Der Generalstreik und der Hungerstreik von Migranten in Griechenland 

Die Wut wird größer

Der Hungerstreik der Migranten in Griechenland hat große internationale Aufmerksamkeit geweckt. Aber nicht nur Migranten protestieren gegen die Politik der sozialistischen Regierung. Vergangene Woche fand der zehnte Generalstreik innerhalb eines Jahres statt.

In der Patission-Straße, die am griechischen Polytechnikum vorbeiführt, hat sich eine unübersehbare Menge von Menschen versammelt. Sie stehen aufgeregt und erwartungsvoll mit bunten Plakaten herum, auf denen Parolen gegen die Regierung zu lesen sind. Eine Gruppe von Demonstranten trägt einen schwarzen Sarg und ein riesiges Plakat mit dem Satz: »Wir sterben«. Sie möchten den Sarg vor dem Parlament auf dem Syntagma-Platz aufstellen, als Symbol des Untergangs Griechenlands.
Es ist der Tag des zehnten Generalstreiks innerhalb eines Jahres in Griechenland. Gewerkschaften sprechen von mehr als 60 000 Teilnehmern, es ist eine der größten Demonstrationen der letzten 20 Jahre. Knapp zehn Monate, nachdem Griechenland von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) 110 Milliarden Euro zugesagt wurden, wird die Wut vieler Griechen über die Sparpolitik und die Arbeitsmarktreformen der sozialistischen Regierung von Giorgos Papand­reou immer größer.
Die Mehrwertsteuer wurde mehrfach angehoben, von 19 auf mittlerweile 23 Prozent, die Benzinpreise sind um über 50 Prozent gestiegen. Immer mehr Haushalte und Unternehmen können die monatlichen Ausgaben nicht mehr bestreiten. Es kommt immer öfter zu Insolvenzen oder Pfändungen von Immobilien. Mittlerweile hat sich eine starke Bewegung von Bürgern gebildet, die sich weigern, die erhöhten Mautgebühren und Fahrscheintarife zu zahlen.
Griechenland hat bisher 38 Milliarden Euro erhalten. Im März soll die vierte Rate über 15 Milliarden Euro ausgezahlt werden. Dafür sind jedoch weitere Einschnitte oder gar Entlassungen im öffentlichen Bereich erforderlich. 50 Milliarden Euro müsse die griechische Regierung bis 2015 aus der Privatisierung staatlicher Unternehmen oder Immobilien einnehmen, forderten vor einigen Tagen der IWF, die EU und die Europäische Zentralbank (EZB). Trotz aller Anstrengungen ist die Staatsverschuldung im vergangenen Jahr um 42 Milliarden Euro gestiegen. Sie wird bald bei 150 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes liegen. Die Gefahr einer griechischen Staatspleite ist noch nicht gebannt. Der europäische Sachverständigenrat EEAG bringt sogar die Wiedereinführung der Drachme ins Gespräch.

Eleni steht in der Patission-Straße zusammen mit anderen Demonstranten. Es ist das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, dass die 47jährige Privatangestellte an einer Demonstration teilnimmt. Sie war begeisterte Anhängerin der Panhellenischen Sozialistischen Partei (Pasok), deren Umfragewerte mittlerweile auf 23 Prozent gesunken sind. Bei den letzten Wahlen hat Eleni sich jedoch entschlossen, nicht teilzunehmen. »Am Anfang, als wir dem IWF beigetreten sind, habe ich nicht wahrgenommen, wie stark dies unser Leben beeinflussen wird. Jetzt spüre ich die Sparpolitik jeden Tag.« Eleni steht vor einem neoklassizistischen Gebäude an der Ecke Ipirou-Straße, nur wenige Meter weit weg vom Polytechnikum.
Das Gebäude hat eine Privatperson bereitgestellt, um 237 papierlose Migranten unterzubringen. Diese hatten zuvor auf Druck der Regierung und der Medien die leerstehenden Räume der Juristischen Fakultät verlassen müssen, wo sie am 25. Januar mit der Forderung nach einer kollektiven Legalisierung ihren Hungerstreik begonnen hatten (Jungle World 6/11). In einem Gewerkschaftshaus in Thessaloniki befinden sich weitere 50 Migranten im Hungerstreik. Ihr Kampf eskalierte in den vergangenen Tagen, denn mehrere der Hungerstreikenden haben sich entschlossen, kein Wasser mehr zu sich zu nehmen. Mehr als 40 von ihnen wurden in Krankenhäuser in Athen und Thessaloniki eingeliefert mit Nierenversagen und Herzproblemen.
Ahmed, ein junger Marokkaner mit einem blassen Gesicht und einem durchdringenden Blick, hört aufmerksam auf die Parolen der griechischen Demonstranten auf der Straße. »Ich warte seit sechs Jahren darauf, Papiere zu bekommen. Jetzt habe ich meine Arbeit verlassen, um an diesem Hungerstreik teilzunehmen. Ich möchte in Griechenland bleiben und werde für einen legalen Status kämpfen. Ich bin bereit, dafür zu sterben«, sagt er.

