Über den deutschen Geschichtsrevisionismus

Viele kleine Schindlers

Dresden gleich Guernica, Gulag gleich Konzentrationslager, Herta Müller gleich Paul Celan: Dank der geschichtlichen Gleichmacherei, die es heute erlaubt, deutsches Leid in den schönsten Farben zu malen, werden solche Gleichungen bald in ganz Europa verbreitet sein und auch die letzten Reste jenes Geschichtsbildes aus dem Weg räumen, in dem die Deutschen die Täter waren.

Ein Film wie Claude Lanzmanns »Shoah« kann heute nicht mehr gedreht, Bücher wie die Primo Levis oder Elie Wiesels können kaum noch geschrieben, Zeugnis aus erster Hand kann nur noch vereinzelt gegeben werden. Die zur Zeit des Holocaust bereits erwachsenen Zeitzeugen sind heute fast alle gestorben; wer ihn als Kind erlebte und noch über bewusste Erinnerungen verfügt, ist über 70 Jahre alt. Die Geschichtsauffassung der heutigen Tage verändert sich: die letzten Zeitzeugen sterben, wir erleben den Übergang von der Zeitgeschichte zur Geschichte.
Als könne man das Ableben der letzten Überlebenden kaum abwarten, macht man sich in Deutschland (und auch anderswo) daran, diesen Augenblick zur Geburtsstunde eines neuen nationalen Narrativs zu machen. Selbiges erlaubt bereits jetzt, ein neues Kapitel der Geschichte aufzuschlagen, mit den mächtigen Nationen dieser Welt ein von Understatement getragenes shake-hands zu vollführen und, als wäre nie etwas gewesen, aus lichter Höhe auf alles herabzublicken, was nicht den Standards der westlichen Zivilisation genügt. Nachdem der viel zitierte Zivilisationsbruch zu einem »schmerzhaften Riss in der Geschichte« verharmlost und laut allgemeiner Diagnose nunmehr gänzlich ausgeheilt ist, ist man plötzlich zu wahrem Eifer erwacht, wenn es darum geht, die Zivilisation allerorten zu schützen; definiert wird sie freilich noch immer in denselben Staaten wie immer.
An dieser Transformation sind vor allem drei Diskurse beteiligt: Der Sport, das »Fernseh-Event« und, wider Willen, die universitäre Holocaust-Forschung. Der Sport sagt: Wir haben uns verändert; das »Fernseh-Event« macht deutlich: Wir haben gelitten; und die Holocaust-Forschung (in Gestalt der neuen Täterforschung) hat festgestellt: Alle haben mitgemacht. Auf den ersten Blick vertragen sich diese Diskurse alles andere als gut, beschäftigt sich der letzte Diskurs doch allzu neugierig gerade mit der Stelle, welche die ersten beiden verdeckt halten wollen. Dem zweiten Blick erschließt sich das Problem jedoch deutlich anders.
Sport ist in Deutschland vor allem ein Oberbegriff für alle Disziplinen, in denen Deutsche zur Weltspitze gehören, also Fußball, Boxen, Tennis und Autorennfahren. Henry Maske hat seine Boxer-Karriere beendet, die Gebrüder Klitschko sind irgendwie keine richtigen Deutschen, sondern eher Ukrainer, Boris Becker und Michael Stich schon lange anderweitig beschäftigt und Michael Schumachers Comeback verläuft nach wie vor eher schleppend – Sport ist also vor allem ein anderes Wort für Fußball. Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 ist Deutschland nicht mehr das Land, welches einst den Meister Tod so großzügig beherbergte, sondern vor allem »Weltmeister der Herzen«. Seitdem darf (eine entsprechende Leistung der Nationalmannschaft vorausgesetzt) auch im Berliner Albert-Speer-Stadion wieder kräftig die Nation bejubelt werden. Was seit der WM 2006 allgemeine Gültigkeit besitzt, ist ein Deutschlandbild, in dem die Deutschen vor allem als die netten Menschen von nebenan erscheinen, die sich friedlich auf sogenannten Fanmeilen treffen, ihrer Mannschaft zujubeln, im Zweifelsfall jedoch auch gute Verlierer sind. Dieses Deutschlandbild wird mittlerweile gar von jenen geteilt, die es eigentlich besser wissen sollten. So hatte etwa auch in Berlin-Kreuzberg jedes zweite Kind eine Deutschlandlandfahne an seinem Fahrrad angebracht, und in Neukölln stritten türkische und arabische Bewohner eines Mietshauses jüngst für ihr Recht, eine riesige Deutschlandfahne über die gesamte Fassade des Hauses hängen zu dürfen. Die WM 2010 setzte diese Erfolgsgeschichte fort. Wegen des vorzeitigen Ausscheidens von Michael Ballack fehlte auch die heroische Komponente nicht, während die deutsche Elf sich so jugendlich wie multikulturell präsentierte und hierfür nicht zuletzt aus dem Ausland viel Lob erhielt. Der Spiegel stellte gleich klar: Nachdem »wir« bereits die »Weltmeister der Herzen« gewesen sind, seien »wir« diesmal die »Sympathie-Weltmeister«, sogar jeder dritte Israeli gönne »uns« den Endspielsieg und die Deutschen seien in Russland nunmehr die Lieblingsausländer, inklusive Panzern und Blitzkrieg, die ungeachtet der jüngeren Geschichte zu schlagenden Metaphern der russischen Sportberichterstattung wurden (1). Lena Meyer-Landruts Sieg beim Schlagerwettbewerb Grand Prix de Eurovision war hierzu wie der Punkt auf dem i.
