Die Grünen bereiten sich aufs Regieren vor

Vom Widerstand ins Kanzleramt

Wie macht man sich als bürgerliche Protestpartei für das Regieren bereit? Die Grünen haben die Schwierigkeit gelöst.

»Das alles und noch viel mehr würd’ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär’.« Was vor etwa 25 Jahren in dem Song von Rio Reiser noch reine Phantasie war, ist für die Grünen dank der sich stabilisierenden Umfrageergebnisse kein Hirngespinst mehr. Seit wenigen Monaten besteht für die Partei die Möglichkeit, im Frühjahr in Baden-Württemberg und im Herbst in Berlin die Landtagswahlen zu gewinnen und zusammen mit einem kleineren Koalitionspartner eine Regierung zu bilden. »Wir spielen auf Sieg«, rief der mit großer Mehrheit wiedergewählte Parteivorsitzende Cem Özdemir zum Abschluss des Bundesparteitags in Freiburg den Delegierten zu. Wer sich solche ehrgeizigen Ziele setzt, muss aber auch seine programmatischen Aussagen noch einmal überprüfen.
Das Problem, sowohl den Willen zum Regieren als auch den zum Widerstand zu zeigen, mit dem die Partei im Fall von »Stuttgart 21« und dem Castor-Transport derzeit identifiziert wird, haben die 800 Delegierten im Rahmen ihrer Möglichkeiten gelöst. Die scheinbar wohlwollenden Beobachter von Stern, Zeit und Spiegel zeigen sich äußerst empört darüber, dass der zweiten Parteivorsitzenden Claudia Roth untersagt wurde, sich weiterhin für Olympia 2018 im Großraum München einzusetzen. Schmollend gab sie am Sonntag ihren Rückzug aus dem Kuratorium bekannt. In der Rhetorik des Widerstands gegen »Stuttgart 21« hatte zuvor der Kreisverband Garmisch-Partenkirchen für einen entsprechenden Antrag geworben: »Wenn ein Zug auf dem falschen Gleis unterwegs ist, muss ich auch mal die Notbremse ziehen können.« Wie sehr die Grünen mit diesem Beschluss einen anderen Teil des Bürgertums gegen sich aufbringen, zeigt auch die Reaktion von Guido Westerwelle (FDP). Die Grünen seien »einem gemeinsamen deutschen Anliegen in den Rücken gefallen«, schimpfte der Außenminister.
Aber auch bei einem anderen Thema setzten die Delegierten mehr durch, als die Parteiführung vorgesehen hatte. Die Beitragsbemessungsgrenze für die von den Grünen geforderte Bürgerversicherung soll nicht nur um einen symbolischen Betrag von wenigen hundert Euro heraufgesetzt werden, wie es die »Realos« verlangten, sondern von derzeit 3 750 auf 5 500 Euro erhöht werden. Zusätzlich sollen Beiträge zur Kranken­kasse auch auf Miet- und Kapitaleinnahmen erhoben werden. So ließen sich die Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenkassen, die vor allem die Armen belasten, wieder abschaffen und auch insgesamt die Beiträge senken. In den Niederlanden und der Schweiz ist dies bereits so geregelt, in Deutschland wäre es eine beachtliche Neuerung.
Sozialrevolutionäres darf man von der Partei freilich nicht erwarten. Zudem ist es ohnehin fraglich, was im Fall einer Regierungsbeteiligung im Bund von solchen Forderungen übrigbleiben würde. Aber mit den Grünen als führender Partei in einer Regierungskoalition scheint derzeit zumindest eines möglich zu sein: eine kleine Veränderung auf bürgerlicher Grundlage.