass die Gewalt nicht von den Aktivisten, sondern von der Polizei ausgeht. Trotz des gelegentlich ins Militärische abdriftenden Jargons sei der »Aktionskonsens« nämlich, gegenüber der Polizei »Gewaltfreiheit« zu wahren. »Das Ziel der Aktion«, erklärt die wohl 30jährige Hannah Spiegel, »sind ganz klar die Gleise. Es geht uns nicht um eine Konfrontation mit der Polizei.« Angesichts der existentiellen Bedrohung, die vom strahlenden Atommüll ausgehe, betrachte man Gewaltanwendung zwar als legitim, sie solle sich aber nur gegen Sachen richten.
Ob die Presse mit den Aktivisten durch den Wald marschieren darf, um den Castor-Gegnern die gewünschten Bilder zu liefern, ist unter den Aktivisten durchaus umstritten, auf den Vorbereitungsplena wurde dies offenbar gegen große Bedenken durchgesetzt. Das Misstrauen gegenüber der »Mainstreampresse«, wie die Militanten alle Medien nennen, die ihre Sichtweise nicht eins zu eins übernehmen, sitzt tief. Viele befürchten, dass Journalisten Gesichtsaufnahmen von ihnen veröffentlichen könnten. »Kameramann, Aschloch!« bekommen die Pressevertreter daher häufig zu hören, während sich der Zug durch den Wald bewegt. Auch Tadzio Müller muss wegen seiner kooperativen Pressearbeit wüste Beschimpfungen über sich ergehen lassen, die er zähneknirschend wegsteckt: »Das ist doch alles hundertmal abgesprochen worden.«
Nach einer halben Stunde Fußmarsch stößt die Gruppe unmittelbar vor den Schienen auf den erste Polizeitrupp. Die Beamten wirken zunächst etwas überrumpelt, es gelingt ihnen aber schnell, die Protestierenden auf einen Waldweg abzudrängen. Tränengasschwaden ziehen durch den Wald, ein Aktivist wird festgenommen und weggeschleppt. So ganz wie geplant funktioniert die ausgeklügelte Taktik der Autonomen dann doch nicht, die verschiedenen »Schutzgruppen« versuchen, hinter Plastikplanen und Strohballen Stellung zu beziehen, doch die Polizei geht unmittelbar zum Angriff über. Sie attackiert die Gruppe mit Schlagstöcken und Pfefferspray aus Behältern, die wie kleine Feuerlöscher aussehen, doch als das Team der embedded journalists beginnt, die Szenen zu filmen, zieht sich der Polizeitrupp zurück. »Ihr da, weg da!« brüllt ein vermummter Polizist in Kampfmontur sichtlich verärgert.

Die Schutzgruppe der Autonomen nutzt die Gelegenheit, um sich auf dem Waldweg neu zu formieren, direkt daneben gehen Kamerateams in Stellung. Ein Journalist fragt einen Autonomen, wie er die Situation einschätze. »Äußerst kritisch!« ruft dieser gedämpft durch seine Sturmhaube. Schon im nächsten Moment hat eine Einsatzgruppe der Polizei die Gruppe mit Schlagstöcken und lautem Gebrüll auseinandergedroschen und einige Aktivisten die steile Böschung des Waldweges hinabgestoßen. Offenbar aus Rücksicht auf die zu erwartenden Pressebilder hat der Polizeitrupp diesmal auf den Einsatz von Pfefferspray verzichtet, doch der Versuch der Autonomen, an der Polizei vorbei auf die Schienen zu kommen, ist vorerst gescheitert.
Inzwischen ist ein Wasserwerfer aufgefahren, der »Finger« hat sich wieder weiter in den Wald zurückgezogen. Die autonomen Gruppen halten ein kurzes sogenanntes Delegiertenplenum ab. Die Journalisten stehen etwas ratlos daneben. »Wir haben beschlossen, uns erst einmal wieder tiefer in den Wald zurückzuziehen und uns mit den übrigen Fingern wieder zu sammeln«, erklärt ihnen Anna von der Interventionistischen Linken und schiebt ihre lila Schwimmbrille in die Stirn. Sie ist die »Kommunikationsperson« zwischen den basisdemokratischen Delegiertenplena und dem Presseteam, dass die Journalisten mit lauten »Presse, Presse«-Rufen und einem blau-grünen Fähnchen durch den Wald dirigiert. Tadzio Müller verkündet, dass eine »Gruppe von 1 090 Aktivisten von X-Tausendmalquer« aufgebrochen sei, um in Dannenberg die Gleise zu besetzen. Unter den Autonomen wird dies belustigt zur Kenntnis genommen. Für viele von ihnen ist die Kampagne »X-Tausendmalquer« der Inbegriff der Übersetzung deutschen Spießertums in zivilen Ungehorsam. »Vermutlich haben sie durchgezählt, bevor sie aufgebrochen sind«, witzelt eine Frau, die für eine kurze Zigarettenpause ihre Vermummung abgelegt hat.