Da wird dem so beglückten wie erstaunten Publikum mit aller Medienmacht die Schlussfolgerung aufgedrängt: Wenn uns gar die früheren Todfeinde und Volksschädlinge heute groovy finden, seien wir doch wahrlich schlecht beraten, uns weiterhin von jenem so überflüssigen Masochismus auffressen zu lassen, der bislang noch immer als Spaßbremse fungierte und das deutsche Nationalgefühl nie so recht in Fahrt kommen lassen wollte. War es vor 20 Jahren noch möglich, zumindest einige Mitmenschen durch ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« zu provozieren, ist solches heute kaum noch möglich, weil dieser Stolz schlicht zum Understatement gehört (»eigentlich finde ich Fußball langweilig, aber wenn Deutschland spielt … «). Wo sich die Bevölkerung geläutert wähnt und – um allen ihre Besserung zu beweisen – das Ausland um Bestätigung anruft, steht wesentlich mehr auf dem Spiel als die Rückkehr zum verlorenen Nationalgefühl. Mittlerweile taucht sogar die Forderung auf, angesichts der allgemeinen Entspannung der Fronten müsse es doch möglich sein, »neue Fragen an die Geschichte« zu richten und sich dabei nicht von so etwas Anachronistischem wie (falsch verstandener) Scham leiten zu lassen.
An dieser Stelle schließt ein zweiter diskursiver Strang an den ersten an. Bei einem Blick auf das Kinoprogramm der letzten Monate stößt man auf zwei Filme, die sich des Themas Nationalsozialismus explizit annehmen und es auf bedenkliche Weise behandeln. So erzählt der Film »Jud Süss – Film ohne Gewissen« die Geschichte des Schauspielers Ferdinand Marian, der von Goebbels den Auftrag erhielt, in dem bekannten Nazipropagandafilm die Hauptrolle zu spielen. Der wenig später entstandene Film »Habermann« zeigt die fiktive Geschichte eines Sudetendeutschen, der mit dem Einzug der Deutschen zwischen den Ansprüchen der Nationalsozialisten und der Tschechen aufgerieben wird. Das Interessante ist hier: Die Protagonisten beider Filme sind (im Falle von »Jud Süss – Film ohne Gewissen« ist dies übrigens blanke Geschichtsfälschung) jeweils mit einer – wie es auf den einschlägigen Websites heißt – »Halbjüdin« verheiratet. Das ist besonders interessant, nährt es doch Mythen, von denen man bislang glauben konnte, wenigstens sie seien widerlegt. So waren die Deutschen offenbar Menschen, die in einem guten Verhältnis zu ihren jüdischen Mitbürgern standen, ihnen einen Platz in ihrer Mitte einräumten, ja sie nicht selten sogar liebten. Von einem bösen, verführerischen Regime wurden sie anschließend gezwungen, die ihnen so liebgewordenen jüdischen Mitbürger auszugrenzen und ohnmächtig zuzusehen, wie sie in Konzentrationslager deportiert und dort grausam ermordet wurden. Die Judenvernichtung, so die Moral von der Geschicht’, war für die Deutschen eine Art Trauma, mussten sie doch miterleben, wie ihnen liebe Menschen entrissen wurden, ohne auch nur um sie trauern zu dürfen, weil man die Trauernden sonst zu »Judenfreunden« erklärt und ebenfalls umgebracht hätte.
