Die neuen Konfrontationslinien im Nahen Osten

Die Revolution lässt sich nicht enteignen

Eine »islamische Revolution« in der arabischen Welt wünscht sich der religiöse Führer Ali Khamenei. Doch es sind die Machthaber im Iran und in Syrien, aber auch ihre Verbündeten Hizbollah und Hamas, die eine Ausbreitung der Demokratiebewegung in ihrem Herrschaftsbereich fürchten müssen.

So überraschend und turbulent die Welt des Nahen Osten sich seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali präsentiert, für einen Moment schien alles wieder so wie früher. Scheinbar unendliche, dichtgedrängte Reihen von Gläubigen, die stumm vor ihrem großen Führer hockten und den alten Mann mit dem Turban wie hypnotisiert fixierten. Nachher gab es noch ein bisschen Unterhaltung, auf der Straße durften Bilder angezündet werden, natürlich solche vom ägyp­tischen Präsidenten Hosni Mubarak, eine Reihe Porträts von Potentaten der Golfmonarchien verkohlten aber gleich mit.
Der religiöse Führer Ali Khamenei hatte den Sermon beim Teheraner Gebet am Freitag vergangener Woche wieder einmal persönlich übernommen. In diesem Augenblick, so erläuterte er, erscheine in der islamischen Welt ein großartiges und glorreiches Phänomen. Nach über 30 Jahren habe die »islamische Revolution« nun in Tunesien und in Ägypten endlich ihre Fortsetzung gefunden, und andere Länder würden folgen. Zum Schluss erinnerte Khamenei noch daran, dass keine Nation in der Region ihr Schicksal von dem Palästinas abtrennen könne. Hätte er es nicht erwähnt, man hätte es wohl vergessen.
Die Botschaft des Teheraner Freitagsgebets geisterte ein wenig beziehungslos durch die Berichterstattung vom Tahrir-Platz in Kairo, wo zur gleichen Zeit Abertausende von Ägyptern unermüdlich den Rücktritt Mubaraks und demokratische Reformen forderten. Diese Menschen schienen sich seltsamerweise gar nicht bewusst zu sein, dass sie gerade eine »islamische Revolution« einleite, obwohl das nicht nur das iranische Staatsoberhaupt Khamenei, sondern auch eine Reihe mahnender westlicher Kommentatoren so sieht.

Für die Worte Khameneis interessierte sich vor allem die ägyptische Muslimbruderschaft, die umgehend eine Erklärung auf ihrer englischsprachigen Homepage veröffentliche, um sich von dessen Interpretation der Ereignisse zu distanzieren. Die Muslimbruderschaft berief sich zudem auf eine Erklärung der iranischen Volksmujahedin, die von einem »verzweifelten Versuch« Khameneis sprach, »Fundamentalismus und Terrorismus zu unterstützen«. Etwas Beleidigenderes, als sich ausgerechnet auf die Volksmujahedin zu berufen, die für das iranische Regime das Teuflische an sich inkarnieren, hätten die Muslimbrüder gegenüber ihren Islamistenkollegen kaum äußern können. Auch die Geistlichkeit der Universität al-Azhar, die als höchste Autorität des sunnitischen Islam gilt, verwahrte sich gegen die Einmischung des Iran und belehrte die schiitischen Kollegen, dass ihre Politik im Widerspruch zum Koran stehe. Mit der Fortführung der »islamischen Revolution« von 1979 scheint es nicht weit her zu sein.
Khameneis Freitagspredigt stellte nur den vorläufigen Höhepunkt einer iranischen Propagan­dakampagne dar, deren einziges Ziel darin besteht, die irritierenden Vorgänge in der arabischen Welt möglichst schnell ideologisch zu vereinnahmen. Immerhin war man schneller als die Repräsentanten der »grünen« Opposition, Mir-Hossein Mousavi und Mehdi Karroubi, die sich nach langem Schweigen zu Wort meldeten, um die Proteste in Ägypten nur sehr durchsichtig verhüllt als Analogie zu den Zuständen im Iran zu begrüßen. Mousavi zog dabei eine direkte Linie zwischen den Protesten im Iran nach den Wahlen vom Sommer 2009 und denen in Tunesien, im Jemen und in Ägypten: »Sie begannen mit der Frage ›Where is my vote‹ im Iran und gingen dort weiter mit den Rufen nach dem Sturz der Regierung.« Mousavi schloss mit der Aussicht, es werde »große Ereignisse« in der Region geben, mit Auswirkungen auf die ganze Welt. Auch der ehemalige Präsident Ha­shemi Rafsanjani warnte, dass die Bevölkerung nicht nur in Tunesien und Ägypten »schlechte Eliten« verurteile und Demokratie wolle.