Beim Treffpunkt liest Hannah Spiegel leicht besorgt eine Pressemeldung, die Tadzio Müller eben auf seinem Smartphone empfangen hat: Die Polizei hat gerade bekannt gegeben, dass sie ab jetzt nicht mehr für die Sicherheit der Journalisten im Wald garantieren könne. »Eure Anwesenheit bei uns gefällt der Polizei offenbar gar nicht«, teilt sie den Presseleuten mit. Angesichts dessen schlägt bei den Autonomen, die eben noch »Kameramann, Arschloch« riefen, die Haltung gegenüber der Presse schnell um. Aus dem Delegiertenplenum meldet Anna von der Interventionistischen Linken, dass die Journalisten gebeten werden, bei den Aktivisten zu bleiben. Die Pressevertreter nehmen die Meldungen gelassen auf. »Ich habe um eins eine Deadline, da muss ich meinen Text abschicken«, erklärt eine Journalistin nüchtern.
Beim zweiten Anlauf auf die Schienen geben sich die Autonomen entschlossen, die Fehler vom vorherigen Versuch nicht zu wiederholen. Die Gruppe »Schutz 1« läuft vorne weg. Mit ihrer Schaumstoffpolsterung und den Taucherbrillen sehen sie ein wenig aus wie die Borg aus »Raumschiff Enterprise«. Doch auch die Polizei zeigt sich diesmal besser vorbereitet. Eine Einsatzgruppe erwartet die Autonomen bereits am Waldweg vor den Schienen. Während sich die Polizisten auf den »Schutz 1« stürzen und diesen mit Tonfas und CS-Gas bearbeiten, versuchen die »Schotterer«, wie geplant am Handgemenge vorbei zu den Schienen vorzustoßen, dicht gefolgt von Tadzio Müller und Hannah Spiegel, die die Journalisten im Schlepptau haben. Doch die Schotterer und Pressevertreter werden von einer weiteren Hundertschaft behelmter, Tonfa-schwingender Polizisten erwartet. Zwei davon stürzen sich auf Müller und werfen ihn zu Boden. »Ruhig bleiben und geordnet zurückfallen«, mahnt Hannah Spiegel die aufgeregten Journalisten. Doch die Polizei will das nicht durchgehen lassen und beginnt, auch die Journalisten zurückzudrängen. »Presse! Presse!« ruft Tadzio Müller den verabredeten Rufnamen, mit dem das Presseteam die eingebetteten Journalisten zusammenhält, zwei Polizisten scheinen Anstoß an seinen Rufen zu nehmen, drängeln sich an einigen vermummten Autonomen vorbei und greifen ihn gezielt an. Durch einen Stoß fliegt er einige Meter durch den Wald, ein Polizist legt noch mit ein paar Tonfa-Schlägen nach, bevor sich ein Knäuel aus vermummten Aktivisten und Kameraleuten dazwischen schieben kann.

Erneut befindet sich der »Finger« auf dem Rückzug, diesmal auf einem spärlich bewaldeten Abhang. Die Polizei setzt nach, verstärkt durch Beamte zu Pferd. »Ich fordere Sie auf, die Arbeit der Polizei nicht zu behindern«, raunzt ein Polizist einen Journalisten an. Die Pressegruppe befindet sich nun ungewollt hinter der Linie der Polizei, die die Autonomen weiter den Hügel hinauftreibt, bevor sie sich nach wenigen Minuten wieder in Richtung Schienen zurückzieht. Doch die Polizei scheint ihr Ziel erreicht zu haben. Seit dem morgendlichen Aufbruch der Aktivisten sind mehr als vier Stunden vergangen, erste Anzeichen der Ermüdung machen sich breit, einige legen ihre Vermummung ab. »Langsam habe ich Hunger«, jammert einer. Wenig später befindet sich ein großer Teil des »Arms« auf dem Rückzug, die Sonne scheint, es ist warm geworden, viele freuen sich auf ein zweites Frühstück im Camp.
Aber Hannah Spiegel muss noch kritische Fragen der Journalisten beantworten. »Das Konzept ›Schottern‹ ist doch gescheitert«, sagt eine junge blonde Fernsehreporterin, »schließlich seid ihr nicht an die Schienen gekommen.« Das könne man so nicht sagen, sagt Spiegel. Schließlich sei der Castor-Transport noch nicht gekommen. »Noch gibt es genug Möglichkeiten zum Schottern.« Vor allem aber sei es gelungen, die Aktion gemäß »Aktionskonsens« durchzuführen. Bisher sei die Aktion am »unverhältnismäßigen Vorgehen der Polizei« gescheitert.