Doch hier ist eine wesentliche Einschränkung zu machen, da die genannten Filme nicht eigentlich von den Juden sprechen. Nicht nur wird der Begriff »Halbjüdin« verwendet, als handle es sich bei ihm auch heute noch um eine aussagekräftige Beschreibung von Menschen und nicht um einen Terminus der in den Nürnberger Gesetzen juristisch festgelegten Rassenlehre der Nazis. Vor allem stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum die Figur der säkularen Frau mit einem jüdischen Elternteil gewählt wird. Vielleicht soll dies als Verstärker wirken: So wahnsinnig waren die Nazis; sie deportierten sogar Menschen, die eigentlich Deutsche waren und mit dem Judentum eigentlich gar nichts zu tun hatten, außer dem Unglück z.B., einen jüdischen Vater gehabt zu haben. Die Frage ist, was dabei herauskommt, wenn man über diesen dramaturgischen Verstärker ein wenig nachdenkt, suggeriert er doch implizit, bei der »Halbjüdin« sei das Regime nun doch zu weit gegangen, wohingegen die Ermordung des jüdischen Intellektuellen oder Bankiers (um zwei Klischees zu bemühen) immerhin logisch gewesen sei. Warum diese Abgrenzung vom Judentum, dieses seltsame Bemühen um Distanz und so offensichtliche Pochen auf das Deutschtum der inszenierten »Halbjüdinnen«? All das soll wohl den Verdacht nähren, mit den »Volljuden« sei vielleicht wirklich etwas nicht in Ordnung gewesen. Vielleicht verbirgt sich dahinter das Wissen, mit »dem Juden« auch heute noch in Deutschland eine Figur zu bemühen, die dem Erfolg eines Films abträglich sein könnte. So sind der aktuellen Heitmeyer-Studie zufolge 16 Prozent der deutschen Bevölkerung der Meinung, Juden hätten »zu viel Einfluss in Deutschland«, und zehn Prozent meinen, Juden seien an ihrer Verfolgung selbst schuldig. Rechnet man den Antisemitismus hinzu, der aus Aussagen spricht, mit denen die Befragten ihre Abneigung gegen Juden erklären wollen, wie etwa: »Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser«, erreichen die Zustimmungswerte 35 bis 50 Prozent (2). Mit einem »richtigen Juden« ist in Deutschland also noch immer keine Kasse zu machen, hält sich das Bedauern, das man für sein Schicksal empfindet – und infolgedessen das Identifikationspotential des Films –, doch in engen Grenzen. Die von beiden Filmen etablierte Figur der »Halbjüdin« löst dieses Problem sehr elegant, indem eine Form der distanzierten Nähe etabliert wird, die es auch dem Antisemiten erlaubt, sich als Humanist und Gegner der Nazis zu verstehen. Denn auch wenn »wir« gezwungen waren, Propagandafilme zu drehen: Eigentlich waren »wir« alle im Widerstand.
Seinen Anfang als Medienphänomen nahm dieser Diskurs mit dem, was heute als »Eventmovie« oder »TV-Event« bezeichnet wird, doch hat er mittlerweile auch seinen Platz im populärwissenschaftlichen Fernsehjournalismus gefunden und sich von dort in die Regale der Abteilung »Nationalsozialismus« bei Thalia und Co. vorgearbeitet. Den Beginn machte der Fernsehfilm. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, lassen sich vor allem vier Filme anführen. So wurde den deutschen Fernsehzuschauern im Jahr der Fußballweltmeisterschaft, 2006, im Film »Dresden« noch einmal das »Flammeninferno« (3) der alliierten Bombenangriffe vor Augen geführt. In »Die Flucht« (2007) und »Die Gustloff« (2008) wurde an die deutschen Flüchtlingstrecks gemahnt, die sich vor den »plündernd und vergewaltigend« (4) in Ostdeutschland einmarschierenden Rotarmisten in Sicherheit zu bringen versuchten, und 2009 wurde in »Krupp – eine deutsche Familie« die Geschichte des bemitleidenswerten Alfried Krupp in den Mittelpunkt gerückt, der sich »von der Wucht des Kruppschen Vermächtnisses schier erdrückt« (5) fühlte. Die Filme wurden sämtlich von ARD und ZDF ausgestrahlt und erreichten Einschaltquoten von mindestens gut sieben bis hin zu fast 13 Millionen Zuschauern (6). Damit konnten sie sogar der Show »Wetten, dass…?« und der Krimireihe »Tatort« Konkurrenz machen, was in Deutschland schon was heißen will.