Obwohl die öffentlichen Proteste im Iran seit einem Jahr erstickt sind und Subventionskürzungen wie wirtschaftlicher Niedergang von der Bevölkerung bisher ertragen wurden, fürchten die iranischen Machthaber »große Ereignisse«. Sie ließen immer mehr Nachrichtenseiten im Netz sperren, ein regimetreuer Großayatollah warnte gar präventiv vor säkularen Agenten, die die »islamische Revolution« in Tunesien und Ägypten unterwandern würden. Vor allem aber begann man mit einer Welle von Hinrichtungen, deren Ziel deutlich war. Neben Kurden fielen vor allem festgenommene Demonstranten den Exekutionskommandos zum Opfer. Das prominenteste Beispiel war die Hinrichtung Zahra Bahramis, die einen holländischen Pass besaß. Hier sollte gezeigt werden, dass auch eine westliche Staatsangehörigkeit nicht schützt. Viele mehr oder minder prominente Oppositionelle wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, an den Universitäten finden ideologische »Säuberungen« statt.
Das schon sehr postrevolutionäre iranische Establishment ist nach wie vor durch interne Machtkämpfe gelähmt, während Präsident Mahmoud Ahmadinejad und die Revolutionsgardisten zunehmend wie Protagonisten einer nationalistischen Militärdiktatur erscheinen. Sie sind Getriebene, auch in der Außenpolitik. Scheinbar fallen dem iranischen Regime und seinen Verbündeten derzeit ungeahnte Siege zu, doch wissen sie mit ihnen nichts mehr anzufangen.
So ist die Hizbollah als regierungsbildende Kraft im Libanon auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt. Sie hat damit allerdings eine Rolle übernommen, die ihr keine Vorteile mehr bringt. Denn die Politik der Achse Teheran–Damaskus beruht auf dem Prinzip der Obstruktion und der politischen Erpressungen. Die nur kurzen Proteste nach dem Fall der Regierung Saad Hariris und die derzeitige verblüffende Ruhe im Libanon sind eher ein unheilvolles Zeichen für die Hizbollah. Sie muss sich nun als Ordnungsmacht und Stabilitätsgarant beweisen – aber wie sollte sie das? Und wer könnte das finanzieren? Der von Sanktionen gebeutelte Iran hat wachsende Probleme, seine Verbündeten zu bezahlen.
Die vom Westen gestützten Regimes fallen oder werden bedrängt, aber je stärker die Forderungen der Demonstranten nach Freiheit und demokratischen Reformen werden, desto unangenehmer wird für die Machthaber im Iran und in Syrien, in Gaza-Stadt und in Südbeirut die Frage, welche Auswirkungen die Proteste auf ihre eigene Herrschaft haben werden. Diese Herrschaft folgt dem alten Muster des Propagandapathos, des Führerkults und der institutionellen Korruption, ihr Stabilitätsgarant sind Geheimdienste und Gefängnisse. Aber Facebook, Twitter oder die »Globalisierung« sind nur Synonyme für eine Welt, in der sich die Bedüfnisse der Menschen grundlegend wandeln.
Die ökonomische und soziale Lage in Syrien ist kaum anders als in Ägypten. Der syrische Präsident Bashar al-Assad gab Ende Januar ausgerechnet dem Wall Street Journal ein Interview, in dem er die »Stagnation« beklagte und eine Demokratisierung anmahnte. Assad erbte die Macht von seinem Vater Hafez, er ist wesentlich jünger als die Gerontokraten Arabiens. Immerhin hatte er nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 zaghafte Reformen unternommen. Doch an der Essenz der ba’athistischen Herrschaftspraxis kann er nicht rühren, ohne die Macht zu verlieren. Deshalb will er sich Zeit nehmen: »Reformen können mit ein paar Dekreten beginnen, aber die wahre Reform handelt davon, wie man die Gesellschaft öffnet und wie man einen Dialog startet.« Man müsse auf die nächste Generation warten, damit diese Reform kommen könne.
So lange wird weitergefoltert, seltsam berührt es aber schon, dass ausgerechnet das ehemalige antiimperialistische Musterland Syrien mit einem Präsidenten aufwartet, der sich stellenweise anhört, als hätte er ein Demokratisierungskonzept der EU auswendig gelernt. Auch das ist der neue Nahe Osten. Dass Assad die Mahnwache vor der ägyptischen Botschaft in Damaskus sofort räumen ließ, nachdem eine Frau dort ein Friedenslied angestimmt hatte, spricht allerdings nicht für Dialogbereitschaft.
Die für das erste Februarwochenende auf Facebook angekündigte »syrische Revolution« fand bislang nur virtuell statt. Die Opposition ist zerstritten und folgt traditionellen Mustern, es fehlen die kleinen gesellschaftlichen Freiräume, die es in Tunesien oder Ägypten gibt. Facebook zum Beispiel ist offiziell in Syrien gesperrt. Überdies haben Protestierende noch größere Brutalität zu befürchten, Hafez al-Assad ließ 1982 bei einem Aufstand der Muslimbrüder in Hama ein Massaker anrichten, dem etwa 30 000 Menschen zum Opfer fielen.

