Über das Prinzip Wikileaks

Aufklärung und Konspiration

Die »Wikileaks-Affäre« hat gezeigt: Selbst in einer politisch desillusionierten Gesellschaft übt der Geheimnisverrat eine große Faszination aus. Über Geheimnisse, politische Macht und die Frage, wie viel Öffentlichkeit die Gesellschaft vertragen kann.

Dank Wikileaks wissen wir jetzt, wie amerikanische Diplomaten im Depeschenverkehr miteinander kommunizieren. Dieser Einblick in den institutionellen Jargon der politischen Elite einer Weltmacht ist für viele Uneingeweihte des weltpolitischen Betriebs vielleicht sogar aufschlussreicher als der jeweilige Inhalt der Depeschen selbst. Wie brisant diese nun wirklich sind, bleibt umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Öffentlichkeit derzeit gar kein vollständiges Bild von ihnen machen kann, da bisher nur ein kleiner Ausschnitt aus den Botschaftsdepeschen von Wikileaks und seinen Medienpartnern tatsächlich zugänglich gemacht worden ist. Ungeachtet dessen hat Wikileaks eine Debatte bisher ungekannter Intensität um Transparenz und Pressefreiheit ausgelöst, um die Frage, wie viel Öffentlichkeit Staat und Gesellschaft benötigen oder vertragen.
Das ist erstaunlich, auch angesichts der Tatsache, dass frühere Enthüllungen, beispielsweise über die fabrizierten Begründungen der US-Regierung für den Einmarsch in den Irak, ein deutlich größeres Ausmaß an Täuschung, Fehlinformationen und Vertuschung offenbarten. Sicherlich spielt in der Erregung der Medien die schillernde, enigmatische Figur von Julian Assange eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie auch die beinahe täglich weiterwuchernden Bizarrerien, die den Komplex Wikileaks umranken. Dieser stellt inzwischen jeden Hollywood-Thriller ebenso in den Schatten wie die paranoiden Plots postmoderner Prosa etwa eines Thomas Pynchon. Doch nüchtern betrachtet ist zunächst einmal festzustellen: In der Diskussion um Wikileaks geht es vor allem um die Form der Enthüllung, nicht um das Enthüllte selbst. Warum übt der Geheimnisverrat in unserer politisch desillusionierten Gesellschaft immer noch solch eine Faszination aus?

Geheimnisse galten und gelten als Basis und als zentrales Medium politischer Macht. Doch ihre Funktion hat sich im Laufe der vergangenen 250 Jahre entscheidend gewandelt. Bis ins 18. Jahrhundert operierten die absolutistischen Staaten und Fürstentümer mit den Mitteln der Arkanpo­litik. Das Geheimnis und die Beschränkung des Zugangs zu staatlichem Wissen auf den Herrscher und seine Beamten und Würdenträger waren die legitimen Instrumente ihrer Herrschaft, wie schon Amtstitel wie »Geheimer Rat« verdeutlichen. Doch mit der Aufklärung und der Entstehung einer lesekundigen und wissbegierigen bürgerlichen Öffentlichkeit gerieten diese Techniken der Regierung in die Kritik. Der Staatshisto­riker und Statistiker August Ludwig von Schlözer beispielsweise gab die Parole aus: »Es sterbe die Geheimnismacherei.« Konsequenterweise veröffentlichte er zwischen 1776 und 1793 in zwei von ihm herausgegebenen Zeitschriften (eine mit dem sprechenden Titel Staatsanzeigen) Akten der preußischen Verwaltung, die ihm von hohen Beamten zugespielt wurden – Wikileaks unter den Bedingungen des aufgeklärten Absolutismus. Fortan hatte staatliches Handeln »die Öffentlichkeit« zu adressieren und konnte sich nicht mehr auf die taktischen und strategischen Spiele in den geheimen Hinterzimmern der Macht beschränken.
Dennoch verschwand das Geheimnis damit keineswegs aus der politischen Sphäre. Die Dialektik von Aufklärung und Geheimnis, ihre wechselseitige Eskalation, führt zur Ausweitung sowohl der veröffentlichten wie der verschwie­genen Informationen. Denn Aufklärung und Geheimnis bilden nach einem Wort des Historikers Reinhart Koselleck ein »geschichtliches Zwillingspaar«. Das Zeitalter der Aufklärung war auch das Zeitalter der Geheimgesellschaften und verschwörerischen Freimaurerlogen, die mit klandestinen Mitteln die Vorherrschaft des Arkanen in Staat und Kirche bekämpften. Doch auch der Staat schuf sich in der Folge neue Zonen der Geheimhaltung, von vertraulich bis top secret, vom Militär bis zu den Geheimdiensten. In der Zeit des Kalten Kriegs, aber auch darüber hinaus, spielte sich der Kampf um Geheimnisse, der Tanz um Information und Desinformation weitgehend im Verborgenen als Spionage und Gegenspionage.