Dass diese Filme sämtlich historisch unscharf oder geschichtsrevisionistisch sind, ist allenthalben bekannt und kann einschlägigen Rezensionen entnommen werden. Das ist ungefähr genauso bemerkenswert wie der Umstand, dass die so schönen bunten »Historienromane«, die in der Buchhandlung der nächsten Einkaufspassage ausliegen, es mit der Geschichte nicht ganz so genau nehmen. Bemerkenswert jedoch ist die Existenz dieser Filme an sich, ihr geballtes Auftreten und die große Aufmerksamkeit, die sie erheischen. Dass die Alliierten nicht gerade zimperlich vorgingen, die Bereitschaft der Sowjets, Opfer in der Zivilbevölkerung zu vermeiden, eher moderat ausfiel, und auch deutsche Industriellendynastien ins Visier der Kriegsverbrecherprozesse gerieten, kann angesichts der Geschichte niemanden verwundern. Damit entsteht ein komplexes Problem im Umgang mit Trauer. Wer als fünfjähriges Kind mitansehen musste, wie die Eltern von russischen Soldaten erschossen wurden, dem ist in seinem Schmerz nicht durch den Verweis geholfen, höchstwahrscheinlich hätten seine Eltern wie die meisten Deutschen das Naziregime unterstützt und seien deswegen selbst an ihrem Schicksal schuld gewesen. Die individuelle Trauer ist an dieser Stelle durchaus berechtigt, und das resultierende Trauma ist in seiner Ernsthaftigkeit zu akzeptieren. Die Frage der Trauer verändert sich jedoch grundlegend, sobald sich der Diskurs vom Individuellen in die Öffentlichkeit verschiebt. Wenn in mit Millionenaufwand produzierten Filmen um die Opfer von Dresden und der Flüchtlingstrecks getrauert wird, gilt die Trauer nicht länger konkreten Personen, sondern einem Kollektiv, in diesem Fall der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Kriegsendes. Dieses Kollektiv öffentlich zu betrauern, ist mittlerweile kein Zeichen einer mindestens nationalkonservativ zu nennenden – und damit eher randständigen – politischen Überzeugung. Spätestens mit den genannten Filmen ist diese Trauer integraler Bestandteil des Diskurses der politischen Mitte und seine Legitimation außer Frage. Wissenschaftssendungen wie »Planet Wissen« entdecken das Thema für sich und verwandeln, was eben noch »Die Flucht« war, in den Tatbestand der »Vertreibung« (7). Bücher mit Titeln wie »Als der Osten noch Heimat war« oder »Damals in Ostpreußen: Der Untergang einer deutschen Provinz« (8) finden sich heute direkt neben der Abteilung »Nationalsozialismus«, teilweise werden die Themen »Holocaust« und »Flucht der Deutschen« der Einfachheit halber auch gleich in einem Buch abgehandelt.
In diesem Diskurs verwandeln der Krieg und der Holocaust ihre Erscheinung. Die Vernichtung der europäischen Juden, so soll uns weisgemacht werden, sei nicht zuletzt von den Deutschen selbst durchlitten worden. Sie weicht als eigentliches Drama des Zweiten Weltkriegs hinter die Geschichte der Schlachtfelder, der Bombardements und der »Vertreibung« zurück – eine Geschichte, die alle zu erdulden hatten und in der die deutsche Bevölkerung nicht weniger von Leid betroffen war als die anderer Staaten.