Doch zumindest innerhalb der Bewegung hat die Kampagne »Castor schottern« politische Erfolge zu verbuchen. Schon am Vortag auf der großen Auftaktkundgebung mit rund 50 000 Teilnehmern lässt sich unschwer feststellen, dass das »Schottern« weithin als legitime Aktionsform anerkannt wird. Während die Autonomen lange Zeit wegen ihrer Haltung zur Gewaltfrage auch innerhalb der Anti-Atom-Bewegung umstritten waren, hat die Kampagne »Castor schottern« mit ihrem Mittelweg zwischen »legitimer Gewalt« und »strategischem Gewaltverzicht« offenbar genau die Stimmung der Bewegung getroffen. Auch die prominentesten Figuren der diesjährigen Castor-Proteste haben sich demonstrativ zum »Schottern« bekannt. »Ich geh’ voll in die Schotterszene«, sagt Bela B. der Jungle World. Rocko Schamoni und er sind das erste Mal bei einem Castor-Transport im Wendland dabei. »Ich komme ja aus einer ähnlich strukturschwachen Gegend«, sagt der »Dorf­punks«-Autor Schamoni, »aber mit der Stimmung hier im Wendland kann man das gar nicht vergleichen. Das ist hundertprozentig das Gegenteil. Bei uns gibt es keine Tradition des Widerstandes, aber nullkommanull gar nicht.« Schamoni ist schon vor drei Monaten in einem autonomen Zentrum im Wendland aufgetreten, seitdem ist er ganz begeistert von der Region. Und Bela B. war schon »Trecker fahren«, wie der Musiker der »Ärzte« schwärmt, der heute mit seiner Akustik-Gitarre gegen den Castor protestiert.
Am Rande der Demonstration bekundet auch Jannek, ein Aktivist von X-Tausendmalquer, seine Unterstützung für die »Schotterer«. Jannek kommt aus Lüneburg, trägt Dreadlocks, studiert Sonderpädagogik und nimmt nur wegen einer Knieverletzung nicht am Schottern teil. Bettina ist mit ihrer fünfjährigen Tochter Malina gekommen und kann sich daher nicht am Schottern beteiligen, aber sie findet es ebenfalls legitim, den Transport zu sabotieren. Niemand hat hier grundsätzlich etwas gegen Sabotage an den Gleisen. Mit der Empörung über die Laufzeitverlängerung und dem gesteigerten Selbstbewusstsein, das sich der breiten Unterstützung in der Bevölkerung verdankt, ist auch die Akzeptanz für Aktionen gestiegen, die die Regierung als Straftat geahndet wissen will.

Es gehe darum, einige in den vergangenen Jahren »verlorene Positionen« über das, »was als Protestform möglich und legitim ist«, zu rehabilitieren, erklärt Hannah Spiegel auf einer Waldlichtung. Die Kampagne X-Tausendmalquer hatte den »gewaltfreiem zivilen Ungehorsam« eng definiert, aber immerhin durchsetzen können, dass Sitzblockaden auch in der breiteren Öffentlichkeit als legitimes Mittel des Protests galten. Andere, militantere Protestformen gelten vor diesem Hintergrund jedoch schnell als unverhältnismäßig – sowohl in der Anti-Atom-Bewegung als auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Kampagne »Castor schottern« will ausweiten, was als legitimer Widerstand anerkannt wird – unter anderem durch den von immer mehr Menschen unterzeichneten Aufruf zum »Schottern«, den die Regierung als Aufruf zu Straftaten verurteilt.
Dabei gehe es »auf keinen Fall darum, die eine Form von Protest gegen die andere auszuspielen«, sagt Spiegel. Dieses Jahr scheinen sich alle Pressestellen aus der Anti-Atom-Bewegung abgesprochen zu haben, sich nicht in »friedliche« und »militante« Atomkraftgegner spalten zu lassen. Die jungen Leute mit ihren Northface-Jacken brüllen zwar noch immer gerne »Kameramann, Arschloch« oder »All Cops Are Bastards«, aber auch sie haben wohl festgestellt, dass es sich nicht mehr recht lohnt, das Image der militanten Avantgarde zu pflegen, wenn man 80 Prozent der Bevölkerung auf seiner Seite weiß, die man mit militantem Gebaren nur verschreckt.
Sich mit Claudia Roth von den Grünen auf die Straße zu pflanzen, als wolle man dort Bio-Eier ausbrüten, wollen die jungen Aktivisten mit ihren Strohsäcken und Taucherbrillen dann aber doch nicht. Dass die Anti-Atom-Bewegung den Ruch des Rebellentums zurückerlangt hat, so dass auch Vertreter der Generation Punk mit Begeisterung an den Protesten teilnehmen, verdankt sich dieses Jahr der Schottern-Kampagne. Schottern bringt den Anti-Atom-Protesten ein bisschen Sex-Appeal. »Für die Linke gibt es bestimmte Pflichttermine, wo du denkst, oh Gott, ist das scheiße«, sagt Thorsten aus Siegen, der Anti-AKW-Buttons für einen Euro verkauft, »aber das hier, das ist einfach geil.«