Das ändert sich jetzt mit Wikileaks. Information disclosure wird zu einer Art Volkssport. Prinzipiell geheim kann heute nur bleiben, was off the record ist, und zwar buchstäblich, also das, was keinen Eingang in schriftliche Depeschen oder elektronische Datenbanken findet oder sonstwie mitgeschnitten oder zu den Akten genommen wird. Dass Diplomatie, Geheimdienste und Politik nun, wie Umberto Eco in einem Artikel vermutete, als Reaktion auf Wikileaks den Weg der Regression einschlagen und wieder auf mündliche Boten und scheinbar verschwiegene Papierunikate setzen, erscheint naiv. Sicher ist jedoch, dass Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Fraglich bleibt bloß, wie weit der Sicherheitskordon gezogen wird, ob also die zumindest in den USA schon seit län­gerem zu beobachtende Inflationierung des Geheimen eingedämmt wird oder nicht. Denn zu viel Geheimhaltung ist nicht nur für die Bürger und ihren Anspruch auf Öffentlichkeit ein Problem, sondern lähmt auch eine effiziente Verwaltung. Oder wie der amerikanische Verfassungsrichter Potter Stewart bereits im Urteil über den Streit um die Pentagon Papers bemerkte: »Wenn alles als geheim eingestuft wird, dann ist nichts mehr geheim.«
Wikileaks gründet auf zwei Prinzipien. Zum einen geht es darum, die anonyme Veröffentlichung von Informationen so einfach und sicher wie möglich zu gestalten. Wikileaks hat einen toten Briefkasten für das Internetzeitalter geschaffen. Der Erfolg der Plattform beruht nicht unwesentlich darauf, dass durch eine sichere und zugäng­liche Gestaltung die Transaktionskosten für die anonyme Weitergabe vertraulicher Daten durch Informanten stark gesunken sind. Und zwar so weit, dass viele »Whistleblower« ihre Informationen inzwischen lieber bei Wikileaks deponieren, als damit zur etablierten Presse und ihren investigativen Journalisten zu gehen. Das legt jedenfalls die hohe Zahl an Dokumenten nahe, die Wikileaks nach eigenen Angaben täglich erhält. Oder wie der amerikanische Journalismusprofessor Jay Rosen kürzlich auf einem Podium des Personal Democracy Forum in New York urteilte: »Die Quellen stimmen mit ihren Leaks ab.« Für Rosen zeugt der Erfolg von Wikileaks deshalb auch von einer Krise des etablierten Investigativjournalismus: »Unsere investigative Presse ist tot, selbst ihre Illusion. Die Leute sehen in ihr nicht mehr die Kontrollinstanz von Macht, die sie zu sein behauptet.«
Das zweite Prinzp heißt: Die Daten werden (nach Prüfung ihrer Echtheit) vollständig veröffentlicht. Nur so werden die bisherigen Filterinstanzen der Presse und der Politik-PR anhand von Primärquellen überprüfbar. Dieses Ethos der Rohdaten steckt auch hinter der Open-Data-Bewegung, die darauf zielt, rechtliche und technische Zugangsbeschränkungen und Kontrollmechanismen für Regierungs- und Verwaltungsdaten zu beseitigen.
Beide Prinzipien gründen letztlich in der Struktur des Internet selbst: ein gigantischer Kopiermechanismus, der zudem bei Anwendung entsprechender Verschleierungstechniken und kryptographischer Verfahren hinreichende Anonymität gewährt. Sind Daten in der digitalen Sphäre erst einmal zugänglich gemacht, lassen sie sich nicht wieder aus ihr entfernen. Auch dies zeigt der Fall Wikileaks. Nachdem der Provider EveryDNS den Domainnamen wikileaks.org aus seinem Register gelöscht hatte und die Seite nur noch über ihre numerische IP-Adresse erreichbar war, bat Wikileaks seine Unterstützer, die Seite und ihre Inhalte auf ihren Servern zu spiegeln, um die Daten weiterhin verfügbar zu halten. Inzwischen gibt es über 2 000 solcher Mirrors.