Mit dieser Darstellung gehen zwei weitere Dinge einher: Zum einen verwandelt sich der Zweite Weltkrieg von einem Geschehen, das von langer Hand geplant und von der Bevölkerung unterstützt worden ist, in eine »Katastrophe«, die erscheint wie ein von außen hereinbrechendes Ereignis. Zum anderen wird gerade dadurch die in der Forschung längst überholte These aus der Versenkung geholt, die Deutschen hätten bis auf wenige Ausnahmen unter Hitler größtenteils gelitten und seien zu ihren Taten gezwungen oder verführt worden. »Wir waren alle in keinem Krieg, aber für die Russen waren wir als Deutsche schuld an Hitlers Verbrechen« (9), wie es in Herta Müllers Roman »Atemschaukel« heißt. Der Holocaust droht in einem solchen Geschichtsbild zu einem bedauerlichen Unfall verharmlost zu werden, bedauerlich nicht zuletzt, weil er die Wut der Alliierten steigerte und die Repressionen gegen die bereits leidenden Deutschen noch erhöhte, die doch den Holocaust selber nicht gewollt hatten und als kleine und große Schindlers nicht selten sogar Juden versteckten.
Interessant ist dabei, wie weit sich dieser öffentliche Diskurs mittlerweile vom akademischen entfernt hat. Von den Mitscherlichs über Raul Hilberg und Hannah Arendt bis hin zu den stärker auf das individuelle Subjekt fokussierten Forschungen, wie sie von Christopher Browning und Daniel Goldhagen initiiert wurden, um schließlich in der aktuellen Täterforschung zu münden, herrscht ein Konsens, so verschieden die betreffenden Thesen auch sind: Die Deutschen waren sich bewusst, was um sie herum passierte, und begegneten dem Geschehen mit einem Verhalten, das in den meisten Fällen zwischen aus Zustimmung gespeister Passivität und aktiver Beteiligung schwankte, jedoch nur äußerst selten von Missbilligung oder gar Widerstand getragen war.
Der populäre Diskurs über den Zweiten Weltkrieg (und in seinem Schatten der Diskurs über den Holocaust und die Schuld der Deutschen) ist mehr und mehr bestrebt, durch die Betonung deutschen Leidens deutlich zu machen, dass die Deutschen in und nach dem Krieg mehr als genug gelitten und es daher nicht verdient hätten, obendrein auch noch mit Fragen nach der Schuld oder nach der Shoah belästigt zu werden. Dresden gegen Auschwitz, die »Flucht« gegen die Todesmärsche – wer wagt es, den ersten Stein zu werfen? Dies wird in den einleitenden Sätzen auf der Webseite zur Fernsehsendung »Planet Wissen« in exemplarischer Form deutlich. »14 Millionen Deutsche verlassen Ende 1944 ihre Heimat, werden deportiert oder in die Flucht geschlagen. In unzähligen Trecks drängen Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Gebieten Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien in den Westen. Schlecht ausgerüstet, ohne ausreichende Lebensmittel und den militärischen Kräften schutzlos ausgeliefert, begeben sich die Deutschen auf einen Leidenszug quer durch das zerstörte Land.« »14 Millionen« – mehr als doppelt so viele wie jene berühmten 6 Millionen –, leidend, verhungernd, vergewaltigt, in einem zerbombtem Land. Dass nicht wenige von diesen 14 Millionen für Hitler gestimmt, ihre jüdischen Nachbarn denunziert, sich an deren Deportation bereichert und begeistert für den »totalen Krieg« gebrüllt haben, fällt da kaum ins Gewicht.
Der Diskurs der gegenwärtigen Nationalsozialismus- und Täterforschung unterscheidet sich davon fundamental. So setzten sich Forscher wie Peter Longerich, Frank Bajohr oder Dieter Pohl mit der Frage auseinander, inwiefern die deutsche Bevölkerung informiert war, was den Holocaust angeht, und spotten, auch wenn sie zu den Konservativen gehören, mit Titeln wie »Davon haben wir nichts gewusst« (10) bereits auf dem Buchumschlag über all jene allzu deutschen Verdrängungsversuche, die bis in die neunziger Jahre hinein das öffentliche Bewusstsein bestimmten. Die Forschungsergebnisse zum Holocaust und zum Nationalsozialismus widersprechen demnach dem populären Diskurs. Was dieser loszuwerden trachtet, wühlt jener unter Bemühung wissenschaftlicher Autorität wieder auf.