Noch erscheint Syrien ruhig, daher fühlen sich in dem angeblich säkularen Land, das zugleich engster Verbündeter des Iran und der Hizbollah ist, auch Terrororganisationen weiterhin wohlbehütet. Welche Widersprüche könnte erst ein »Tag des Zorns« in Damaskus offenbaren, denn dann ständen wohl importierte Schläger der Hizbollah gegen demonstrierende Muslimbrüder. Wer weiß, wie wie viel Sympathie die Bevölkerung tatsächlich für die Hamas hegt, die so eng mit dem Regime verbündet ist und in Syrien ein Hauptquartier unterhält?
Hier hat sich ein Konfliktpotential aufgebaut, jenseits des Suez-Kanals könnte der Kampf zwischen den Iranern und den Saudis offen ausgetragen werden, und mit der Hamas und der Hizbollah stehen von den Iranern hochgerüstete lokale Organisationen bereit, die von einem Wandel in der arabischen Welt nichts zu erwarten haben. Wenn nun allerdings in Tunis unter Reanimierung der Slogans der französischen Revolu­tion für Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus demonstriert wird, stellt das die desaströsen Verhältnisse dieses alten Nahen Ostens in Frage. Die islamistische Realpolitik zwischen dem iranischen Regime, der Hamas, der Hizbollah und dem saudischen Königshaus kann nur widersprüchlicher werden. In der Vergangenheit begann man einfach einen Stellvertreterkrieg, im ­Libanon oder an einer Grenze zu Israel. Aber dort ist es jetzt erstaunlich ruhig.
Keine Nation in der Region könne ihr Schicksal von dem Palästinas abtrennen, sagte Ali Khamenei bei seiner Freitagspredigt. Womöglich geht es doch. Vielleicht schaffen es die Palästinenser dann auch, sich von den Herrschern in Saudi-Arabien, dem Iran und Syrien endlich unabhängig zu machen. Im neuen Nahen Osten entstehen jedenfalls neue Konfrontationslinien. Mousavi und Karroubi haben zu einer Solidaritätsdemonstration für Tunesien und Ägypten aufgerufen, es dürfte dafür kaum eine Genehmigung geben. Aber eine solche Erlaubnis haben auch Ben Ali und Hosni Mubarak nie erteilt. Der Weg von Tunis nach Teheran mag noch weit sein, unerreichbar ist die Freiheit nicht.