Bei allem Lob der Transparenz: Mehr Information führt nicht notwendigerweise zu besser informierten Bürgern. Daten ergeben nur ein sinnvolles Bild, wenn sie geordnet, bewertet und in einen Kontext gestellt werden. Ebenso zahlreich wie die massenhaft veröffentlichten Quellen werden die Fehldeutungen, die unbedarften Spekulationen, die Verdrehungen sein. Doch wäre es falsch, dies als Argument gegen die Veröffentlichungen zu nutzen oder diese ausschließlich vermeintlich berufenen Journalisten und Analysten zu überlassen. Denn der Umkehrschluss bleibt in jedem Fall wahr: Weniger Information führt ohne Zweifel zu weniger informierten Bürgern.
Wikileaks predigt in seinen Verlautbarungen ein hehres Pathos der Transparenz. Korruption, Zensur und andere verborgenen Machenschaften sollen aufgedeckt werden. So könne die Welt ein besserer Ort werden. Dabei verstrickt sich auch Wikileaks in die wechselseitige Abhängigkeit von Aufklärung und Konspiration. Die Undurchschaubarkeit der Organisation und der klandestine Hacker-Elitismus von Julian Assange konterkarieren das Mantra der Transparenz. Wer überall geheime Wahrheiten enthüllen möchte, verliert sich leicht im Dschungel des Verschwörerischen. »Verschwörung als Regierungsform« lautet denn auch nicht zufällig der Titel eines programmatischen Textes von Assange, in dem er Regierungen als Kommunikationsnetzwerke von Verschwörungen beschreibt. Assange zielt mit seiner Enthüllungsplattform nicht zuletzt darauf, die Kommunikationslinien der Regierung empfindlich zu stören. Wikileaks wurde deshalb zurecht auch als anarchistischer Angriff auf das diplomatische Prinzip der Diskretion überhaupt gewertet.

Solches Verschwörungsdenken generiert immer neue Verschwörungszusammenhänge. Und zwar umso mehr, je mehr Verschwörungen aufgedeckt werden. Das ist die paranoide Struktur des Verschwörungstheoretikers: hinter jeder Verschwörung eine weitere Verschwörung zu wittern. Gibt es einen Ausweg aus diesem Zirkel der Konspira­tion? Daniel Domscheit-Berg und Herbert Snorrason, beides ehemalige Mitstreiter von Assange, die vor einigen Monaten das Projekt Wikileaks im Streit verlassen haben, starten dieser Tage eine alternative Whistleblower-Plattform unter dem Titel Openleaks, die sich auch in ihrer eigenen Organisationsstruktur dem Prinzip der Transparenz verpflichten will. Openleaks soll im Unterschied zu Wikileaks nicht als Konkurrenz zur Presse agieren und eigenständig Dokumente veröffentlichen, sondern als Dienstleister bloß die Infrastruktur eines technisch hochgesicherten toten Briefkastens für Partner, zum Beispiel Medien oder Menschenrechtsorganisationen, bereitstellen. In diesen Briefkasten, wie Snorrason im Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte, »kann jeder brisante Dokumente werfen und selbst bestimmen, wer die Papiere bekommen soll«.
Wie auch immer es um die Zukunft von Wikileaks bestellt ist: Das Prinzip Wikileaks ist in der Welt und wird sich aus ihr genauso wenig entfernen lassen wie die Botschaftsberichte aus dem Internet. Die Spielräume des Geheimen werden kleiner.