Was auch immer unter einem dezidiert philosophischen Blickwinkel von Strukturalismus und Poststrukturalismus gehalten werden mag, haben beide Strömungen doch zweifelsfrei verdeutlicht, welche Relevanz der Kontext einer Äußerung hat. Um dies zu verdeutlichen, gibt es ein schönes Beispiel. Ein Fußball ist ein Fußball und sonst nichts, so erscheint es auf den ersten Blick auch all jenen, die Sportarten, deren Reiz aus artifizieller Ressourcenverknappung (nur ein Ball) hervorgeht, nichts abgewinnen können. Doch wird ein Fußball nur zu einem Fußball, wenn er in einem entsprechenden Kontext Verwendung findet, was mindestens eine gewisse Zahl Menschen voraussetzt, die bereit sind, ihn mit Füßen zu treten und in Tore zu befördern. Nicht nur kann ein Fußball ebenso gut für jedes andere Ballspiel genutzt werden, obendrein macht er sich auch als Kopfkissen gar nicht schlecht. Im thailändischen Film »Born to fight« dient er gar als Martial-Arts-Waffe. Der Kontext entscheidet über den Zweck des Fußballs (11). Ähnlich wie einem zweckentfremdeten Fußball ergeht es heute auch der Täter- und Holocaustforschung. Im oben beschriebenen diskursiven Umfeld verlieren sie zwar nicht ihre Intention, ganz im Gegenteil wird diese vielleicht noch gestärkt. Es geht darum zu verstehen, das Ausmaß der Schuld zu umreißen, die Frage der Verantwortung zu klären, Charaktere und Motivationen zu studieren, statt den Grund für den Holocaust länger in einer anonymen Struktur oder einem hoch bürokratisierten Staats- und Parteiapparat zu suchen, um anschließend zu behaupten, die Deutschen seien in den Holocaust irgendwie »hineingeschlittert«. Um es noch einmal zu betonen: Dieser Diskurs ist wichtig, notwendig und zeitigt wertvolle Ergebnisse. Doch verändert der Kontext, in dem er sich abspielt, seine Funktion in einer Weise, die seiner Intention diametral entgegenläuft. Zur omnipräsenten Inszenierung deutschen Leidens und deutschen Verlusts gesellt sich der durch seine diskursive Einbettung entstellte Diskurs der Täter- und Holocaustforschung als »Aufarbeitung« deutscher Schuld, und beide amalgamieren zum Bild einer deutschen Bevölkerung, die für ihre Verbrechen mehr als genug gelitten hat, aus diesem Leid zu lernen wusste und mutig die eigenen Fehler »aufarbeitet«. Wer könnte einem solchen Deutschland nicht verzeihen? Was hier in formvollendeter Weise produziert wird, ist eine Geschichte von Schuld und Sühne, die Dostojewski nicht schöner hätte erzählen können und die Deutschen als reuevolle Raskolnikows erscheinen lässt, deren Leidens- und Schuldzeugnisse zu überhören eine ethisch-moralische Verfehlung wäre.
Dass dieser Diskurs bestens funktioniert, kann beispielsweise an Publikationen wie »Die toten Städte« von A.C. Grayling (12) abgelesen werden. Warum an Deutschen während des Zweiten Weltkriegs verübte »Kriegsverbrechen« (sofern man überhaupt geneigt ist, sich in dieser Hinsicht einer derartigen Terminologie anzuschließen) irgendjemand als interessantes Forschungsfeld erscheinen, ist heute offensichtlich eine Frage, die sich niemand mehr stellt. Dass die deutschen Zeitungen fröhlich ins gleiche Horn blasen, kann nicht verwundern. Die FAZ verkündet in Form der scheinbar distanzierten Paraphrase des Autors, die für das Bombardement auf Dresden verantwortlichen Militärs seien moralisch genauso tief gesunken wie die Deutschen, um anschließend zu verkünden, Graylings Überlegungen würden unser aller Beachtung verdienen; die Zeit ist erleichtert darüber, dass endlich jemand diese so aktuelle wie überfällige Debatte eröffnet habe; die Liste ähnlicher Rezensionen ließe sich beliebig erweitern. Wie bereits gesagt, kann dies kaum verwundern, verwundern kann jedoch durchaus, warum sich Angehörige von Nationen, die unter den Nationalsozialisten stark zu leiden hatten, bemüßigt fühlen, eine derartige Empathie für ihre ehemaligen Peiniger aufzubringen. Dass dies kein Einzelfall ist, beweist die Verleihung des Nobel­preises an die bereits erwähnte Schriftstellerin Herta Müller. »Atemschaukel« ist der Titel ihres jüngsten Romans (2009). Um kurz daran zu erinnern: Ein junger homosexueller Mann wird von den Russen in ein Arbeitslager gebracht, muss dort unter kärglichen Bedingungen Schwerstarbeit verrichten, sieht einige seiner Mitgefangenen sterben und darf erst nach Jahren zurück nach Deutschland, wo er aufgrund seiner langen Abwesenheit große Schwierigkeiten hat, sich wieder in seine Familie zu