Die meisten der Hungersteikenden leben seit mehr als sechs Jahren in Griechenland und verfügen über einen unsicheren oder gar keinen Aufenthaltsstatus. Die vorerst letzte Legalisierung fand im Jahre 2005 statt. »Wie auch anlässlich der Ankunft von über 5 000 Migranten auf Lampedusa zeigt der Hungerstreik in Griechenland das Scheitern der europäischen Migrationspolitik«, sagt Bernd Kasparek vom Netzwerk »Welcome to Europe«, das die Situation der Migranten und Flüchtlingen in Griechenland verfolgt. »Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl von 2008 verbietet eine kollektive Legalisierung«, betont er.
Der Hungerstreik hat großes internationales Interesse geweckt. Jeden Tag wächst die Solidarität im Inland wie im Ausland. Neben bekannten Intellektuellen wie Noam Chomsky oder dem französischen Philosophen Étienne Balibar, vielen Künstlern, Sportlern und Gewerkschaftern haben bereits mehr als 35 EU-Abgeordnete ihre Solidarität mit den Streikenden erklärt. Sogar der Stadtrat Thessalonikis hat sich an ihre Seite gestellt. Im August hatte Griechenland sechs iranischen Migranten Asyl gewährt, die wochenlang nichts gegessen hatten. Auf eine ähnliche Lösung hoffen einige Afghanen, die seit Ende Dezember im Hungerstreik sind.
Im Jahr 2008, als auf Kreta 15 Migranten einen Hungerstreik begannen, um legale Papiere zu bekommen, hatte Giorgos Papandreou, der damals in der Opposition war, die Streikenden unterstützt. Doch heute schließt seine Regierung eine Legalisierung aus. Sie hat ihnen eine Verlängerung ihres Aufenthalts angeboten und verkündete, dass sie generell die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erleichtern will.
In dem von der Wirtschaftskrise schwer erschütterten Land werden die Migranten immer öfter für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht, die mittlerweile auf 13,9 Prozent angestiegen ist. Mit der Ablehnung einer menschenwürdigen Migrationspolitik verstärkt Griechenland die humanitäre Krise der schätzungsweise über 500 000 papierlosen Migranten. Der Politologe Giorgos Maniatis, Mitglied der Solidaritätsgruppe und des Netzwerks für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten, betont: »Die Wirtschaftskrise zwingt viele Migranten, die schon seit 15, 20 Jahren hier sind, in die Illegalität.«
Ektif ist der Cousin von Ahmed. Er arbeitete seit 2003 auf Kreta als Gärtner und hatte legale Jobs in Deutschland, Österreich und in der Schweiz gehabt, bevor er nach Griechenland kam. Der 45jährige trägt eine dunkle Mütze und versucht, seine Verzweiflung hinter seinem netten Lächeln zu verstecken: »Wenn du keine Papiere hast, dann bist du gar nichts in einem Land der EU. Du hast Angst vor allem. Vor der Polizei, vor unbezahlter Arbeit, vor einem Leben in der Illegalität.«