integrieren. Dass Herta Müller ihren Pro­tagonisten ziemlich feige wählt (ein Homosexueller – der also unmöglich ein Nazi sein kann, was im übrigen Quatsch ist), ist eine Sache, was sie erzählt, eine andere. Die ganze Geschichte ähnelt im Duktus großen Romanen über die deutschen Konzentrationslager, wie sie von Erich Maria Remarque oder Jorge Semprun geschrieben wurden, und erinnert durch die Szenenauswahl stark an autobiographische Zeugnisse wie die Elie Wiesels oder Primo Levis. Das sich dieses Buch stilistisch wie inhaltlich in eine Reihe mit der klassischen Literatur über die deutschen Arbeits- und Vernichtungslager stellt und dadurch an einer Schuldrelativierung neuen Ausmaßes mitarbeitet, hätte vor 20 Jahren vielleicht noch zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt. Heute wird besonders dieser Roman Herta Müllers lobend in der Rede zur Nobelpreisverleihung erwähnt. Von großer Empathie, einem unsentimentalen Auge angesichts der »Deportation« der Deutschen in die russischen Lager ist die Rede, schließlich wird die »Atemschaukel« gar in die Nähe der »Atemwende« von Paul Celan gerückt, was von Herta Müller sicherlich auch intendiert war (13). Gulag gleich Konzentrationslager, Müller gleich Celan, Dresden gleich Guernica: Dank der geschichtlichen Gleichmacherei, die es heute erlaubt, deutsches Leid in den schönsten Farben zu malen, werden diese Gleichungen bald in ganz Europa verbreitet sein und auch die letzten Reste jenes Geschichtsbildes aus dem Weg räumen, in dem die Deutschen Täter waren, die natürlich auch gelitten haben, in diesem Leid jedoch nicht bedauernswerter waren als jemand, der eine Prügelei anfängt und sich anschließend darüber beschwert, wie schmerzhaft es war, zu verlieren und sich den gebrochen Kiefer richten zu lassen.
Was im Moment durchs Land fegt und vom europäischen Ausland eifrig mitgetragen wird, ist ein Rechtsruck sondergleichen, der umso stiller vonstatten geht, als er aus der Mitte der Gesellschaft betrieben wird. Kaum sterben die letzten Zeitzeugen, wird ihnen die Geschichte aus der Hand gerissen. Wer möchte, kann einen Blick in die Zukunft werfen, wenn er das Augenmerk auf Erika Steinbach vom Bund der Vertrieben oder auf Thilo Sarrazins Machwerke und Äußerungen richtet.
Der Skandal liegt mitnichten in Steinbachs Feststellung, Polen habe bereits im März 1939 aufzurüsten begonnen, oder in Sarrazins Schwadronieren über die Vererbbarkeit von Intelligenz, die genetische Minderwertigkeit inzestuöser Migrantenkinder oder vermeintliche »Juden-Gene«. Derartige Ansichten gab es in Deutschland schon immer, und wahrscheinlich wird es immer wieder Menschen geben, die derlei Unfug auch öffentlich kundtun. Der Skandal liegt in der Ernsthaftigkeit, mit der über all das diskutiert, das Für und Wider abgewogen und die Idee der Demokratie gerade dazu bemüht wird, zu betonen, es sei verwerflich, Menschen einfach den Mund zu verbieten anstatt über ihre (revanchistischen bzw. rassistischen) Äußerungen öffentlich zu diskutieren. Auf diese Idee wäre wohl niemand verfallen, wenn Steinbach sich für den Kommunismus ausgesprochen und Sarrazin ein »Bleiberecht für alle« gefordert hätte. So jedoch bemüht sich die CDU, Frau Steinbach trotz des politischen Drucks in der Führungsebene der Fraktion zu halten, und Thilo Sarrazin wird – unter Vernachlässigung seines Auftretens, das an einen verkniffenen Buchhalter erinnert – allgemein als derjenige gehandelt, der es trotz einiger Missgeschicke im sprachlichen Ausdruck meisterhaft verstünde, den Bürgern »ihre Probleme abzulauschen« und ihnen die bislang angeblich versagte Öffentlichkeit zu verschaffen. Sarrazin wird von Taz bis FAZ gar attestiert, bei seinen bizarren Äußerungen handele es sich um »Thesen«, wodurch sein Buch immerhin in eine beachtenswerte Tradition der politischen Philosophie gestellt wird, wie sie in Marx’ »Feuerbach-Thesen« oder Rancières »Zehn Thesen zur Politik« ihren Ausdruck findet. Die offizielle Bezeichnung der Äußerungen Sarrazins als »Thesen« sagt wesentlich mehr über seine Kritiker und Freunde aus als über ihn selbst, legt sie doch deutlich Zeugnis davon ab, wie groß das öffentliche Bedürfnis ist, mit einer schlagkräftigen neuen Weltanschauung beglückt zu werden, die es erlaubt, in intellektuell frisierter Form in die Öffentlichkeit hinauszuposaunen und zum Mittelpunkt der politischen Diskussion zu machen, was bislang nur am Stammtisch gegrunzt werden durfte.
Aufgrund des Protests zieht sich Steinbach aus der Führungsebene der CDU zurück, Sarrazin verlässt die Bundesbank, von der SPD wird ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn angestrengt. Das ist jedoch keinesfalls ein Grund zur Entwarnung, denn beide gelten der deutschen Bevölkerung als Menschen, die sich »mutig« dem verlogenen Mainstream entgegenstellen und »die Dinge beim Namen nennen«: Polnische Aggression, »Juden-Gene« und dummes, »Kopftuchmädchen« produzierendes Ausländerpack.
Wenn der Neudefinition von Geschichte nicht Einhalt geboten wird, damit auch die heute Dreijährigen irgendwann einmal lernen, wer Täter und wer Opfer war, werden Zweiter Weltkrieg und Holocaust bald nur noch den Rang einer Art Naturkatastrophe haben, die einst die Welt heimsuchte, bevor sie so ein sicherer Ort wurde wie heute, wo wir uns wie Tiger und Bär bei Janosch vor nichts mehr zu fürchten brauchen. Die Gründe für den Holocaust aufzuarbeiten und die daraus resultierende Verantwortung festzuschreiben, wird das Geschäft von professionellen Historikern sein und den Großteil der Bevölkerung noch weniger tangieren als heute. Was damit vor allem entfallen wird, ist die Frage nach der historischen Kontinuität. Und das könnte fatale Folgen haben.

Fußnoten:
(1) http://www.spiegel.de/politik/­ausland/0,1518,705194,00.html
(2) Knappertsbusch/Kelle (2010): In: Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände; Frankfurt am Main; S. 151
(3) http://mittwochsfilm.zdf.de/ZDFde/­inhalt/3/0,1872,3881603,00.html?dr=1
(4) http://www.daserste.de/dieflucht/­allround_dyn~uid,59mz5tm9q0bdx7uw~cm.asp
(5) http://neo.zdf.de/ZDFde/­inhalt/17/0,1872,8035057,00.html
(6) Im Einzelnen: 2006: Dresden (ZDF), 12,68 Millionen Zuschauer (1.Teil), 2007: Die Flucht (ARD), 13,55 Millionen Zuschauer (1. Teil), 2008: Die Gustloff (ZDF), 8,45 Millionen Zuschauer (1. Teil), 2009: Die Krupps (ZDF), 7,35 Millionen Zuschauer (1. Teil)
(7) http://www.planet-wissen.de/politik\_geschichte/nachkriegszeit/flucht\_und\_vertreibung/index.jsp
(8) Auch hier ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen sehr aktiv. Beide Bücher sind nach mehrteiligen Fernsehserien entstanden, die vom WDR und der ARD produziert und ausgestrahlt wurden. Doch auch jenseits des Fernsehens wird die Thematik vorangetrieben. Der Markt an vergleichbaren Büchern ist derzeit nicht mehr zu überschauen.
(9) Müller, Herta (2009): Atemschaukel; München, S.44
(10) Longerich, Peter (2007): Davon haben wir nichts gewusst; München
(11) Laclau, Ernesto/Zac Lilian (1994): The making of political identities; London
(12) Grayling, A.C. (2009): Die toten Städte; München
(13) http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/­laureates/2009/presentation-speech.html